# taz.de -- Identitätspolitik an Unis in UK: Weiße Arbeiterkinder unerwünscht | |
> Was ist in Großbritannien an den Universitäten los? Zwischen Wokeness und | |
> der Sicherung alter Pfründen. Notizen aus Academia. | |
Bild: Prinz William und Herzogin Kate lernten sich an der Elite-Uni St. Andrews… | |
Ein unerquickliches, kompliziertes Thema, diese wokeness. Ben Hutchinson, | |
Professor für Europäische Literatur an der University of Kent, befragt zu | |
einem Artikel in der Times, der unlängst in Großbritannien für Diskussionen | |
sorgte, kommentiert in Abwandlung eines bekannten Zitats von Karl Kraus | |
lapidar: „Zur Zensur fällt mir nichts ein.“ Andere britische senior | |
academics schweigen lieber – die Sache löst, wie auch anders, Misstrauen, | |
Frustration oder Resignation aus. Und Angst, durch eine anstößige | |
Wortmeldung die Karriere zu riskieren. | |
Doch worum geht es? In einer großangelegten Aktion hatten Journalisten des | |
rechten Murdoch-Blattes Times britische Universitäten mit einer Welle von | |
„Freedom of Information“-Anfragen überschüttet. Man wollte herausfinden, | |
inwieweit die an US-Universitäten erbittert ausgefochtenen wokeness wars im | |
Vereinigten Königreich angekommen sind. | |
Wie zu erwarten, förderte die Kampagne, die darauf gerichtet war, eine | |
„linke Diskursdiktatur“ zu entlarven, das gewünschte Ergebnis zutage: Mehr | |
als zehn Universitäten, darunter drei der Topliga, hatten Bücher aus den | |
Leselisten verbannt sowie mehr als tausend Werke mit trigger warnings | |
versehen. | |
## Zensierte Literaturtitel | |
Unter den vorsorglich zensierten Literaturtiteln befanden sich etwa Colson | |
Whiteheads Erfolgsroman „The Underground Railroad“ (wegen der Darstellung | |
der Grausamkeiten gegen Sklaven) oder Strindbergs Drama „Miss Julie“ | |
(aufgrund der Suizidthematik). Die Liste von Werken, deren Lektüre die | |
Studierenden vermeiden sollten, da sie „emotional herausfordernde“ Stellen | |
enthalten, reichte von mittelalterlichen Pilgergeschichten des Geoffrey | |
Chaucer bis zu Thomas Meineckes Theorieroman „Tomboy“. | |
An US-Verhältnisse reicht dergleichen kaum heran, lieferte der prospektiven | |
konservativen Premierministerin Liz Truss aber dennoch die Steilvorlage. | |
„Bildung gelingt nur in einer Atmosphäre von gegenseitigem Respekt und | |
Redefreiheit,“ so Truss, „linker Gruppenzwang schadet dem nur. Unser Alltag | |
wird durch Warnhinweise doch nicht erleichtert, wir können Studierende | |
darum auch nicht vor kompliziertem Gedankengut schützen und sollten das | |
unterlassen.“ | |
Die Krux an solchen kalkulierten Sätzen aus der Rhetorik des | |
Rechtspopulismus ist freilich, dass an ihnen leider auch etwas dran ist. | |
Mehr noch: Was eine eminent anti-intellektuelle Politikerin wie Truss hier | |
ausdrückt, betrifft den Kern des Akademischen, zumal in den Geistes- und | |
Gesellschaftswissenschaften. | |
Kritisches Denken erfordert die Hinterfragung verfestigter Ansichten, | |
selbstkritische Überprüfung des eigenen Denkens und nicht zuletzt die | |
Bereitschaft, eigenen Überzeugungen zuwiderlaufende Sichtweisen anzuhören | |
und zu prüfen. Denn nur durch einen offenen Diskurs kann überhaupt so etwas | |
wie die (ohnehin nur in Näherungswerten erreichbare) „Wahrheit“ etabliert | |
werden. | |
## Keine Ambiguitätstoleranz | |
Dass die unter dem Vorzeichen der Identitätspolitik derzeit erfolgende | |
Revision der universitären Kultur den Kern des Akademischen auf lange Sicht | |
aushöhlt, kann kaum bezweifelt werden. Was eines der zentralen Ziele jedes | |
Studiums sein sollte, – das Erlernen von Ambiguitätstoleranz –, wird zum | |
erklärten Feindbild. | |
Nichts darf sich der Eindeutigkeit entziehen. Alles muss Farbe bekennen. | |
Schwarz oder weiß; keine Graustufen erlaubt. Denn an die Stelle des | |
Zweifels am eigenen Standpunkt tritt die Gewissheit des Rechthabens. Diese | |
Apodiktik [1][haben Wokeness-Jünger*innen durchaus mit den rechten | |
Kulturkämpfern gemeinsam]. | |
Es ist jedenfalls sinnig, dass der neue Überlegenheitsdiskurs im | |
Hochschulwesen des Vereinigten Königreichs insbesondere an den | |
Eliteuniversitäten von Oxford, Cambridge und London effektiv Fuß fassen | |
konnte. [2][Der moralische Besserwissergestus der woken] verlängert | |
passgenau den früheren intellektuellen Herrschaftsanspruch der | |
alteingesessenen Männerbrigade. | |
Ist die politische Korrektheit in Deutschland eher eine der Strategien der | |
Selbstgerechten aus dem linksliberalen akademischen Milieu, um ihre | |
sozialen Privilegien vor der Unterschicht zu schützen, so ist im britischen | |
System auffällig, dass insbesondere Privatschulzöglinge und | |
Oberschichttöchter sich als vehemente Streiter für sexuelle und ethnische | |
Minderheiten erweisen. | |
Wokeness dient mithin zur politischen Neutralisierung wie moralischen | |
Befestigung eigener sozialer Privilegien. Ihre emanzipative Stoßrichtung | |
wird damit ins Gegenteil pervertiert. | |
## „Weiße“ Arbeiterkinder need not apply! | |
Exemplarisch ablesen lässt sich dies an der Jobanzeige, mit der man in | |
Oxford im Frühjahr 2021 die Leuchtturm-Position in der britischen | |
Germanistik, nämlich die Schwarz-Taylor-Professur für Deutsche Sprache und | |
Deutsche Literatur, zu besetzen suchte: „Applications are particularly | |
welcome from women and black and minority ethnic candidates, who are | |
under-represented in academic posts in Oxford.“ Was deutlich genug sagt: | |
„weiße“ Arbeiterkinder need not apply! | |
Ein anderer Aspekt der Wokeness-Problematik an britischen Universitäten ist | |
die im Vergleich zu Deutschland grundlegend andere Universitätskultur. Die | |
britischen Hochschulen agieren als Dienstleister, die ihre horrende | |
Studiengebühren zahlenden Studierenden als Kunden betrachten, die – einer | |
Marketingweisheit zufolge – als Könige zu behandeln sind. | |
Zu welchem Absturz akademischer Qualität dies geführt hat, habe ich mehr | |
als zwei Jahrzehnte lang an meiner Birminghamer Institution beobachten | |
können. Dort wurden die intellektuellen Anforderungen beständig | |
heruntergeschraubt, damit Noten, und also die student satisfaction, nach | |
oben geht. | |
Wer bei einer Klausur oder gleich im ganzen Studienjahr durchfällt, darf | |
alles dreimal oder mehr wiederholen, weil die Abbrecherquote um keinen | |
Preis steigen darf. Offenkundige Plagiate, die sich aber nicht wasserdicht | |
nachweisen lassen, werden toleriert. Und so weiter. | |
## Verfall der intellektuellen Qualität | |
Dies alles unter dem Diktat der league tables, bestimmt doch Auf- oder | |
Abstieg auf den diversen Ranglisten das Schicksal jeder Fakultät. Vor dem | |
Hintergrund solch akademischer nanny culture ist der Verfall der | |
intellektuellen Qualität des Studiums zu verstehen. Was ich als | |
universitärer Lehrer auf Seiten der Studierenden zu vermeiden hatte, waren | |
Erfahrungen der Überforderung, des Nichtverstehens, der Verunsicherung. | |
Die Kunst der Wiener Aktionisten beispielsweise triggerte 2012 im | |
Unterricht noch Irritationen, die interessante Diskussionen auslöste, was | |
„Kunst“ alles sein kann (oder nicht). Die letzten paar Jahre hingegen | |
führten Schwarzkogler, Brus, Nitsch et al. nur noch zu reaktionären | |
Urteilen bzw. kategorischer Ablehnung als Abjektes, mit dem man lieber | |
nicht konfrontiert werden möchte. | |
Durch die Neoliberalisierung der higher education verfielen nicht nur | |
intellektuelle Neugier oder kritisches Denken, sondern etablierte sich | |
seitens des academic managements zunehmend ein Regime, das dem Kunden, in | |
der Furcht vor potentiellen Beschwerden, vor allem Inkommensurablen zu | |
bewahren trachtet. Die Selbstzensur der Lektürelisten und die Proliferation | |
von trigger warnings sind wesentlich vor diesem Hintergrund zu verstehen, | |
selbst wenn sie in vielen Fällen durchaus berechtigte Anlässe haben können. | |
## Stressfreier Weg zu besseren Noten | |
Von einer „linken Meinungsdiktatur“, wie sie die Konservativen und rechte | |
Gesinnungsgenossen als Schreckgespenst an die Wand malen, kann allein schon | |
deshalb keine Rede sein, weil die allermeisten Dozierenden längst schon | |
ihre akademische Freiheit zu selbstbestimmter Lehre weitgehend verloren | |
haben in dem aufgenötigten Endzweck, den Studierenden einen glatten, | |
möglichst stressfreien Weg zu einem Abschluss mit besserer Note als | |
eigentlich verdient zu bahnen, sprich: dem Kunden value for money zu | |
bieten. | |
Der intellektuelle Niedergang des britischen Hochschulwesens ist folglich | |
nur ganz zu verstehen, wenn man begreift, wie das bestehende neoliberale | |
Regime aus student experience management und Profitmaximierung eine | |
passgenaue Allianz mit der wokeness eingeht, die sich im spezifischen | |
Milieu der Universität so erst recht zunehmend als Herrschaftsdiskurs | |
installiert. | |
Bildung wird zu einem (teuer erkauften) Service, Dozenten zu willfährigen | |
Dienstleistern, die Spaltung zwischen Exzellenzunis und dem traurigen Rest | |
verstärkt sowie soziale Privilegien gegenüber den Ausgeschlossenen | |
gesichert. | |
Der verbliebene Rest an widerständigem Denken, an zeitgeistresistentem | |
Nonkonformismus, academic eccentricity – all das, was zumal britische | |
Universitäten einst auszeichnete – wird nun mit der gesinnungspolizeilichen | |
Keule der wokeness ausgetrieben. Die Hochschule, nicht nur in | |
Großbritannien, so befürchte ich, wird bald schon kein Ort der Emanzipation | |
mehr sein, sondern der ideologischen Konformität. | |
3 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Uwe Schütte | |
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