| # taz.de -- Fehlender Konservatismus in der CDU: Ein Sommermärchen | |
| > Konservative gibt es in allen Parteien. Aber es gibt keine konservative | |
| > Partei. Dabei ist klar, was die angehen müsste: die 25-Stunden-Woche zum | |
| > Beispiel. | |
| Bild: Nur Fähnchen reichen nicht für radikalen Konservatismus | |
| „Guten Tag. Ich möchte in die CDU eintreten.“ Der überarbeitete | |
| Kreisvorsitzende von Paderborn schaute auf. An der Tür stand eine sehr | |
| junge Frau. „Warum denn in unsere Partei?“, fragte er etwas | |
| geistesabwesend. „Weil ich glaube, dass das Land einen wirklichen | |
| Konservatismus braucht. Einen modernen.“ Der Kreisvorsitzende legte die | |
| Post beiseite und blickte auf. „Und was bitte ist für Sie ‚konservativ‘?… | |
| Die junge Frau trat näher: „Na ja, Herkunft, Heimat, Nation, Staat, | |
| Familie, kurz: das europäische Erbe mit seinem christlichen Wertefundament, | |
| woran unser Abgeordneter Carsten Linnemann grade erinnert hat.“ | |
| Klingt ein wenig nach Abiaufsatz, dachte der Kreisvorsitzende, aber ihre | |
| Stimme hat etwas Energisches. „Und was wäre denn dieses Erbe für Sie?“ | |
| Sie nickte kurz zu der Fahne in der Ecke des Büros. „Na, Nation zum | |
| Beispiel. Dass wir vernetzt sind als Produktionsgemeinschaft, und deshalb | |
| füreinander einstehen. Deshalb hat Bismarck ja wohl die Sozialversicherung | |
| erfunden. Und der Bildungsbürger Walther Rathenau wollte deshalb | |
| Umverteilung, und Abschaffung des Erbrechts, weil alle berechtigt sind am | |
| nationalen Wohlstand. Konservative können keine eigentumslose Unterschicht | |
| dulden. Stattdessen treten sie dafür ein, anspruchsvolle Arbeit | |
| umzuverteilen, damit die arbeitende Mitte breiter wird. Zum Beispiel mit | |
| der 25-Stunden-Woche. Dann könnte es auch wieder so etwas wie ein | |
| Familienleben geben.“ | |
| Die junge Frau hat Talent, fand der Kreisvorsitzende, aber ob sie | |
| durchhalten kann? „Und“, fragte er, „glauben Sie, dass wir mit Umverteilu… | |
| und weniger Arbeit unseren materiellen Wohlstand halten können?“ | |
| ## Radikal konservativ | |
| Gleich kam die schnelle Rückhand: „In der christlichen Tradition kommt das | |
| Wort materieller Wohlstand eigentlich nicht vor, wohl aber der Auftrag, die | |
| Erde zu hüten und zu bewahren. Darüber müssen wir heute wohl nicht reden, | |
| draußen sind 37 Grad. Und zweitens geht es im Christentum um den Wert und | |
| die Würde jedes Einzelnen. Das hat uns Freiheit gebracht, aber der radikale | |
| Individualismus eben auch ein Wirtschaftssystem, dessen Dynamik zu heiß | |
| geworden ist und haltende Institutionen wie die Familie geschwächt hat …“ | |
| Der Kreisvorsitzende unterbrach sie: „Darf ich Sie darauf hinweisen, wir | |
| sind hier in einem Büro einer Oppositionspartei und nicht in einem | |
| historischen Seminar …“ | |
| „Eben“, sie blickte ihn freundlich an, „eben deshalb bin ich ja hier, weil | |
| die Aufgabe einer konservativen Opposition nicht so einfach ist, angesichts | |
| der Freidemokratisierung der SPD und der Kaperung konservativer Wörter | |
| durch die Antidemokraten. Da kriegt man nur Tritt, wenn man radikal | |
| konservativ ist.“ | |
| „Und was wäre radikal konservativ?“ | |
| Sie blickte kurz auf die Fotos an der Wand. „Also nehmen wir mal die | |
| Familie, da bin ich nämlich manchmal auch etwas ratlos. Alles arbeitet ja | |
| in dieser Gesellschaft gegen die Familie. Und das schmerzt, weil wir alle | |
| Bullerbü noch im Kopf haben. Heute sollen Mutter und Vater voll arbeiten, | |
| und das bis 72. Da bleibt nicht viel Zeit für die Kinder. Umso mehr | |
| brauchen wir eine Schule, die das leistet, was Eltern nicht mehr leisten | |
| können, selbst mit der 25-Stunden-Woche. Nicht nur die sprichwörtlichen | |
| Neuköllner Kinder sind ja sprachlich und kognitiv unterernährt, von ganz | |
| normalen bürgerlichen Tugenden will ich gar nicht reden.“ | |
| „Da haben Sie einen Punkt“, versuchte der Kreisvorsitzende in die Offensive | |
| zu kommen. „Deshalb ist ja unser neuer Generalsekretär gerade nicht nur für | |
| Schnellgerichte gegen Schwimmbad-Rowdys aufgestanden, sondern auch für ein | |
| allgemeines Dienstpflichtjahr …“ | |
| „Aber das alles ist doch viel zu klein gedacht“, fiel sie ihm ins Wort. | |
| „Dieser Harte-Hand-Populismus ist natürlich verständlich: Der Mann muss | |
| sich ja bekannt machen, aber jeder weiß doch, dass das Rhetorik ist. Und | |
| die Dienstpflicht klingt mir viel zu sehr nach Lückenfüllerei für | |
| Staatsversagen. Auf jeden Fall nicht nach Zukunft. Und dann dieser | |
| kindliche Kampf gegen Wokeness und die ARD in der CDU, das können Sie | |
| Springer überlassen. Glauben Sie ernsthaft, damit kann man die AfD | |
| überbieten? Die Grünen zum Hauptfeind zu erklären, bringt auch nichts, wenn | |
| die Wirtschaft auf Klimaschutz setzt. Dieser Kleinkram verdeckt doch nur, | |
| dass auch die CDU sich nicht an die wirklich großen Aufgaben traut.“ | |
| ## Alle wollen gute Schulen | |
| „Welche großen Aufgaben meinen Sie denn?“, seufzte der Kreisvorsitzende, | |
| „inzwischen ist doch jeder für Klimaschutz und mehr Bildung.“ | |
| Wieder kam die schnelle Rückhand: „Eben, aber zwei Drittel der Deutschen | |
| geht das nicht schnell genug. Und genau da liegt die wirklich große | |
| Aufgabe: Das zu sagen, woran sich alle anderen nicht trauen. Nämlich, dass | |
| es weniger wird. Dass wir von den Beständen leben müssen. Und sie bewahren. | |
| Konservative verstehen das. Und dass das nur geht, wenn es gerecht zugeht, | |
| auch weltweit. Das wäre mal der erste Schritt, Mut vor der Wirklichkeit zu | |
| beweisen. | |
| Und danke auch für das Stichwort Bildung: Die kriegen wir nur hin mit einer | |
| deutlich informierteren und klügeren Bürgerschaft. Und da würde ich mal | |
| anfangen. Alle wollen gute Schulen. Sagen sie. Aber alle arbeiten an der | |
| Abschaffung der demokratischen öffentlichen allgemeinen Schule. Durch | |
| Privatschulen, unzureichende Planung und knappe Budgets – oder einfach | |
| durch Fatalismus: das Drittel, das halbanalphabetisiert aus der Schule | |
| kommt, füttern wir durch so billig wie möglich, die Fachkräfte importieren | |
| wir. Dagegen setze ich als Konservative die Wiedergeburt der | |
| demokratischen Gesamtschule als Schule der Nation.“ | |
| „Sie wissen, von wem das stammt?“ | |
| Ja natürlich. Willy Brandt. Aber sind Sie der Meinung, es gibt nur in Ihrer | |
| Partei Konservative? Das Problem ist doch: Es gibt keine konservative | |
| Partei.“ | |
| 27 Jul 2023 | |
| ## AUTOREN | |
| Mathias Greffrath | |
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