# taz.de -- Judaistin über den Nahostkonflikt: „Da war Verdrängung am Werk�… | |
> Susannah Heschel hat postkoloniale Theorie in die Judaistik eingeführt. | |
> Nach dem 7. Oktober kritisiert sie die Linke und erinnert an die | |
> Aufklärung. | |
Bild: Bischof James Shannon, Rabbi Abraham Heschel, Dr. Martin Luther King und … | |
wochentaz: Frau Heschel, wie haben Sie den 7. Oktober erlebt? | |
Susannah Heschel: Ich bin nachts aufgewacht, habe kurz auf mein Telefon | |
geschaut und erschrak über die Nachrichten. Über den Tag kamen weitere | |
dazu. Es war ein Samstag, ich ging in die Synagoge, schaute mich um und | |
dachte: Ihr wisst noch gar nicht, was passiert ist. Alles ist vorbei, die | |
Zeit der Unschuld ist vorbei. Ich war niedergeschmettert. Ich habe mir | |
überlegt, gleich am Montag ein Treffen mit den Dozent*innen meines | |
Fachbereichs Judaistik am Dartmouth College zu organisieren. Aber dann rief | |
mich mein Freund Tarek El-Ariss an, der Professor für Nahoststudien ist. Er | |
meinte: Du musst auch die Studierenden einladen. Am Montag zeigte sich | |
schnell, dass der Raum zu klein war für den Andrang. Wir hatten aber einen | |
Livestream. Am Dienstag gab es eine zweite Aussprache, diesmal in einem | |
größeren Raum. | |
Wie war die Stimmung? | |
Alle waren bestürzt. Ein deutscher Masterstudent rief mich an. Er war am | |
Wochenende auf einer Konferenz an der University of Virginia gewesen. Als | |
dort die Nachrichten über den Überfall der Hamas eintrafen, wurde auf dem | |
Campus gefeiert. Tarek erzählte mir, was er im arabischen Twitter las. Er | |
sagte: Es ist sehr schlimm, so schlimm war es noch nie. Auch das war | |
schockierend. Eine Gräueltat war verübt worden – und die Leute feierten | |
sie. Wann gibt es so was? | |
Ist der Nahostkonflikt für junge Leute in den USA ein symbolischer | |
Konflikt, auf den andere Probleme projiziert werden? | |
Ja, Israel wird da zum Symbol für etwas anderes. Und es gibt eine | |
Krisenstimmung und eine gewisse Hysterie. Trump hat die Leute hysterisch | |
gemacht. Das macht nun auch die Linke. Zu Trumps Methode gehört das | |
Shaming, Leute anzuprangern und sich über sie lustig zu machen. Er machte | |
Witze über einen Journalisten mit einer Behinderung, und die Leute machten | |
begeistert mit. Nun werden Israel und Juden an den Pranger gestellt, und | |
die Linke will sich nicht eingestehen, dass ihre Politik von den Rechten | |
kommt. | |
Viele Progressive in den USA scheinen vergessen zu haben, dass es eine | |
gemeinsame afroamerikanisch-jüdische Geschichte der Bürgerrechtsbewegung | |
gibt. Ihr Vater etwa, Rabbi Abraham Heschel, nahm 1965 mit Martin Luther | |
King am dritten Marsch von Selma nach Montgomery teil. | |
Das wurde zum Teil vergessen, ja. Entscheidender ist, dass die | |
amerikanische Linke die Bürgerrechtsbewegung nicht für progressiv und links | |
genug hält. Es gibt da eine große Ablehnung. Es gab Martin Luther King – | |
und es gab Malcolm X. | |
Die Progressiven kommen aus dem Malcolm-X-Lager. | |
Richtig. Und sie vergessen, was Bernice Reagon, eine der Anführerinnen des | |
Civil Rights Movement, gesagt hat: Wenn in einer Koalition alle einer | |
Meinung sind, ist es keine Koalition. Das ist heute das Problem, unter | |
anderem bei Black Lives Matter. Juden, die Zionisten, Frauen, die | |
Zionistinnen sind, halten sie für inakzeptabel. Dann ist es aber keine | |
Koalition. Wem soll das nützen? | |
[1][An vielen amerikanischen Universitäten] gab es so hässliche Szenen wie | |
in Virginia. Bei Ihnen im Dartmouth College wurde vorbildlich diskutiert? | |
Wir haben der Auseinandersetzung eine Tonalität gegeben: Wir haben | |
respektvoll miteinander gesprochen. Wir waren ruhig. Als Reaktion darauf | |
waren auch die Studierenden ruhig, respektvoll und höflich. Ich fand es | |
allerdings irritierend, dass sich einige Studierende vor allem mit dem | |
Wortlaut von Statements befassten, die es nun abzugeben gelte. Ich denke, | |
da war Verdrängung am Werk. Sie wussten einfach nicht, wie sie mit ihren | |
Gefühlen umgehen sollten. | |
Die Präsidentinnen von Harvard, dem Massachusetts Institute of Technology | |
und der University of Pennsylvania wurden von einem Kongress-Komitee | |
befragt. Sie waren nicht in der Lage, die Frage, ob Aufrufe zum Genozid an | |
Juden gegen die Regeln ihrer Universitäten verstoßen, mit einem klaren Ja | |
zu beantworten. Inzwischen trat die Präsidentin der Upenn zurück, nun auch | |
[2][Claudine Gay von Harvard.] | |
Die Präsidentinnen sagten, sie seien in eine Falle der Republikaner | |
getappt. Das Problem mit den Republikanern ist: Sie wenden sich lautstark | |
gegen jegliche Zensur, aber dann beklagen sie sich darüber, wenn | |
Studierende die BDS-Kampagne gegen Israel unterstützen. | |
„Cancel Culture“, das sind immer die anderen. | |
Exakt. Bei dem Hearing konnte man sehen, dass die Präsidentinnen solche | |
Befragungen nicht gewohnt sind. Aber auch, dass sie sich zwar für | |
Diversität einsetzen, aber anscheinend keine jüdischen Freund*innen | |
haben. Sie haben sich unsensibel geäußert. In Dartmouth haben wir einfach | |
gemacht, worum wir uns auch sonst bemühen. Im Herbst habe ich ein Seminar | |
gegeben, wir waren zu acht. Ein orthodoxer jüdischer Student war darunter, | |
weitere Juden, ein Palästinenser und einige Christen. Sie haben sich | |
angefreundet. Ich wusste, dass es an der Uni auch einen palästinensischen | |
Studenten der Ingenieurwissenschaften gibt. Ich habe ihm geschrieben und | |
gefragt, wie es ihm geht. Es gehört für mich zur Lehre, dass man sich | |
umeinander kümmert. | |
Eines Ihrer Forschungsgebiete befasst sich mit der Erforschung des Orients | |
durch jüdische Gelehrte. Warum interessierten sich so viele junge, | |
jüdische, deutsch sprechende Intellektuelle im 19. Jahrhundert für den | |
Islam? | |
Manchmal war es schlicht Zufall: Da gibt es an einer Universität einen | |
guten Professor, der gern jüdische Studenten aufnimmt. Das war bei Abraham | |
Geiger so an der Universität Bonn. Andererseits sprachen diese jungen | |
Männer hervorragend Hebräisch und kannten die klassischen rabbinischen | |
Texte so gut wie ein orthodoxer Rabbiner. Motiviert wurden sie von dem | |
Wunsch, mehr über Religion als solche zu lernen. Sie wollten verstehen, wie | |
das Judentum in die westliche Welt passt. Und sie wollten zeigen, dass wer | |
Christentum und Islam verstehen will, sich mit dem Judentum befassen muss. | |
Ähnliches machten zur selben Zeit die Gelehrten der islamischen Aufklärung, | |
die sagten: Ihr Europäer meint das Arabische zu verstehen, das stimmt aber | |
nicht. Ihr braucht uns. | |
Das klingt sehr aktuell. | |
Eben das versuche ich meinen Studierenden zu erklären, wenn wir über den | |
Krieg in Gaza sprechen. Denkt komplex, nicht in einem Narrativ. Sucht nicht | |
nach dem Schurken. Nur Kinder brauchen das – hier die Märchenfee, dort die | |
böse Hexe. Wir müssen stattdessen darüber nachdenken, wie wir denken. | |
Viele jüdische Orientalisten bezogen eine antikolonialistische Position. | |
Sie sahen, was der Kolonialismus den Menschen antat, für deren Sprache, | |
Kultur und Religion sie sich interessierten. | |
Ich habe die postkoloniale Theorie in die Judaistik eingeführt. In meinem | |
ersten Buch habe ich zu zeigen versucht, dass die damalige Situation der | |
Juden in Deutschland derjenigen der Kolonisierten glich. In der Zeit der | |
Emanzipation wurde ihr Leben durch Verordnungen geregelt und eingeschränkt. | |
Sie brauchten etwa eine Erlaubnis, um an einem Ort leben zu dürfen. Sie | |
bekamen Rechte, die ihnen jedoch jederzeit wieder entzogen werden konnten. | |
Es hieß: Du darfst jetzt studieren. Aber Professor werden darfst du nicht! | |
Genauso behandelten die Kolonialmächte die von ihnen Unterworfenen. | |
Die jüdischen Forscher verstanden den Kolonialismus also aus eigener | |
Erfahrung. | |
Dekolonisierung heißt heute, zu hinterfragen, wer dieses ominöse „Wir“ is… | |
wenn „wir“ über „unsere Geschichte“ sprechen. Das haben diese Forscher | |
damals schon gemacht. Sie sagten den christlichen Deutschen: Ihr könnt | |
nicht einfach „wir Christen“ und „unser Neues Testament“ sagen. Ihr mü… | |
verstehen, dass es auch das rabbinische Judentum gibt. | |
Wie wichtig waren Ideen der Aufklärung für die jüdischen Orientalisten? | |
In Deutschland schauten sie vor allem auf [3][Kant]. Sie verfochten die | |
Idee, dass Menschsein etwas Universelles ist. Unser Problem ist, dass wir | |
die Ideen der Aufklärung verworfen haben. Heute sagen Leute, Vergewaltigung | |
als Kriegswaffe ist schrecklich, aber wenn die Hamas Jüdinnen vergewaltigt, | |
ist das okay. Wenn so argumentiert wird, gibt es keine universellen | |
Menschenrechte mehr. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Wenn das nicht | |
mehr gilt, was passiert dann mit dem menschlichen Wissen? Wir sprechen | |
darüber, das Curriculum zu dekolonisieren. Aber tun wir das wirklich? Oder | |
erhöhen wir eine Gruppe über die andere und sagen: Ihr gehört nicht länger | |
der menschlichen Gemeinschaft an? Das wird heute über Israel gesagt. Der | |
Glaube an den universellen Charakter des Menschseins war die Grundlage für | |
Bildung, Wissenschaft und Philosophie im 19. Jahrhundert. Das wurde einst | |
von den Nazis bekämpft und heute von Teilen der Linken. Wo ist die Idee der | |
Einigkeit geblieben? Wo die Idee des Universellen? Natürlich wird Trump | |
gewinnen, wenn die Linke so agiert. | |
9 Jan 2024 | |
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## AUTOREN | |
Ulrich Gutmair | |
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