# taz.de -- Buch über den Zustand der US-Demokratie: Melodie des Faschismus | |
> Von 9/11 bis zum Sturm auf das Kapitol: Der Pulitzer-Preisträger Evan | |
> Osnos versucht die tiefe Zerrissenheit der USA zu verstehen. | |
Bild: Laut Osnos gibt es trotz allem Hoffnung für die USA | |
Als Donald Trump im Juni 2015 seine Kandidatur für die US-Präsidentschaft | |
bekannt gab, hielt das Gros der US-Öffentlichkeit den Reality-TV-Star noch | |
für einen Witz. Man machte sich über den Pomp lustig, mit dem er sich in | |
der Öffentlichkeit präsentierte, über seine peinliche Unkenntnis in innen- | |
und außenpolitischen Dingen und über seine mäandernden, ziellosen und oft | |
wirren Reden. | |
Evan Osnos erhielt in jenem Sommer von seinem Chefredakteur beim Debatten- | |
und Reportagemagazin The New Yorker den Auftrag, sich [1][dieses | |
Trump-Phänomen] einmal genauer anzuschauen. Doch er solle sich bitte | |
beeilen, hieß es, das Ganze sei sicher schnell wieder vorbei. | |
So machte sich Osnos auf zu einer der mittlerweile berüchtigt gewordenen | |
Trump-Kundgebungen. Doch was Osnos dort erlebte, erinnert er sich heute, | |
ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. „Ich war damals das Stinktier auf | |
der Gartenparty. Mir war nicht im Geringsten zum Lachen zumute.“ | |
Osnos war damals gerade aus China zurückgekommen, wo er sechs Jahre lang | |
als Korrespondent des New Yorker über ein autoritäres Regime berichtet | |
hatte. Zudem, sagt er, habe seine Familiengeschichte ihn sicher stärker | |
sensibilisiert als viele andere Amerikaner. Die Familie seines Vaters war | |
vor den Nazis aus Polen geflohen. „Ich erkenne die Melodie des Faschismus, | |
wenn ich sie höre.“ | |
## Eine Ursachenforschung | |
Osnos erkannte, dass Trump einen Nerv in Amerika traf und ganz gleich, ob | |
Trump nun gewählt werden würde oder nicht, wollte er herausbekommen, wie | |
das Land an einen Punkt geraten war, an dem sich rechtspopulistische | |
Strömungen derart unverblümt zu erkennen geben. Also schickte er sich an, | |
darüber ein Buch zu schreiben, ein Projekt, das nach 2016, wie Osnos sagt, | |
von der Warnung vor einer möglichen Katastrophe zur Ursachenforschung einer | |
eingetretenen Katastrophe wurde. | |
Osnos' gerade auf Deutsch erschienenes Buch „Mein wütendes Land“ ist weder | |
das einzige noch das erste Buch, das den Aufstieg des Rechtspopulismus in | |
der westlichen Welt und speziell in den USA zu verstehen versucht. Die | |
Bücher von Timothy Snyder und Yascha Mounk kommen in den Sinn, auf Deutsch | |
ist gerade ein Werk von Jürgen Kaube und André Kieserling zur „gespaltenen | |
Gesellschaft“ erschienen. Die Liste lässt sich fortsetzen. | |
Diesen Analysen hat Osnos auf soziologischer Ebene nichts Bahnbrechendes | |
hinzuzufügen. Der Verlust von Stolz und Würde der männlichen, weißen | |
Arbeiterschicht, das Versagen von einst gemeinschafts- und | |
identitätsstiftenden Institutionen, der Aufstieg der sozialen Medien, die | |
neoliberale Fetischisierung des Individualismus und die immer dramatischer | |
anwachsende soziale Ungleichheit – all das ist schon oft als Ursache für | |
den Rechtsruck in unseren Gesellschaften sowie deren Anfälligkeit für | |
rechte Parolen identifiziert worden. | |
Doch es ist auch überhaupt nicht Osnos’ Ehrgeiz, mit einer profunden neuen | |
Populismus-Theorie aufzuwarten. Osnos ist in erster Linie Journalist und | |
Erzähler. Er will greifbar und persönlich machen, was in Amerika passiert, | |
und das ist ihm meisterhaft gelungen. | |
## Drei Gemeinden | |
Osnos schaut sich an, was in drei Gemeinden in den USA in den vergangenen | |
20 Jahren vor sich gegangen ist. Es sind drei Gemeinden, die er in- und | |
auswendig kennt und mit deren Menschen er sich spürbar verbunden fühlt. Und | |
so kommt in den mehr als 600 Seiten des Buches bei allem Entsetzen über den | |
Rechtsruck des Landes auch immer wieder Osnos’ Empathie für die Menschen | |
und ihre Lebenslagen durch. | |
So erzählt er herzerweichend von Sydney Muller aus dem Bergarbeiter-Ort | |
Clarksburg in West Virginia, wo Osnos als junger Reporter einst seine | |
Karriere begonnen hat. Von der beruflichen Aussichtslosigkeit in seinem | |
Heimatort in die Armee gedrängt, zeichnet sich Muller in Afghanistan als | |
Kriegsheld aus. Wieder zu Hause, treiben ihn jedoch seine Kriegstraumata in | |
die Drogenabhängigkeit und schließlich ins Gefängnis. | |
Auf der South Side von Chicago, der am stärksten segregierten Großstadt der | |
USA, können sich die Eltern von Reese Clark das Geld für den Bus nicht mehr | |
leisten, damit Reese eine ethnisch gemischte, bessere Schule besuchen kann | |
als die in seiner Nachbarschaft. Reese geht auf die örtliche Public School, | |
gerät in das Fahrwasser von Gangs und Drogenhandel und landet im Gefängnis. | |
Als er nach Jahren entlassen wird, versucht er sich ein bescheidenes | |
Immobiliengeschäft aufzubauen, doch die Krise von 2008 zerstört alle seine | |
Träume. | |
In der wohlhabenden Heimatstadt von Osnos, Greenwich im Bundesstaat | |
Connecticut, explodieren die Vermögen mit der Bankenderegulierung und dem | |
Aufkommen von Hedge-Fonds und Private Equity dermaßen, dass der Reichtum | |
obszön wird. Der Arzt Joe Skowron erliegt der Versuchung des schnellen | |
Geldes und wandert wegen Insider-Handels ins Gefängnis. Wieder entlassen | |
und geläutert, wird er zum lautstarken Vorkämpfer für soziale Gerechtigkeit | |
in den USA. | |
## Tag der Gewalt | |
Alle diese Geschichten, die Osnos parallel zum politischen Zeitgeschehen | |
erzählt, [2][münden in den 6. Januar 2021], an dem sich die aufgestaute | |
amerikanische Wut in einem versuchten Staatsstreich entlädt. Osnos | |
beobachtet die Gewalt in Washington an diesem Tag mit Beklemmung, ist aber | |
nicht schockiert. Nachdem er so lange, so nahe das amerikanische Leben | |
betrachtet hat, konnte er nicht überrascht sein. | |
Das Amerika, das Osnos beschreibt, ist eines der zerplatzten Träume und der | |
tiefen Frustration von Menschen aus allen Schichten über den | |
Kontrollverlust über ihr Schicksal. Und doch hat Osnos Hoffnung für das | |
zornige, zerrissene Land. Er glaubt noch immer an die Fähigkeit der USA, | |
sich zu erneuern, immer wieder von vorne anzufangen. Auch, wenn er zugibt, | |
dass das nicht mit einer Wahl getan ist und auch nicht mit dem Verschwinden | |
von Donald Trump. | |
13 Nov 2022 | |
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## AUTOREN | |
Sebastian Moll | |
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