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# taz.de -- Der Fall Kathleen Stock: Woke-sein als Erweckungsbewegung
> Eine Debatte über das biologische und soziale Geschlecht wäre spannend –
> nur geht es bei „Wokeness“ um einen fundamentalistischen
> Wahrheitsanspruch.
Bild: Im Visier der Wokeness: Monty Python
In England geraten Satiriker gerade ins Visier der Wokeness-Bewegung. Die
Behauptung steht im Raum, dass sich Monty Python über Behinderte und
Menschen mit differenten sexuellen Orientierungen lustig gemacht hat.
Entschuldigungen werden gefordert. Doch die Satire auf die Ausdehnung der
Olympiade auf körperlich eingeschränkte Menschen zielte nicht auf diese,
sondern auf die mediale Eventisierung des Sports. Und im Sketch [1][„The
Mouse Problem“] richtete sich die satirische De(kon)struktion nicht gegen
vermeintlich von der Norm abweichende Menschen, sondern gegen
betulich-pseudotolerante Stereotype der Medienberichterstattung und deren
latente Aggressivität.
Im Format eines Magazinbeitrags sprechen ein besorgter TV-Moderator und ein
Experte über junge Männer, die sich heimlich in Maus-Kostümen treffen und
zusammen Käse essen. Warum wollen „certain men“ Mäuse sein? Warum fühlen
sie sich „sexually attracted to mice“? Es geht um das Pathologisieren und
Kriminalisieren der „disgusting little perverts“ und um den autoritären
Hass in der Bevölkerung auf junge Menschen, die Zugang zu ihren eigenen
Bedürfnissen suchen.
Aber nicht nur Satire ist zurzeit im Fadenkreuz, sondern auch die
Philosophie. [2][Kathleen Stock hat entnervt ihre Philosophieprofessur an
der Universität Sussex niedergelegt] und wechselt nun an die University of
Austin in Texas. Die lesbische Feministin war auf ihrem Campus und in den
sozialen Medien Zielscheibe einer Kampagne geworden. Denn sie vertritt die
These, dass das biologische Geschlecht der Menschen – ein biologisches
Geschlecht ist. Diese These lässt sich vertreten. Es ist keineswegs
zwingend oder wissenschaftlicher Konsens, dass es nur ein kulturelles
Geschlecht gibt. Diese These besagt: Der biologische Körper ist in höchstem
Maße von kulturellen Parametern und sozialen Herrschaftsverhältnissen
überformt, und dem liegt ein biologischer Geschlechtsunterschied zugrunde.
Es sind die [3][„bodies that matter“], also die Körper, auf die es ankommt
(Judith Butler). Die werden nicht vom Diskurs erschaffen. Sie werden von
ihm geformt – so, wie in der traditionellen Philosophie die materia durch
die forma. Eine naturalistische Bestimmung des biologischen Geschlechts
wäre demnach falsch, weil unvollständig. Aber die Annahme, dass Menschen
ein biologisches Geschlecht haben, welches sich stets in soziokulturellen
Zuschreibungen und Überformungen manifestiert, ist nicht per se
naturalistisch.
Kathleen Stocks Kritiker:innen argumentieren allerdings nicht im Rahmen
der philosophischen Debatte über Naturalismus und Kulturalismus. Ihr Rahmen
sind die Affekte. Sie geben sich verletzt, weil sie sich in ihrer
nicht-binären Identität gekränkt fühlen, wenn sich eine Philosophin
herausnimmt, eine These aufzustellen, welche das philosophische Fundament
des eigenen Lebensentwurfs in Frage stellt.
Die Verletztheit der Kritiker:innen erinnert an die von religiösen
Menschen, die es nicht ertragen können, wenn andere die
theologisch-philosophischen Grundlagen ihres Lebensentwurfs in Frage
stellen – etwa mit der These, dass von der Existenz eines Gottes nicht die
Rede sein kann. Und dass folglich Menschen, die als Propheten, also als
Botschafter:innen jenes Gottes auftreten, diesen Status objektiv nicht
für sich beanspruchen können.
Atheistische Religionskritik kann durchaus bewirken, dass sich Menschen,
deren Denken und Empfinden religiös geprägt ist, verletzt fühlen.
Gleichwohl kann von den Gekränkten erwartet werden, dass sie sich mit den
Argumenten der Religionskritik auseinandersetzen, anstatt
Religionskritiker:innen den Mund zu verbieten oder Platzverweise
auszusprechen.
Nehmen wir an, eine Vertreterin des [4][Kreationismus], die sich mit
Argumenten der Evolutionstheorie auseinandersetzen muss, fühlt sich
verletzt und in ihrer Weltsicht herausgefordert. Niemand sollte ihr das
Recht streitig machen, anderen ihre Affekte mitzuteilen. Aber sollten
Wissenschaftler:innen Redeverbot erhalten, weil Menschen, die sich mit
den Lehren des Kreationismus identifizieren, sich durch
evolutionstheoretische Beweisführungen verletzt fühlen könnten?
Die Militanz der Woke Culture erinnert an die Wiederkehr des religiösen
Fundamentalismus. Doch womöglich steckt ja hinter dem Drang, die
Naturgegebenheit des soziokulturell überformten Körpers
wissenschaftlich-medizinisch zu verändern, ein post-religiöses Paradox;
Gesellschaftliche Verhältnisse erweisen sich als veränderungsresistent,
sozusagen als eine zweite Natur. Im Gegenzug wird die „Natur, die wir
selbst sind“, also der Leib, zum Stoff, der in viele Richtungen optimiert
werden kann. Der Eigensinn des Leibes wird verschiedensten
Identitätswünschen unterworfen.
## Wokeness als Ersatz für den Ersatz
Nun spielt das Geschlecht wirtschaftlich eine immer geringere Rolle; dem
Kapital ist es im Prinzip gleichgültig, wem es Arbeitskraft abkauft.
Umgekehrt wird die kulturell-symbolische Bedeutung des Geschlechts
verabsolutiert: Der Wunsch nach Selbstbestimmung wird zum Wunsch nach
radikaler Bestimmung über den eigenen Körper. Könnte es sich um eine
Verschiebung handeln? Wenn Emanzipation als soziale Selbstbestimmung in
Freiheit und Nichtidentität nicht realisierbar scheint, sucht die
Befreiungsenergie ein Ziel, das im Hier und Jetzt erreichbar scheint.
Wenn es heißt, die Schwäche der Linken liege vor allem daran, dass sie sich
in kulturellen Diskussionen und in Identitätsdiskussionen verzettelt,
anstatt sich um die soziale Frage zu kümmern, dann ist das nicht die ganze
Wahrheit. Zur Wahrheit gehört auch, dass wir es bei Wokeness mit
Religionsersatz zu tun haben. Das wird nicht zuletzt am Namen der Bewegung
deutlich: Wokeness und Woke Culture – eine Erweckungsbewegung?
Und wenn es stimmt, dass Religion ein Ersatz für den Kampf um ein besseres
Leben im Diesseits sein kann, dann ist die Woke Culture als gottlose
Erweckungsbewegung womöglich ein Ersatz für den Ersatz.
24 Nov 2021
## LINKS
[1] https://www.youtube.com/watch?v=RZx9YBhZrZA
[2] /Professorin-tritt-nach-trans-Eklat-ab/!5809038
[3] https://www.nzz.ch/feuilleton/judith-butler-ohne-sie-wuerden-wir-nicht-uebe…
[4] /College-Football-in-den-USA/!5723957
## AUTOREN
Gerhard Schweppenhäuser
## TAGS
Identitätspolitik
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Konservative
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Bildungssystem
Identitätspolitik
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Schwerpunkt Rassismus
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