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# taz.de -- Buch von Richard Ovenden: Vernichtet Keilschrift und Twitter
> Richard Ovenden ist Direktor der Bodleian Library in Oxford. Er berichtet
> über das Zerstören, um Geschichte auszulöschen.
Bild: Die Nationalbibliothek von Sarajevo und ihre Bestände wurden zu Beginn d…
Wenn es um die Geschichte des Erinnerns und des Wissens geht, dann spielen
seit Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte schriftliche Zeugnisse eine
überragende Rolle. Weil das so ist, sind es auch diese Zeugnisse, deren
Erhalt oder Zerstörung zu bestimmten Anlässen geboten erscheint.
Zerstörung, um eine Erinnerung zu vertilgen und durch eine neue zu
ersetzen, Erhalt, um anhand des Wissens neue Erkenntnisse zu gewinnen. Es
ist ein Wettlauf zwischen Vernichtung und Bewahrung, bis heute wechseln die
Gewinner dieses Rennens.
Richard Ovenden, als Direktor der Bodleian Library in Oxford Chef einer der
berühmtesten Bibliotheken der Welt, hat die Geschichte dieses zermürbenden
Wettstreits nachgezeichnet. Er hat dankenswerterweise gar nicht erst
versucht, eine Gesamtgeschichte zu präsentieren, denn wie sollte das
angesichts der Zerstörungen von Bibliotheken und Archiven möglich sein,
infolge derer unser Wissen über die untergegangenen Inhalte zwangsläufig
limitiert sein muss. Ovenden präsentiert stattdessen in seinem Buch
historische Essays, umfassend fast 3.000 Jahre der Bibliotheksgeschichte.
Es beginnt in einem Palast in Mesopotamien und endet beim Versuch,
Twitter-Nachrichten zu archivieren. Das Ergebnis, um es vorwegzunehmen, ist
ein glänzendes Buch, das sich wie eine Kriminalgeschichte verschlingen
lässt – mit dem Unterschied, dass diese hier leider einer furchtbaren
Realität folgt.
Ovendens präzise Einordnung der Zerstörung beginnt in einem untergegangenen
Palast in Ninive im heutigen Irak. Hier grub der Amateurarchäologe Claudius
James Rich um 1820/21 die ersten Keilschrifttafeln aus. Tausende sollten
folgen, gelagert in großen Kammern – man hatte die Bibliothek Assurbanipals
entdeckt, des Herrschers über das Assyrerreich im 7. Jahrhundert vor
unserer Zeitrechnung. Es entfaltete sich das Wissen um die Administration
der Assyrer, um gehandelte Waren, ja sogar um Literatur, Religion und
Medizin.
Forschungen in den letzten Jahrzehnten ergaben, dass diese Tafeln mit
eingeritzten Zeichen teilweise aus anderen, geraubten Bibliotheken
stammten, die sich der Assyrerkönig einverleibt hatte. Zerstört wurde die
Bibliothek im Jahr 612 v. u. Z.durch Babylonier und Meder. Ihre Krieger
zerschmetterten viele der Tafeln. Offenbar sollte nichts vom Wissen der
Assyrer bleiben – und doch haben sich viele der schriftlichen Zeugnisse
unter dem Schutt bis zum heutigen Tage bewahrt. So ist die Bibliothek
Assurbanipals zugleich Symbol des Raubs, der Bewahrung und der Zerstörung.
Im nächsten Schnitt verharrt Ovenden beim größten Wissensspeicher der
antiken Welt, der berühmten Bibliothek von Alexandria. Auch ihre
Administratoren beließen es nicht beim Wissen um ihre eigene Zivilisation,
sondern sie sammelten systematisch und für die Betroffenen nicht immer ganz
freiwillig das Papyrus anderer Gesellschaften in Abschriften. Forscher aus
der damals bekannten Welt besuchten die Sammlung, um neues Wissen zu
erschaffen. Anders als lange vermutet ging die Bibliothek von Alexandria
wohl nicht bei einem Großbrand unter, sondern verschwand durch einzelne
Brände und fortdauernde Vernachlässigung, zumal Papyrus nicht sehr
altersbeständig und sehr leicht brennbar ist.
Die Reise durch Zerstörung und Wiederaufbau setzt sich fort in den
englischen Bibliotheken während der Reformation, als unbotmäßige Werke zu
Spottpreisen bei Altpapierhändlern landeten, weil die alten Wahrheiten
nicht den neuen Glaubenssätzen entsprachen – ein immer wiederkehrendes
Motiv bei der Säuberung von Büchersammlungen.
Zerstören, um Geschichte auszulöschen: Das war wohl auch Motiv der
britischen Soldaten, als sie im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg die
Library of Congress in Washington in Brand steckten. Maßloser deutscher
nationaler Chauvinismus gilt als Ursache für die gleich doppelte Zerstörung
der Bibliothek im belgischen Löwen mit ihren Hunderttausenden wertvollen
Büchern im Ersten und im Zweiten Weltkrieg. Und das Auslöschen einer ganzen
Kultur und ihrer Menschen war ganz sicher der Grund dafür, dass die Nazis
in Osteuropa jüdische Archive und Bibliotheken entweder beschlagnahmten
oder gleich zerstörten. Ovenden setzt in seinem Kapitel „Die Papierbrigade“
den Jüdinnen und Juden, die sich in Wilna verzweifelt darum bemühten, die
Zeugnisse ihrer Existenz zu bewahren, ein Denkmal. Tatsächlich haben
beträchtliche Bestände die Vernichtung überstanden und stehen heute im New
Yorker YIVO.
Das Auslöschen des Gedächtnisses der vermeintlichen Feinde: Dies ist keine
überwunden geglaubte Geschichte. Offen ausgesprochen wurde sie von
serbischen Nationalisten bei der Vernichtung der National- und
Universitätsbiliothek von Bosnien und Herzegowina in Sarajevo. Das war
1992, vor gerade einmal 30 Jahren.
Aber Zerstörung ist nicht alles: Und so kommt Ovenden auf den Gründer
seiner Oxforder Bibliothek zu sprechen, begründet durch Sir Thomas Bodley
am Ende des 16. Jahrhunderts. „Endlich beschloss ich, mich vor der
Bibliothekstür in Oxford niederzulassen, da ich zutiefst überzeugt war,
dass ich mich kaum zu einem besseren Zweck betätigen konnte, als diesen Ort
wieder der öffentlichen Nutzung zuzuführen“, heißt es in Bodleys
Autobiografie. Damals waren die Folianten mit eisernen Ketten an den
Regalen befestigt, um Diebstahl zu verhindern. Einige dieser Kostbarkeiten
kann man heute noch lesen.
Heute wird Wissen nicht länger in dicken Folianten mit lederüberzogenen
Holzdeckeln gesammelt. Es findet sich frei [1][flottierend in der digitalen
Welt], entsteht, wird konsumiert, verschwindet wieder. Mit einiger Skepsis
blickt der Oxforder Bibliothekar Richard Ovenden den Bemühungen
privatwirtschaftlicher Initiativen zur Bewahrung auch dieses flüchtigen
Wissens entgegen. Ohne starke öffentliche Institutionen, so fürchtet er,
könnte es sich um keine allzu langlebigen Versuche handeln, das Wissen auch
der Twitter-Generation zu bewahren. Dass es dieses zu bewahren gilt, steht
für Ovenden außer Frage. Was wäre eine Twitter-Nachricht prinzipiell
anderes als eine assyrische Tontafel mit eingeritzten Zeichen?
3 May 2022
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## AUTOREN
Klaus Hillenbrand
## TAGS
Krieg
Geschichte
Wissen
Rezension
Bibliothek
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Diversität
Restitution
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