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# taz.de -- Politikwissenschaftler über Konservatismus: „Im Kern zutiefst re…
> Gemäßigte Konservative würden oft zwischen Liberalen und
> Rechtsautoritären zerrieben, sagt Wissenschaftler Thomas Biebricher. Für
> die Demokratie sei das eine schlechte Nachricht.
Bild: Das Bewahrenwollen – eine Schlacht, die immer schon verloren ist?
wochentaz: Herr Biebricher, braucht der Konservatismus Feinde?
Thomas Biebricher: Ein Konservatismus ohne Feinde ist schwer vorstellbar.
Der Grundimpuls des Konservativen ist das Bewahrenwollen. Aber eigentlich
wissen Konservative nie so ganz genau, was zu bewahren ist – bis Leute sie
herausfordern und Dinge verändern wollen. Deswegen sind diese
Gegnerschaften, man kann auch Feindbilder sagen, so prägend.
Konservativismus ist vor allem reaktiv?
Mittlerweile ist er angereichert durch eine technophile Zuversicht, die
Hoffnung auf kapitalismusgetriebene Innovation. Aber im Kern ist er
zutiefst reaktiv. Er reagiert auf Herausforderungen und wird auch erst in
dem Moment auf den Plan gerufen. Darin liegt ein Problem: Konservative
werden oft zu spät tätig. Sie versuchen dann nicht mehr, das Bestehende zu
verteidigen, sondern das, was bereits am Vergehen ist.
Zum Beispiel?
[1][Markus Söders Kruzifixerlass]. 2018 war die Präsenz von Religion im
öffentlichen Raum nicht mehr selbstverständlich. Söder versuchte, diese
Präsenz auf eine gezwungene, künstliche Weise aufrechtzuerhalten. Aber
eigentlich war es schon zu spät. Das ist die Tragik des Konservativen.
Was ist der ideelle Kern des Konservativen – das christliche Menschenbild
und gesunder Menschenverstand?
Besonders für die deutschen Christdemokraten ist prägend, dass man immer im
Namen des gesunden Menschenverstandes spricht. Man inszeniert sich als
unideologisch, pragmatisch, normal und grenzt sich so von den ideologisch
aufgeladenen Rändern ab. Dabei ist das Ganze natürlich hoch ideologisch,
weil es nicht um das Normale, sondern um das Normalisierte geht.
Steigt der Bedarf an Feindbildern, wenn das eigene Profil schwächelt?
Ja, wenn man sich pragmatisch gibt, braucht man potente Feindbilder. Anfang
der 90er Jahre war eine Zäsur. Mit dem Kommunismus ging das wirkmächtigste
aller Feindbilder unter, die ewig einende Klammer für Konservative in aller
Herren Länder. Leute wie Silvio Berlusconi redeten zwar noch bis weit in
die 2000er Jahre von der kommunistischen Gefahr. Aber das wurde immer
unglaubwürdiger.
Gibt es Ersatz für den Kommunismus?
Für Konservative ist die Identitätspolitik ein Geschenk des Himmels.
[2][Dieser „Woke-Warrior“ ist ein unglaublich potentes Feindbild]. Die
Konservativen sehen in Identitätspolitik eine Art 1968 reloaded. Wie damals
lassen sich junge Leute von radikalen Intellektuellen verführen, die
Vorstellungen verbreiten, die weit vom gesunden Menschenverstand entfernt
sind. Wer etwa kann auf die Vorstellung kommen, dass es mehr als zwei
Geschlechter gibt? Zudem kann man die „Woke-Warrior“ des Totalitarismus
verdächtigen – ein wirklich perfektes Feindbild.
Überall?
Auf jeden Fall in Frankreich und Großbritannien. Es ist eine billige Art,
Politik zu machen – sie kostet wenig Geld. Und man holt sich weniger
blutige Nasen, als wenn man sich an einer Rentenreform oder Sparpolitik
versucht. Und es ist als politische Kommunikation potent, weil es
vermeintlich unkompliziert ist, leicht verfängt und ein enormes
Empörungspotenzial hat. Allerdings ist dieser Feind für gemäßigte
Konservative auch ein vergiftetes Geschenk. Denn bei diesem Diskurs
verschwimmt der Unterschied zum rechten Rand. Das ist eine Falle, in die
Konservative – etwa in Frankreich und Großbritannien – oft getappt sind.
Wie groß ist die Gefahr für die Union, dabei in Richtung AfD zu rutschen?
Oder gibt es eine aufgeklärte Antiwokeness?
Natürlich muss man über diese Themen diskutieren. Aber gelingt es der CDU,
diese Debatten auf eine Art und Weise zu führen, die sich von der Rhetorik,
dem Stil und der Form der AfD abgrenzt? Das sehe ich nicht. Bei diesen
Fragen geht es immer ums Ganze, das Kompromisspotenzial ist überschaubar.
Deshalb sind diese Debatten ein sehr abschüssiges Gelände. Viele in der CDU
sehen das auch so. Aber nicht alle. Die Denkfabrik 21 des Historikers
Andreas Rödder, der immerhin die CDU-Grundwertekommission geleitet hat,
setzt solche Akzente. Markus Söder wird diese Karte im bayerischen
Wahlkampf spielen. Im Osten gibt es Versuche, dieses Feld zu besetzen, auch
in der Hamburger CDU.
Sie meinen den Ex-Landesvorsitzenden Christoph Ploß?
Ja, er springt auf diesen Zug auf, weil es ein einfacher Diskurs ist, der
mobilisiert. Das ist auch ein wichtiger Punkt: Kulturkämpfe sind für
Konservative auch interessant, weil sie damit an Milieus anschlussfähig
werden, die sie wegen der Finanz- und der Wirtschaftspolitik nicht wählen
würden, aber wegen kultureller Fragen. Das kennt man aus den USA, in
Großbritannien war es für den Erfolg von Boris Johnson sehr wichtig.
Was können deutsche Konservative aus den Fehlern lernen, die Konservative
in Italien, Großbritannien und Frankreich gemacht haben?
Genau das – die kulturellen Themen niedriger hängen. Denn das ist für die
rechte Mitte mittelfristig kein Gewinnerthema, es nutzt den
Rechtsautoritären. Und sie sollte AfD-artige Akteure nicht salonfähig
machen. Das ist strategisch die beste Linie.
Sie befassen sich in ihrem Buch „Mitte/Rechts“ vor allem mit Italien,
Frankreich und Großbritannien – das sind unterschiedliche Länder und
politische Systeme. Was sind die verbindenden Elemente?
Es gibt bei allen Unterschieden drei Ähnlichkeiten. Zum einen diesen Trend
zur Kulturalisierung gesellschaftlicher Konflikte. Zweitens eine extreme
Personalisierung an der Spitze, die mit einer stärkeren Basisorientierung
verbunden ist. Und drittens: Die EU wird in unterschiedlichen Graden als
Gegner verstanden. Das war offenkundig beim Brexit der Fall. Aber auch beim
Nein zum Verfassungsreferendum in Frankreich. Michel Barnier, der für die
Republikaner Präsidentschaftskandidat werden wollte, hat den Vorrang des
EU-Rechts vor nationalem Recht infrage gestellt. Das wäre das Ende der EU,
wie wir sie kennen. Auch in Italien haben Konservative das Feindbild EU
gepflegt. In allen drei Ländern ist die konservative Mitte verwaist.
Weil die Konservativen in einen Zangengriff zwischen Rechtspopulisten und
Liberalen geraten sind?
In Frankreich ist nach 2017 genau das passiert. Die Republikaner wurden
zwischen Macron und Le Pen aufgerieben. Aber das lässt sich nicht
verallgemeinern. In Italien sieht man dies nicht, schon weil es dort keine
bedeutende liberale Partei gab. In Großbritannien gab es nach 2010 einen
kurzen Moment, in dem die Tories in diese Klemme zu kommen schienen. Die
Liberaldemokraten waren damals sehr stark, auf der anderen Seite formierte
sich Ukip. Doch diese Zangenbewegung war instabil, weil die
Liberaldemokraten in der Regierung mit Labour keine gute Figur machten.
Danach zerstörten die Tories Ukip, indem sie den Brexit zu ihrer Forderung
machen.
Johnson, Sarkozy und Berlusconi sind anders als klassische konservative
Politiker: flatterhaft, unsolide, hochstaplerisch. Ist ihr Erfolg Ausdruck
einer Krise des Konservativismus – oder ist das Zufall?
Nein, das ist kein Zufall, sondern Symptom einer Veränderung. Dass solche
Leute nach ganz oben kommen, hat mit der stärkeren Basisorientierung der
konservativen Parteien zu tun. Bei den Tories hat vor 25 Jahren die
Fraktion den Kandidaten gewählt, jetzt entscheidet nach einer Vorauswahl
der Fraktion die Basis. Das begünstigt hemdsärmelige Macher wie Boris
Johnson, die rhetorisch zuspitzen. Auch dass Kommunikation direkt über
Social Media läuft und die Parteiapparate eine geringe Rolle spielen,
bevorteilt einen neuen Typus. Ein schlagendes Beispiel dafür ist Matteo
Salvini oder auch Sebastian Kurz, der die ÖVP in eine Liste Kurz
verwandelte.
Wolfgang Schäuble hat 2019 Markus Söder als Kanzlerkandidaten verhindert,
weil er mit Söder eine ähnliche Gefahr für die Union sah. Ist das
realistisch?
Die Basis der Union war eine Weile fasziniert von Sebastian Kurz. Kurz hat
gezeigt, wie schnell Dinge ins Rutschen kommen können. Aber ich halte
solche Szenarien für die Union für nicht sehr wahrscheinlich.
Warum?
Die Anreize sind anders. Die Union wird ja eher mit der SPD oder den Grünen
regieren und muss gesprächsfähig bleiben. Das bremst den Weg nach rechts.
In Italien wird mit der Regierung prämiert, wer die breiteste Koalition
zusammenbringt – das schließt den rechten Rand ein. In Deutschland gibt es
hingegen einen Fetisch der Mitte, den man in anderen Ländern so nicht
findet.
Brauchen wir eigentlich eine gemäßigt konservative Partei?
Ich denke ja. Man kann in den USA sehen, was passiert, wenn die
konservative Mitte verschwindet. Es entsteht eine Art Dauerpolitisierung
aller Lebensbereiche mit extremen Polarisierungen. Es macht einen großen
Unterschied, ob man bei Themen wie Migration im öffentlichen Diskurs
versachlicht oder anheizt. Und Konservative können Wandel besser akzeptabel
machen als Grüne oder Linke. Das ist der unique selling point des
gemäßigten Konservativismus. Der wird gebraucht.
19 Apr 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Stefan Reinecke
Sabine am Orde
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Konservative
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Großbritannien
Kolumne Subtext
Kevin Kühnert
Identitätspolitik
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