# taz.de -- Demokratietheoretiker über Identität: Es gibt keinen Präzedenzfa… | |
> Viele Formen der Identitätspolitik sind kontraproduktiv, sagt Yascha | |
> Mounk. Vielfältige Gesellschaften bräuchten ein neues | |
> Zusammengehörigkeitsgefühl. | |
Bild: Grenzen von Gruppen verschieben sich: Porträts der Abgänger:innen an ei… | |
taz am wochenende: Herr Mounk, in Ihrem letzten Buch haben Sie sich mit der | |
Herausforderung des Populismus für die Demokratie beschäftigt, jetzt ist | |
die Diversität ins Zentrum Ihres Denkens gerückt. Warum? | |
Yascha Mounk: Die beiden Themen sind eng miteinander verwoben. Das | |
[1][Erstarken des Populismus] ist ja auf die kulturellen und demografischen | |
Veränderungen in unseren Ländern zurückzuführen. Wir befinden uns heute in | |
einer gänzlich neuartigen Situation. Es gibt für unsere gegenwärtige Art | |
der Demokratie keinen Präzendenzfall. In der Geschichte gab es relativ | |
viele homogene Demokratien, es gab ein paar erfolgreiche multiethnische und | |
multireligiöse Monarchien, aber für eine diverse Demokratie, die ihre | |
Bürger wirklich fair behandelt, gibt es keine großen Beispiele. Deshalb ist | |
es an der Zeit, darüber nach zu denken, vor welche Herausforderungen uns | |
das stellt. | |
Heißt das, Diversität ist ein Problem für liberale Demokratien? | |
Die menschliche Psychologie neigt dazu, Mitglieder der eigenen Gruppe zu | |
bevorzugen und Mitglieder anderer Gruppen zu diskriminieren. Das hat in der | |
Geschichte immer wieder zu tiefen Ungerechtigkeiten geführt, zu Formen der | |
extremen Dominanz einer Gruppe gegenüber der anderen, wie zum Beispiel in | |
der Sklaverei. Oder es hat zu Formen der gesellschaftlichen Fragmentierung | |
geführt, wie man sie jetzt im Libanon sieht, wo die Mitglieder der | |
verschiedenen Gruppen kaum mehr etwas gemeinsam haben. Schließlich hat es | |
zu Formen der Anarchie geführt, wo die Gruppen es nicht mehr schaffen, im | |
Rahmen eines effektiven Staates zu kooperieren. Jetzt könnte man als | |
Demokrat hoffen, dass unsere Regierungsform es uns erleichtert, mit diesen | |
Schwierigkeiten um zu gehen. Aber das ist nicht unbedingt der Fall. | |
Warum nicht? | |
Wenn ich in einer Monarchie lebe, dann hat meine Gruppe keine Macht, aber | |
die anderen Gruppen auch nicht. Das heißt, wenn eine andere Gruppe | |
schneller wächst als meine, verändert das meine politische Situation nicht. | |
In einer Demokratie suchen wir hingegen immer nach Mehrheiten, und deshalb | |
ist diese Angst vor dem demografischen Wandel, die ja von rechts so | |
geschickt ausgenutzt wird, in unser System hinein gebacken. Deshalb stellt | |
uns die Diversität vor Probleme, die wir ernst nehmen müssen. | |
Das heißt, Diversität funktioniert in autoritären Staaten paradoxerweise | |
besser als in Demokratien? | |
Nicht unbedingt, weil autoritäre Staaten natürlich andere Probleme haben. | |
Aber es gibt zumindestens einen zentralen Mechanismus der Demokratie, der | |
es uns erschwert und der erklärt, warum die These vom Bevölkerungsaustausch | |
so viel Ängste hervorruft. | |
Welche These meinen Sie? | |
Es gibt in den USA die Theorie, die ich übrigens für falsch halte, dass | |
2045 die Weißen keine Mehrheit mehr sein werden. Die These wird präsentiert | |
von einer staatlichen Behörde, vom US Census Bureau, und kommt überaus | |
wissenschaftlich daher. Aber den Untersuchungen der Behörde liegen sehr | |
unrealistische Vorstellungen zugrunde. Zum Beispiel die Idee, dass jemand, | |
der sieben weiße und einen schwarzen Vorfahren hat, automatisch als schwarz | |
gilt, das ist die [2][sogenannte „One Drop“-Regel]. Oder die Idee, dass ein | |
Einwanderer aus Spanien Hispanic ist und nicht als Weiß zu gelten hat. Das | |
geht natürlich an der gesellschaftlichen Realität des Landes vorbei. In | |
Wirklichkeit gibt es doch eine sehr starke Vermischung der | |
Bevölkerungsgruppen und eine viel flexiblere Selbstdarstellung von | |
Identität. | |
Ist eine Betrachtung der Gesellschaft anhand von ethnischen demografischen | |
Linien untauglich? | |
Jein. Natürlich spielen ethnische Spannungen eine große Rolle. Natürlich | |
kann man beispielsweise die USA nicht verstehen, ohne die sozioökonomischen | |
Konflikte zwischen Weißen und Schwarzen in Betracht zu ziehen. Aber wir | |
sehen an vielen Beispielen in der ganzen Welt, dass sich die Grenzen von | |
Gruppen verschieben, verwischen und bewegen können. | |
Wie würden Sie denn die US-Gesellschaft im Jahr 2050 sehen? | |
Das hängt davon ab, welche Entscheidungen wir in den kommenden Jahrzehnten | |
treffen, wie unsere Politiker reden werden, wie wir in den Medien und in | |
den Schulen über Diversität reden. Momentan gibt es in den USA und auch in | |
Deutschland den Irrglauben, dass es gut wäre, den Konflikt zwischen den | |
Gruppen zu schüren. Das sieht man einerseits von den Rechtspopulisten, aber | |
man sieht es auch von Teilen der politischen Linken, die denken, dass die | |
immer größere Betonung des ethnischen Stolzes ein effizienter Weg sei, | |
gegen die Ungerechtigkeit zu kämpfen. Das halte ich für einen großen | |
Fehler. | |
Sie halten also die vielgescholtene Identitätspolitik für kontrapoduktiv. | |
Viele Formen der Identitätspolitik sind kontraproduktiv. Die liberale | |
Demokratie ist nicht naturgegeben, und damit wir sie bewahren können, | |
brauchen wir Institutionen, Schulen, Medien, Universitäten, die über diese | |
Gruppen hinaus ein Gefühl der Zusammengehörigkeit erzeugen. | |
Sprechen Sie von einem Gemeinschaftsgefühl, das über so etwas Rationales | |
wie Verfassungspatriotismus hinaus geht? | |
Es gibt drei verschiedene Konzeptionen des Patriotismus. Die erste ist | |
ethnisch, dass also ein echter Deutscher nur derjenige sei, der Vorfahren | |
hat, die schon immer in Deutschland leben, der aus einer christlichen | |
Familie stammt. Diese Konzeption ist aus der Zeit gefallen. Diejenigen | |
Intellektuellen, die verstehen, wie wichtig der Patriotismus ist, um über | |
die Stammesloyalitäten hinaus Solidarität miteinander üben zu können, | |
wählen dann normalerweise den Verfassungspatriotismus als Alternative. | |
Dieses Konzept ist durchaus sympathisch. Aber es ist keine realistische | |
Beschreibung dafür, wie Menschen sich tatsächlich fühlen. Die meisten | |
Menschen interessieren sich nicht genügend für Politik, als dass sie jeden | |
Morgen mit dem Grundgesetz aufstehen. | |
Was ist dann die Lösung? | |
Wir brauchen eine dritte Form des Patriotismus und zwar einen kulturellen | |
Patriotismus: eine Liebe zur gelebten Realität im Land, die sowohl von der | |
sogenannten Mehrheitskultur als auch von den Einwanderern geprägt wird. | |
Hat Deutschland denn von einem ethnisch geprägten Nationalismus genügend | |
Abstand gewonnen? | |
Natürlich war das Selbstverständnis der deutschen Demokratie sehr lange | |
stark ethnisch geprägt. Wenn man 1960 durch deutsche Fußgängerzonen | |
gegangen wäre und die Leute gefragt hätte, was ein echter Deutscher ist, | |
wäre die Antwort sehr deutlich ausgefallen. Und natürlich gibt es heute | |
noch viele, die diesem Selbstverständnis weiterhin anhängen. Aber ich | |
glaube tatsächlich, dass die große Mehrheit heute Nachfahren von | |
Einwanderern von Mehmet Scholl bis Verona Pooth ganz selbstverständlich für | |
Deutsche halten.Das Land hat jedenfalls enorme Fortschritte gemacht. Das | |
wollen viele Rechtspopulisten nicht anerkennen, weil sie an der ethnisch | |
behafteten Definition der Nation festhalten. Aber auch viele Linke wollen | |
das nicht anerkennen, weil sie darin verliebt sind, den Rassismus als | |
Wesenskern des Landes darzustellen. | |
Woran machen Sie die Fortschritte fest? | |
Es gibt eine sehr interessante Studie, die zeigt, dass sich Einwanderer | |
gerade aus ärmeren Länder zwar zunächst schwer tun. Aber wir sehen, dass | |
die zweite und dritte Generation einen wesentlich rascheren | |
sozio-ökonomischen Fortschritt vorzeigt als etwa Deutsche mit einem | |
ähnlichen sozialen Hintergrund. Deshalb kommt die Studie zu dem Schluss, | |
dass sich die Einkommenslücke zwischen sogenannten Bio-Deutschen und | |
Einwanderern schneller schließt, als man annimmt. | |
Nun gibt es in Einwanderungsländern wie den USA und Kanada diesen Mythos | |
des ethnisch einheitlichen Ursprungs eigentlich nicht. Trotzdem tut man | |
sich mit Diversität schwer. Warum ist das so? | |
Den sozioökonomischen Erfolg der Einwanderer gibt es auch in den USA. Aber | |
es gibt auch hier den Mythos aus der rechten Ecke, dass die Einwanderer aus | |
Lateinamerika beispielsweise nicht die kulturellen Voraussetzungen dafür | |
mitbringen, um im Land Erfolg zu haben. Aber das wird durch die Fakten ganz | |
klar widerlegt. Es gibt eine sehr spannende Studie dazu, mit mehr als einer | |
Millionen Datenpunkten, die belegt, dass diesen Einwanderern genauso | |
schnell der soziale Aufstieg gelingt, wie deutschen, italienischen und | |
irischen Einwanderern vor 100 Jahren. Trotzdem gibt es Spannungen zwischen | |
den Gruppen. Das manifestiert sich in den USA insbesondere in der | |
Sklaverei, im „Jim Crow“-System der Rassentrennung und in einem | |
jahrhundertealten System der harten Dominanz. Dieses System hat einen | |
Widerhall in der Gegenwart. Es erklärt, warum es tatsächlich | |
Nachbarschaften gibt, die extrem arm sind, in denen es eine sehr hohe | |
Kriminalitätsrate gibt, in der Menschen von der Mehrheitsgesellschaft | |
ausgeschlossen sind. Dieses Problem ist ein wichtiger Teil der Realität der | |
heutigen USA. Aber es ist nicht die modale Erfahrung von schwarzen | |
Amerikanern. Der durchschnittliche Afroamerikaner lebt heute in einem | |
Vorort, ist ein paar Jahre an die Uni gegangen, hat einen Job in einem Büro | |
oder als Lehrer oder in einem Krankenhaus. | |
Trotz allem werden insbesondere in den vergangenen zwei Jahren die Stimmen | |
lauter die sagen, es wird sich nie etwas ändern. | |
Es gibt weiterhin ein Gefälle bei Löhnen und vor allem bei Vermögen, das | |
sich aus der Geschichte ergibt. Es gibt natürlich auch Diskriminierung und | |
Rassismus. Aber die Idee, dass die USA heute noch so rassistisch seien wie | |
1960 oder auch nur 1990, als die meisten Amerikaner noch dagegen waren, | |
dass sich Menschen verschiedener Ethnien gegenseitig heiraten, das ist | |
nicht nur unrealistisch, es verhöhnt auch diejenigen Menschen, die eine | |
noch viel schlimmere Form der Ungerechtigkeit erlebt haben. | |
Interessanterweise ist diese extrem pessimistische Sicht unter Weißen | |
weitaus beliebter als unter Schwarzen und Latinos. Da gibt es einerseits | |
Herrn Trump, der 2016 gesagt hat, an schwarze Wähler gerichtet – wählt | |
mich, ihr habt sowieso nichts zu verlieren. Es gibt aber auch die | |
hochgebildeten weißen Absolventen prestigeträchtiger Hochschulen, die aus | |
der Selbstgeißelung eine Art neuer Identität geschöpft haben. | |
Um den Bogen zur Ukraine zu spannen. Entspringt der Konflikt in den Ukraine | |
ebenfalls dem Problem der Diversität, ist das eine ethno-nationalistischer | |
Konflikt? | |
Nein. Putin hatte einen ethno-nationalistischen Blick auf die Ukraine, er | |
sieht die Ukraine als Teil des ethnischen Russland. In der Realität sind | |
nationale Unterschiede aber komplizierter und beruhen auch auf einer | |
gewachsenen Kultur. Ethnisch gesehen sind Österreicher nicht anders als | |
Deutsche und trotz einiger seltsamer Eigenheiten ist auch die Sprache | |
dieselbe. Und doch wäre es ein Fehler zu denken, es gebe keine kulturellen | |
Unterschiede zwischen Österreich und Deutschland. Das erklärt sich aus | |
einem gewachsenen kulturellen Bewusstsein dafür, wie diese Länder in den | |
letzten 100 Jahren geprägt worden sind. Insofern halte ich den ungeheuren | |
Patriotismus, den die Ukrainer an den Tag legen, um sich gegen den Angriff | |
Putins zu wehren, für einen Beweis der Stärke eines Patriotismus, der eben | |
nicht nur ethnisch behaftet ist. | |
1 May 2022 | |
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## AUTOREN | |
Sebastian Moll | |
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