| # taz.de -- Buch über Identitätspolitik: Zwischen Woke und Wahnsinn | |
| > Yascha Mounks Buch „Im Zeitalter der Identität“ zeigt, wie noble | |
| > Überzeugungen in Wahnideen eskalieren können. | |
| Bild: Je lauter das Geschrei, desto stärker die Gruppenpolarisierung | |
| „Wokeness“ und „Identitätspolitik“ sind zu einer Modeerscheinung gewor… | |
| und ähnlich modisch wurde zuletzt auch die Kritik daran. Wobei sich heute | |
| wohl niemand mehr als „Woke“ oder Anhängerin von „Identitätspolitik“ | |
| charakterisieren würde. Die Begriffe sind unscharf, polemisch kontaminiert, | |
| im Grunde ruiniert. | |
| Die Thematiken emotionalisieren, deshalb gibt es auch eine Schwemme am | |
| Buchmarkt, die man besser nur mit spitzen Fingern anrührt, weil man es auf | |
| der einen Seite häufig mit Betroffenheitsprosa oder abgedrehtem | |
| Radikalismus zu tun bekommt, auf der anderen Seite mit kulturkonservativer | |
| Phrasendrescherei oder kraftmeierischen Thesenbüchern. | |
| So kommt [1][Yascha Mounks] kluges, maßvolles und lektürebewandertes Buch | |
| gerade recht, das sich mit den zentralen Prämissen von „Identitätspolitik“ | |
| auseinandersetzt, wozu ja etwa auch die Auffassung zählt, dass sich | |
| Argumente nicht unabhängig von Identität und Sprecherposition des | |
| Argumentierenden beurteilen lassen. | |
| Diese Kompliziertheit gilt nun plötzlich für das Buch selbst, denn knapp | |
| vor Erscheinen der deutschen Ausgabe erhob eine einstmalige Weggefährtin | |
| des Autors Vergewaltigungsvorwürfe gegen Mounk. Der weist die Vorwürfe | |
| „kategorisch“ von sich, dass es bei einem konsensualen Sleepover zu einem | |
| nichtkonsensualen Sexualakt gekommen wäre. Die Funktion Mounks im | |
| Herausgeberkreis der Zeit ist ruhend gestellt, das Magazin The Atlantic hat | |
| die Zusammenarbeit mit ihm fürs Erste sistiert. | |
| Dass das Geschehen selbst je genau aufgeklärt wird, ist unwahrscheinlich, | |
| denn juristische Klärungen sind nicht in Sicht. Wie also umgehen mit so | |
| einem Buch? Werk und Autor einfach trennen? Versuchen wir es. | |
| ## Massakrierte Partykids als Täter | |
| Das Buch ist wichtig, nicht zuletzt, weil jüngst so sichtbar wurde, wie | |
| einige ideologische und theoretische Prämissen dessen, was Mounk die | |
| „Identitätssynthese“ nennt, ins vollends Bizarre führen. | |
| Wenn die Welt in Schwarz-Weiß geteilt wird, wenn bekundet wird, dass „der | |
| Unterdrückte“ immer recht hat, dann kann man sogar bei einer kritiklosen | |
| Unterstützung von Gemetzeln der Hamas landen und bei Empathielosigkeit für | |
| Malträtierte, da ja der „Widerstand“ der „Kolonisierten“ immer ein | |
| authentischer Ausdruck berechtigter Rebellion ist, auch wenn Partykids | |
| vergewaltigt, verbrannt oder aufgeschlitzt werden. | |
| Mounk nimmt sich ohne Polemik, dafür mit umso besonnenerer Kritik der | |
| theoretischen Grundlagen einer Ideologie an, die er mit dem Begriff | |
| „Identitätssynthese“ charakterisiert. | |
| Mounk ist Politikwissenschaftler und Publizist, er ist eher ein | |
| (Links-)Liberaler, der aber aus der sozialdemokratischen Linken kommt (aus | |
| der SPD trat er wegen der Hinnahme der Krim-Annexion aus), er ist Jude, | |
| Pole, Deutscher und Amerikaner, was nicht nur eine lose Aufzählung von | |
| Identitätsmerkmalen ist, sondern: Mounk lebte und lebt in unterschiedlichen | |
| politisch-kulturellen Diskursordnungen und ist gut in | |
| Übersetzungsleistungen. Mit Büchern wie „Der Zerfall der Demokratie“ hat … | |
| seit Jahren Aufmerksamkeit erregt. | |
| ## Theorien abgleichen | |
| Seine These: Das, was man so salopp die „Identitätspolitik“ nennt, ist eine | |
| Synthese verschiedener Überzeugungen und Theorien (deshalb | |
| „Identitätssynthese“), die jede für sich im Einzelnen sehr inspirierend, | |
| oft plausibel, selten ganz falsch sind, die aber in Summe zu einem | |
| sektiererischen und absurden Extremismus amalgamisiert werden. | |
| Für alle, die nicht jede Verästelung der neuesten Theorien verfolgt haben, | |
| ist das Buch auch noch extrem lehrreich. | |
| Mounk seziert zeitgenössische, postmoderne Machttheorien, verschiedene | |
| Verästelungen der postkolonialen Theorien, er kaut an Edward Saids | |
| „Orientalismus“ herum, am [2][„strategischen Essentialismus“ von Gayatri | |
| Chakravorty Spivak], an der Thematisierung der seelischen Verwundungen | |
| Unterdrückter und Unterprivilegierter, an „Klassismus“ und | |
| „Mikroaggressionen“ und an der „Critical Race Theorie“ und vielem mehr. | |
| Mounk widmet sich den Theorien Michel Foucaults, dessen Machtanalyse gerade | |
| nicht die brutal repressiven, sondern die scheinbar neutralsten und | |
| unabhängigsten Institutionen kritisierte. | |
| ## Bein Essentialismus landen | |
| Er untersucht Theorien, die strukturellen Rassismus und subtile | |
| Benachteiligungen thematisierten, [3][bis sie bei einem Essentialismus | |
| landeten], der proklamiert, nur Benachteiligte können aufgrund ihrer | |
| direkten Erfahrungen die unterdrückerische Realität begreifen, während alle | |
| anderen die Klappe halten müssen. Er untersucht einen Pessimismus, der | |
| davon ausgeht, dass sich Menschen unterschiedlicher Erfahrungen im Grunde | |
| nie echt verständigen können. | |
| Mounk nimmt sich der argumentativen Fragwürdigkeiten von Theorien an, die | |
| quasi unfalsifizierbar sind, etwa wenn behauptet wird, dass alle weißen | |
| Menschen unabänderlich rassistisch sind, und eine Meinung, die diese These | |
| infrage stellt, eben nur ein Beweis für den Rassismus der widersprechenden | |
| Person sei. | |
| Materialreich zeichnet Mounk nach, wie theoretische Konstruktionen, die | |
| alle mehr als „ein Körnchen Wahrheit“ enthalten, dann am Ende in einer | |
| sektiererischen Wahnidee münden können, etwa, dass eine Gruppe, die als | |
| historisch marginalisiert definiert wird, immer recht hat (egal, was im | |
| Namen dieser Gruppe getan wird). | |
| All diese Theorien, die Richtiges zur Sprache bringen (etwa über „weißes | |
| Privileg“), eskalieren in ein konfrontatives Muster, also eine Rhetorik, | |
| die spaltet und unfähig ist, Allianzen zu bilden. Selbst der eigentlich | |
| Alliierte, der ein paar Dinge anders sieht, wird zum Feind erklärt. Mounk: | |
| „Um diese Ungerechtigkeiten zu erkennen – oder gegen sie ankämpfen zu | |
| wollen –, muss man kein Verfechter der Identitätssynthese sein.“ | |
| ## Sachlich versus moralisch | |
| Mounk packt eben nicht den Bihänder aus, sondern macht deutlich: Jede | |
| dieser Theorien hat einen plausiblen Punkt, aber wenn man sie überdreht und | |
| radikalisiert zusammenmontiert, dann kommt nur fragwürdiges Zeug raus. | |
| Dass die sektiererische Weltanschauung einen gewissen Stellenwert erlangen | |
| konnte, liegt auch daran, dass sie argumentativ so gebaut ist, dass sie | |
| Einwände nicht nur einfach als sachlich falsch abwies, sondern als | |
| moralisch verwerflich. | |
| In einer packenden Passage des Buches berichtet Mounk über | |
| sozialpsychologische Experimente von Verhaltensökonomen, in denen eine | |
| beliebige politische Frage zunächst einzelnen Individuen ähnlicher | |
| Wertorientierung vorgelegt wurde. Sie wurden dann nach ihrer Meinung sowie | |
| zu Lösungsvorschlägen befragt. | |
| Diese waren meist reformorientiert. Danach wurde dieselbe Frage ganzen | |
| Gruppen vorgelegt, und sie mussten in einer Diskussion ihre Meinung und | |
| ihre Vorschläge erarbeiten. Die Meinung war deutlich zorniger, erregter, | |
| radikaler und die Vorschläge waren weit weniger maßvoll. | |
| ## „Gesetz der Gruppenpolarisierung“ | |
| Verhaltensökonomen nennen das „das Gesetz der Gruppen-Polarisierung“. Die | |
| Gefahr besteht dann, dass durch gegenseitiges Anstacheln eine Dynamik | |
| überzogener Selbstradikalisierung einsetzt, aber das „muss nichts Schlimmes | |
| sein“ (Mounk). | |
| Allerdings haben Verhaltensforscher im Nachgang auch noch etwas anderes | |
| herausgefunden. Wenn es sich um eine politisch-sachliche Streitfrage | |
| handelt und eine Gruppe überbietet sich in immer radikaleren Ansichten, | |
| dann melden sich irgendwann einmal dissidente Stimmen aus der Gruppe | |
| selbst, die anmerken: „Übertreiben wir jetzt nicht?“ | |
| Ist aber die Fragestellung selbst schon moralisch aufgeladen, sodass selbst | |
| dieser Einwand diskreditierbar ist, dann bleiben die abweichenden Stimmen | |
| stumm und die Gruppenradikalisierung geht ungebremst weiter. | |
| Simpel gesagt: Wenn die These lautet, dass alle weißen Menschen immer | |
| Rassisten sein müssen, und erwartbar ist, dass ein Einwand gegen diese | |
| These als „typische Blindheit weißer Rassisten ihrem eigenen Rassismus | |
| gegenüber“ diskreditiert wird, dann wird dieser Einwand nicht mehr | |
| vorgetragen. Einfach aus Angst, moralisch erledigt zu werden. Der | |
| gelegentliche Vorwurf an Linke, sie würden „moralisieren“, bekommt hier | |
| einen bedenkenswerten Kern. | |
| Yascha Mounk gelingt es, die Übertreibungen und Verrücktheiten des an sich | |
| Richtigen auf kluge Weise zu zerlegen und im nervigen „Pro“- und | |
| „Anti-Woke“-Geschrei den richtigen Ton zu treffen, der solidarische | |
| Einwände und scharfe theoretische Kritik zu kombinieren weiß. Der Rest von | |
| der „Identitätspolitik“-Bibliothek kann jetzt weg. | |
| 18 Mar 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Robert Misik | |
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