| # taz.de -- Postkoloniale Theorie und Antisemitismus: Die dunkle Kehrseite | |
| > Die Postcolonial Studies stehen seit dem 7. Oktober wieder verstärkt in | |
| > der Kritik. Die Frage ist, wie antisemitisch sie sind. Eine Analyse. | |
| Bild: Dekolonialisieren mit Palituch auf der „Decolonize Universities“-Demo… | |
| Die Postcolonial Studies in Gänze des Antisemitismus zu bezichtigen, ist | |
| ziemlich absurd. Viel zu heterogen und divers sind die Ansätze, die sich | |
| seit den letzten dreißig bis vierzig Jahren unter diesem Label tummeln. Die | |
| unter dem Sammelbegriff subsumierten Bücher, Aufsätze und Polemiken | |
| umfassen literatur- und sozialgeschichtliche, gesellschaftstheoretische und | |
| aktivistische Ansätze, die aus verschiedenen Weltregionen stammen. | |
| Ihre Perspektiven sind so transnational wie transdisziplinär, umfassen | |
| Literatur- und Sozialwissenschaften, Geschichte und politische Ökonomie und | |
| fußen auf unterschiedlichen Mischungen von marxistischen und | |
| poststrukturalistischen Grundannahmen. | |
| Gemeinsam ist ihnen sicher nicht der Antisemitismus, was sie eint, ist | |
| vielmehr der Versuch, die koloniale Beschaffenheit von Geopolitik und | |
| Sprache, Gesellschaft und Wissensproduktion zu erforschen. Das Präfix | |
| „post-“ bezeichnet dabei nicht einfach die Zeit „nach dem Kolonialismus�… | |
| sondern es stellt die Frage nach Kontinuitäten kolonialer Herrschaft: in | |
| der ökonomischen Ausbeutung, wie die Dependenztheorien der 1960er und 70er | |
| Jahre sie analysiert haben, in der kulturellen Unterordnung, wie die South | |
| Asian Subaltern Studies um den Historiker Ranajit Guha sie beschrieben | |
| haben, in der Wissensproduktion, wie Edward Said und Gayatri Chakravorty | |
| Spivak sie herausgearbeitet haben. | |
| ## Massiv in der Kritik | |
| Die Postcolonial Studies haben wichtige Beiträge zum Verständnis der | |
| Moderne und ihrer dunklen Kehrseite, des Kolonialismus, geliefert. | |
| Angesichts des globalen Ausmaßes der europäischen Kolonialgeschichte | |
| erscheint ein solcher Fokus mehr als angebracht. Umso bitterer, dass die | |
| Postcolonial Studies ausgerechnet in dem Moment über das wissenschaftliche | |
| Feld hinaus Bekanntheit erlangen, als sie massiv in der Kritik stehen. | |
| Die Vorwürfe des Antisemitismus wurden schon während der Debatte um einen | |
| Auftritt des [1][Kameruner postkolonialen Theoretikers Achille Mbembe] | |
| diskutiert und während der [2][documenta fifteen] erneuert. Sie sind nicht | |
| gänzlich unbegründet. | |
| Denn es gibt sie, die antisemitischen Aspekte in den Schriften der post- | |
| und dekolonialistischen Theorie, und sie gehen erstens oft mit einer | |
| Ausblendung der Shoah einher, sowohl für die Idee der Moderne als auch für | |
| die Entstehung des Staates Israel. Zweitens wird nicht selten der Terror | |
| des Islamismus unterschätzt oder gar bagatellisiert. | |
| ## Politisch motivierte Übertragung | |
| Gayatri C. Spivaks langer Aufsatz „Can the Subaltern Speak?“ (1988) gehört | |
| zu den kanonisierten Texten der Postcolonial Studies. Darin führt sie die | |
| von Antonio Gramsci aufgeworfene Frage nach den Möglichkeiten der | |
| Ausgegrenzten fort, sich Gehör zu verschaffen. Sie diskutiert das Beispiel | |
| der jungen Frau Bhuvaeswari Bhaduri, die sich 1926 sechzehn- oder | |
| siebzehnjährig das Leben nahm. | |
| Die junge Inderin brachte sich um, stellte aber sicher, dass ihr Suizid | |
| nicht als Folge „einer verbotenen Leidenschaft“ interpretiert werden | |
| konnte. So erlangte sie im Tod noch Handlungsmacht. Spivak will die Tat | |
| politisch gelesen wissen, als Statement zum Widerstand. | |
| In einer Relektüre ihres Textes überträgt sie 2014 ihr Beispiel dann auf | |
| eine Situation, die sie für die gegenwärtig frappierendste kolonialer | |
| Herrschaft hält: die Situation in Israel und Palästina. Sie schreibt über | |
| palästinensische Selbstmordattentäterinnen und plädiert für ein Verständnis | |
| im doppelten Sinne: Sie möchte verstehen, aber auch Verständnis im Sinne | |
| von Empathie schaffen. Denn in beiden Fällen ginge es um „das Bedürfnis, | |
| die Normalität kollektiv zu verändern“. | |
| Dass die Attentäterinnen nicht nur Suizid, sondern auch Morde begehen, | |
| erscheint Spivak nicht nur nachvollziehbar. Sie eröffnen ihr eine | |
| Perspektive des antikolonialen Widerstands, die sie für nicht weniger | |
| interessant hält als das Beispiel von Bhaduri. Morde an Menschen | |
| wohlgemerkt, die vor allem deshalb umgebracht werden, weil sie Jüdinnen und | |
| Juden sind. Eine solche Bagatellisierung islamistischen und antisemitischen | |
| Terrors ist kein Einzelfall. | |
| ## Dekolonisieren mit Chomeini? | |
| Der argentinische Literaturwissenschaftler und dekolonialistische | |
| Theoretiker Walter D. Mignolo spricht sich in seinem Buch „Epistemischer | |
| Ungehorsam“ (2006, Dt. 2012) für eine Loslösung vom „westlichen Denken“ | |
| aus. Die europäischen Theorien der Befreiung seien dafür nicht ausreichend, | |
| sie hätten den Kolonialismus nicht wirklich mitgedacht. | |
| Ist das in vielen Fällen wohl zutreffend, muss die Auswahl der | |
| Denker:innen, die Mignolo dann als Gewährsleute für seine dekoloniale | |
| Option heranzitiert, doch irritieren. Dazu gehören nämlich nicht nur linke | |
| Antikolonialisten wie Aimé Césaire und Frantz Fanon. Zu den Denkern, die | |
| die „Dekolonialität klar formuliert“ hätten, zählt Mignolo in einer | |
| Nebenbemerkung auch den iranischen Revolutionsführer Ajatollah Chomeini. | |
| Chomeini ist bekanntlich für die Inhaftierung Zehntausender und die | |
| Exekution von Tausenden Gegner:innen der Islamischen Revolution | |
| verantwortlich. Mehrfach hatte er Israel als „Krebsgeschwür“ bezeichnet und | |
| zu dessen Vernichtung aufgerufen. | |
| ## Wüste Verschwörungstheorien | |
| Ein weiterer dieser „islamischen Denker“, auf die Mignolo sich en passant | |
| beruft, ist Sayyid Qutb (1906–1966). Der islamistische Theoretiker hatte | |
| die ägyptische Muslimbrüderschaft stark beeinflusst und in seinem Pamphlet | |
| „Unser Kampf mit den Juden“ (1950) wüste Verschwörungstheorien verbreitet. | |
| Diese gipfeln in der Behauptung, „Allah hat Hitler gebracht, um sie [die | |
| Juden] zu beherrschen“. Chomeini und Qutb spielen im Werk Mignolos, das | |
| muss zu seiner Verteidigung betont werden, ansonsten keine Rolle. Umso mehr | |
| muss es daher verwundern, dass er deren Schriften neben anderen | |
| dekolonialen Perspektiven als entscheidend „für die Entwürfe einer globalen | |
| Zukunft“ einstuft. | |
| Mit Spivak und vielen anderen antiimperialistischen Linken teilt Mignolo | |
| die Einschätzung vom kolonialen Charakter Israels. Die Entstehung des | |
| Staates Israel beschreibt er als Effekt der Anbindung säkularer Jüdinnen | |
| und Juden an euro-amerikanische, politische und ökonomische Praktiken, kurz | |
| den „imperialen Kapitalismus“. Die Shoah taucht in dieser Erzählung nicht | |
| auf. | |
| Deutlich weiter geht der puertorikanische Soziologe Ramón Grosfoguel, der | |
| wie Mignolo ebenfalls der dekolonialistischen Theorie aus Lateinamerika | |
| zuzurechnen ist. Für ihn sind die Jüdinnen und Juden nicht einfach nur | |
| weiße Imperialist:innen. Vielmehr stünden die jüdischen Israelis für die | |
| Kontinuität einer „kolonial rassistischen Ideologie“. Der „Hitlerismus�… | |
| zurück, und zwar dieses Mal, um Palästinenser:innen zu jagen. | |
| ## Relativierung von Terror | |
| Anders als bei Spivak und Mignolo muss man bei Grosfoguel nicht lange | |
| heruminterpretieren: Er unterstützt die „Boycott, Divestment, | |
| Sanctions“-Bewegung, hält Israel für einen „rassistischen/kolonialen Staa… | |
| und behauptet, dieser betreibe seit 1948 eine „ethnische Säuberung“. In | |
| einem Text vom 1. Februar dieses Jahres, veröffentlicht auf der Seite der | |
| „Islamic Human Rights Commission“, nennt er Gaza das „Warschauer Ghetto d… | |
| 21. Jahrhunderts“ und behauptet, die Hamas habe am 7. Oktober vor allem das | |
| israelische Militär und nicht Zivilist:innen attackiert. | |
| Selbst Edward Said übrigens, der palästinensische Intellektuelle, der mit | |
| seiner Studie „Orientalism“ (1978) die Postcolonial Studies mitbegründet | |
| hatte, hat sich zu solch einer Relativierung islamistischen Terrors nie | |
| hinreißen lassen. Er bedauerte die Interpretationen seines Werkes, die | |
| dieses als „eine Art Bekenntnis zu nationalistischem Eifer“ missverstanden | |
| hätten. | |
| Er wandte sich auch gegen die „vermeintlich antiwestliche Stoßrichtung“, | |
| die „Orientalism“ in der Rezeption nachgesagt wurde. Allerdings hatte auch | |
| er in „The Question of Palestine“ (1979) die fragliche Gleichsetzung von | |
| Jüdinnen und Weißen nahegelegt. Die zionistischen Siedler in Palästina | |
| hätten sich zu einer Analogie der „weißen Siedler in Afrika“ verwandelt. | |
| Doch Jüdinnen und Juden als Weiße zu klassifizieren, leugnet nicht nur die | |
| [3][Kontinuität des Antisemitismus]. Es wird auch einem ureigenen Anspruch | |
| der Postcolonial Studies nicht gerecht, der diese über die Jahrzehnte | |
| geprägt hat: die niemals statische Heterogenität und Hybridität kollektiver | |
| Identifizierungen herauszuarbeiten. | |
| 4 Mar 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Debatte-um-Historiker-Achille-Mbembe/!5685526 | |
| [2] /Antisemitismus-auf-der-documenta-fifteen/!5860742 | |
| [3] /Geschichte-des-Antisemitismus/!5983572 | |
| ## AUTOREN | |
| Jens Kastner | |
| ## TAGS | |
| Antisemitismus | |
| Islamismus | |
| Terrorismus | |
| Podcast „Vorgelesen“ | |
| Befreiung | |
| Postkolonialismus | |
| Frantz Fanon | |
| Theorie | |
| Rechter Populismus | |
| Postmoderne | |
| Erinnerung | |
| Israel | |
| Postkolonialismus | |
| Antisemitismus | |
| Antisemitismus | |
| Bildende Kunst | |
| Antisemitismus | |
| Schlagloch | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Musik | |
| Lesestück Recherche und Reportage | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Erfolge der extremen Rechten: Regression und Privileg | |
| Warum war die extreme Rechte bei den Europawahlen so erfolgreich? Als ein | |
| Erklärmodell bietet sich die Abwehr des sozialen Wandels an. | |
| Buch über postmoderne Theorie: Von Paris nach Algier | |
| Der Ideengeschichtler Onur Erdur untersucht in Porträts von Pierre Bourdieu | |
| bis Jacques Rancière die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie. | |
| „Kolonialismus erinnern“ im Berliner HKW: Erkämpfte Räume verteidigen | |
| Im Haus der Kulturen der Welt wurde das Berliner Konzept „Kolonialismus | |
| erinnern“ vorgestellt. Propalästinensische Aktivisten versuchten zu kapern. | |
| Kritik an Postkolonialen Theorien: Revanchistischer Kulturkampf | |
| Kritik an postkolonialen Theorien hat Konjunktur. Sie mäandert zwischen | |
| Bauchgefühl und revanchistischer Identitätspolitik. Zeit für eine | |
| Verteidigung. | |
| Postkolonialismus und Shoah-Forschung: Wege aus der Dichotomie | |
| Seit dem 7. Oktober tobt ein Pingpong der Vorwürfe: „Ihr seid Antisemiten“ | |
| versus „Ihr seid Rassisten“. Ein Plädoyer für mehr Differenzierung. | |
| Neue Fragen im Einbürgerungstest: Kein Mittel gegen Antisemitismus | |
| Mit den veränderten Einbürgerungstests wird der Antisemitismus in | |
| Deutschland kaum weniger werden. Deutlich zielführender sind Aufklärung und | |
| Bildung. | |
| Gutachten zu Antisemitismusklauseln: Grundsätzlich rechtens | |
| Der Rechtswissenschaftler Christoph Möllers legt ein Gutachten zu | |
| Antisemitismusklauseln in der Kultur vor. Gesetzliche Grundlagen hält er | |
| für notwendig. | |
| Kunst nach dem 7. Oktober: Im Notfall Trial and Error | |
| Der Kulturbetrieb in Deutschland ist an einem Tiefpunkt. Es wird aggressiv | |
| gestritten, verbal aufgerüstet, zum Boykott aufgerufen. Was tut not? | |
| Antisemitismus an Bildungseinrichtungen: Jede*r Zehnte ist mobilisierbar | |
| Unter Studierenden gibt es genau so viel Antisemitismus wie im Rest der | |
| Bevölkerung. Bildungsministerin Stark-Watzinger will dagegen vorgehen. | |
| Holocaust und Kolonialismus: Die Mythen der Anderen | |
| Ein Blick auf deutsche Befindlichkeiten von Togo aus: Beobachtungen bei | |
| einer Tagung zur Erinnerungskultur an der Universität Lomé. | |
| Judaistin über den Nahostkonflikt: „Da war Verdrängung am Werk“ | |
| Susannah Heschel hat postkoloniale Theorie in die Judaistik eingeführt. | |
| Nach dem 7. Oktober kritisiert sie die Linke und erinnert an die | |
| Aufklärung. | |
| Postkoloniale Popwelt: Haltungsfragen um Israel | |
| In der englischsprachigen Popwelt verschränkt sich die generelle | |
| Protesthaltung mit postkolonialem Weltbild. Was folgt daraus 2024, auch | |
| hierzulande? | |
| Debatte um die Gedenkkultur: Diffuse Erinnerung | |
| Postkoloniale Anliegen zu thematisieren ist wichtig. Doch was bringt es, | |
| dafür die Beispiellosigkeit der Shoah in Frage zu stellen? |