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# taz.de -- Liz Truss könnte bald Briten regieren: Sie will die Leute machen l…
> Liz Truss wird kommende Woche wohl zur Chefin der britischen
> Konservativen und zur Premierministerin gekürt. Kann sie das Land aus der
> Krise führen?
Bild: Die britische Außenministerin Liz Truss in der Downing Street, Juli 2022
Das Rennen war eigentlich schon gelaufen, als Liz Truss und Rishi Sunak am
Mittwochabend im Londoner Wembley-Stadion zu ihrem letzten Wahlkampfduell
aufeinandertrafen. Am übernächsten Tag um 17 Uhr würde die Frist ablaufen,
bis zu der die geschätzt [1][160.000 Mitglieder der britischen
Konservativen ihre Briefwahl- oder Onlinestimmen für die Nachfolge des
scheidenden Parteichefs und Premierministers Boris Johnson abgegeben haben
müssten]. Die Umfragen waren eindeutig: Truss führt vor Sunak mit rund zwei
zu eins.
Entsprechend selbstsicher trat die 46-Jährige auf, die zurzeit noch
britische Außenministerin ist. Truss sprach von bevorstehenden „schweren
Zeiten“ und wischte Fragen des Moderators Nick Ferrari vom Londoner
Stadtradio LBC, ob sie einen neuen Dienstwagen anschaffen oder die von
Boris Johnsons Ehefrau erworbenen vergoldeten Tapeten in der Dienstwohnung
in 10 Downing Street auswechseln werde, als lästige Ablenkung beiseite.
„Ich glaube nicht, dass ich Zeit haben werde, über Tapeten nachzudenken“,
erwiderte Truss sichtlich genervt. „Sollte mir die Ehre widerfahren, unsere
Premierministerin zu werden, werde ich mich auf Energiepreise für
Verbraucher konzentrieren, wie wir die britische Wirtschaft voranbringen
und wie wir die Warteschlangen im öffentlichen Gesundheitsdienst
bewältigen. Nicht auf das Auto, in dem ich sitze.“
## Für die Partei und das Land
Für Rishi Sunak, den 42-jährigen ehemaligen Finanzminister, war dieser
Auftritt schon ein Abschied. Er ließ sich von seinen Anhängern mit „Rishi,
Rishi!“-Rufen feiern; er bedankte sich bei seinen Eltern, die mit grauen
Haaren und feuchten Augen im Publikum saßen.
Er wedelte eifrig mit den Händen als Vermarkter in eigener Sache und
betonte doch am Ende, dass Truss und er sich in viel mehr Dingen einig
seien als uneinig. „Und ich meine nicht nur unsere gemeinsame Liebe für
Whitney Houston und Taylor Swift. Wenn das alles vorbei ist, werden wir
zusammenkommen, für die Partei und das Land.“
## Revolution als Begleitmusik
Dass Liz Truss das Lied „Change“ von Taylor Swift für ihren Einzug ins
Stadion gewählt hatte, mag man als Spitze gegen ihren Rivalen vermerken –
„And it’s a sad picture, the final blow hits you / Somebody else gets what
you wanted again“, beginnt das Lied. Gespielt wurde, als die Ministerin in
Blau zu blauem Licht und frenetischem Applaus auf die Bühne stieg,
allerdings nur folgender Ausschnitt: „Because these things will change /
Can you feel it now? / These walls that they put up to hold us back will
fall down / It’s a revolution, the time will come / For us to finally win.“
Auch das ist, bei Lichte betrachtet, ziemlich erstaunlich. Die
Konservativen sind in Großbritannien seit 2010 an der Regierung. Liz Truss
bekleidet seit 2012 Ämter als Staatssekretärin oder Ministerin, sie ist
trotz ihrer relativen Jugend Großbritanniens dienstälteste Ministerin. Aber
sie wählt Parolen über Wandel und Revolution als Begleitmusik. Alles soll
sich endlich ändern – so inszeniert die Favoritin von Großbritanniens
Regierungspartei ihren eigenen innerparteilichen Wahlkampf mitten im
Hochsommer.
## Schwerste Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten
Es ist nicht das erste Mal. Nachdem die Briten am 23. Juni 2016 für den
Brexit stimmten, trat Premierminister David Cameron zurück. Seine
Innenministerin Theresa May folgte ihm nach, ihre Amtszeit währte keine
drei Jahre. Sie erklärte ihren Rücktritt im Mai 2019, nachdem sie mit ihrem
Brexit-Abkommen im Parlament dreimal durchgefallen war. Die Konservativen
hoben den Brexit-Star Boris Johnson ins höchste Amt. Er stolperte nach drei
Jahren über seine eigene Sorglosigkeit und Überheblichkeit und die
Geringschätzung der eigenen Partei und erklärte in diesem Juli seinen
Rücktritt.
Nun wählen die Konservativen also ihren vierten Regierungschef in Folge. Er
– oder sie – schafft vielleicht nicht einmal drei Jahre. Spätestens im
Januar 2025 sind Neuwahlen fällig und es beginnt gerade Großbritanniens
schwerste Wirtschaftskrise seit Jahrzehnten, mit zweistelligen
Inflationsraten und explodierenden Energiepreisen.
Auch May und Johnson hatten sich einst als Verkörperung des Neuanfangs
inszeniert. Theresa May wollte nach Jahren der harten Sparpolitik die
soziale Ader der Konservativen wiederfinden. Boris Johnson wollte nach
Jahren des Chaos den Brexit vollenden und die Angleichung der
Lebensverhältnisse zwischen armen und reichen Landesteilen angehen. Und
jetzt sagt Liz Truss: „Wir können nicht weitermachen wie bisher, wir müssen
die Dinge anders machen.“
## Frauenfeindlichkeit unter Konservativen
Truss und Sunak galten beide als Säulen der Regierung Johnson. Liz Truss
ist Außenministerin, davor war sie Handelsministerin, in Sachen Ukraine und
Brexit zeigt sie Entschlossenheit. Rishi Sunak wiederum war als
Finanzminister bis zu seinem Rücktritt im Juli der Architekt der
Corona-Rettungspakete für die Wirtschaft und der Entlastungspakete in der
aktuellen Energiekrise. Die konservative Parlamentsfraktion hat in den
Abstimmungen um Johnsons Nachfolge im Juli immer Sunak an die Spitze
gesetzt, Truss schob sich erst in der fünften und letzten Runde auf Platz
zwei.
Viele Abgeordnetenkollegen halten sie für eine ehrgeizige, sich selbst
überschätzende Karrieristin, was allerdings wohl auch mit der
Frauenfeindlichkeit unter konservativen Männern zu tun hat.
## Es genügt nicht
Sunaks Bilanz kann sich sehen lassen. Er führte 2020 ein Kurzarbeitergeld
ein, er erhöhte 2021 die Sozialversicherungsbeiträge zur Refinanzierung der
Gesundheitsausgaben, und im Mai 2022 erfand er eine Übergewinnsteuer für
Energiekonzerne sowie Entlastungen für die Bevölkerung in einem Ausmaß, wie
es in Deutschland erst ansatzweise diskutiert wird: 400 Pfund (465 Euro)
Energiebeihilfe pro Haushalt; dazu 650 Pfund (750 Euro) für die acht
Millionen ärmsten Haushalte, die Sozialleistungen beziehen; dazu eine
Aufstockung der bestehenden Winterbeihilfe für Rentner um 200 Pfund (230
Euro) auf dann 500 Pfund; zusätzlich 150 Pfund (175 Euro) für Bezieher von
Schwerbehindertenbeihilfen. Die Kosten von 21 Milliarden Pfund werden
größtenteils durch Kredite gedeckt.
Aber so sehr die Regierung sich abmüht, es genügt nicht. Der staatliche
Energiepreisdeckel, den die britische Regulierungsbehörde Ofgem alle sechs
Monate neu festlegt, stieg bereits im April von 1.277 auf 1.971 Pfund pro
Jahr und wird im Oktober auf 3.549 angehoben – fast eine Verdreifachung
gegenüber dem Vorjahresniveau. Experten halten eine weitere Verdoppelung
für möglich, in Zukunft soll der Preisdeckel alle drei Monate angepasst
werden. Ein Vorschlag der Labour-Opposition, den Preisdeckel einfach
einzufrieren, findet in der Öffentlichkeit breite Unterstützung, die
Regierung lehnt das aber ab.
## Steuern senken
Was wird Liz Truss machen? Sie hat konkrete Ankündigungen in diesem
Politikbereich bisher vermieden. Wirtschaftspolitisch scheint sie vor allem
die Maßnahmen Rishi Sunaks rückgängig machen zu wollen. Sunak will in
erster Linie das Haushaltsdefizit verkleinern, Truss die Steuern senken.
Die neue Übergewinnsteuer will Truss wieder abschaffen, die erhöhten
Sozialversicherungsbeiträge wieder senken, die im April in Kraft getretene
Anhebung der Unternehmenssteuer von 19 auf 25 Prozent wieder rückgängig
machen, ebenso eine neu eingeführte EEG-Umlage auf Strompreise. Sie
verspricht Steuerentlastungen von 34 Milliarden Pfund (knapp 40 Milliarden
Euro) pro Jahr. Eine entsprechende Senkung der Staatsausgaben zieht sie
nicht in Betracht, höchstens „Effizienzsteigerungen“ in der
Staatsverwaltung. Die Steuersenkungen sollen die Wirtschaft ankurbeln, sich
dadurch selbst finanzieren und Innovationskräfte freisetzen.
## Ein neoliberales Programm
Es ist ein klassisches neoliberales Programm, das ihr Kontrahent Sunak für
inflationstreibenden Unsinn hält. Aber Liz Truss teilt einen alten Wunsch
ihrer Partei: nach der wirtschaftlichen Entfesselung eines „Global
Britain“, gegründet auf der Zuversicht, dass das Land alles schaffen kann,
wenn man die Leute nur machen lässt und die Bedenkenträger im Staatsapparat
in die Schranken weist. Sie ist die Kandidatin der „Brexiteers“, für die
Boris Johnson am Ende zu links war. Ihr Programm des Zurückdrängens des
Staates knüpft an Margaret Thatcher an.
Heute kommt Liz Truss mit diesem Programm bei ihrer Parteibasis an. Bis zum
Winter 2024 kann die Welt zwar eine andere geworden sein, aber Truss ist
flexibel genug, sich dann ein neues Programm zu geben. Am Montagmittag wird
bekannt gegeben, ob sie gewonnen hat. Wenn ja, wird sie am Dienstag mit
Boris Johnson zur Queen auf deren Sommersitz Balmoral in Schottland fahren
und das höchste Regierungsamt erhalten. „We never gave in“, endet Taylor
Swifts Lied, mit dem Liz Truss ihren letzten Wahlkampfauftritt begleitete,
„and we’ll sing hallelujah“.
3 Sep 2022
## LINKS
[1] /Tories-waehlen-neuen-Parteivorsitzenden/!5870489
## AUTOREN
Dominic Johnson
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