# taz.de -- 10 Jahre nach dem Tod von Ariel Scharon: Der einsichtige Bulldozer | |
> Vor zehn Jahren starb der israelische Hardliner Scharon. Von dessen | |
> spätem Umdenken in der Landfrage ist der heutige Ministerpräsident weit | |
> entfernt. | |
Bild: Der israelische Premierminister Ariel Scharon in der Knesset, 8. Juni 2005 | |
Die verwobene Geschichte von Israelis und Palästinensern hat immer wieder | |
Daten hervorgebracht, die alles verändert haben, zuletzt den 7. Oktober | |
2023, der Tag des mörderischen Überfalls der Hamas auf Israel. Auch der 4. | |
Januar 2006, als der damalige Ministerpräsident Israels, Ariel Scharon, ins | |
Koma fiel, könnte ein solches Datum sein, oder eben der 11. Januar 2014, | |
als er, heute vor zehn Jahren, starb. | |
Denn es gibt zumindest Anhaltspunkte dafür, dass Scharon auf den letzten | |
Metern seiner Laufbahn eine umfassende Veränderung des Status quo | |
anstrebte. Dabei dürfte er den wenigsten als Friedenstaube in Erinnerung | |
geblieben sein, sondern als: Bulldozer, Schlächter von Beirut, Schutzpatron | |
der Siedler. Und sosehr diese Titel stimmen, erzählen sie nicht die ganze | |
Geschichte. | |
Die beginnt, als Ariel Scheinermann am 26. Februar 1928 in Kfar Malal in | |
der Scharon-Ebene geboren wird. Es soll Israels Staatsgründer Ben-Gurion | |
gewesen sein, der Scharon nach dessen Geburtsort benannte, weil das | |
hebräischer klinge. Scharons Eltern waren Anfang der 1920er Jahre vor der | |
Roten Armee von Belarus nach Palästina geflohen. | |
Der Vater, überzeugter Zionist, weniger jedoch Sozialist, konnte mit dem im | |
Moschaw (einer genossenschaftlichen Siedlungsform) herrschenden | |
Gemeinschaftsdenken nicht viel anfangen. Als Einzige im Ort sollen die | |
Scheinermanns einen Zaun um ihr Grundstück gezogen haben. Seinem Sohn soll | |
Samuel Scheinermann beigebracht haben: Man gibt kein Land ab. Ein Vorsatz, | |
den Ariel fast sein ganzes Leben lang beherzigte. | |
## Das Massaker von Sabra und Schatila | |
Nach den Kriegen von 1948, 1967 und 1973 als herausragender Militärmann | |
gefeiert und 1981 von Menachem Begin zum Verteidigungsminister ernannt, | |
marschierte Scharon im Juni 1982 mehr oder weniger auf eigene Faust in den | |
Libanon ein, um seinen Erzfeind Jassir Arafat von der Nordgrenze zu | |
vertreiben. Die Operation bescherte Scharon das wohl größte Desaster seiner | |
Karriere. Tausende andere führte sie in den Tod. | |
[1][Das von der mit Israel verbündeten Miliz Lebanese Forces begangene | |
Massaker in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila] | |
mitten in Beirut ließ Scharon wohl wissentlich geschehen, die israelische | |
Armee umstellte die Camps und spendete den christlichen Terroristen beim | |
Abschlachten von Frauen, Kindern und Alten Feuerschutz. Scharon musste als | |
Verteidigungsminister zurücktreten. | |
Mit großzügigen Geschenken an die Siedlerbewegung kämpfte sich Scharon, | |
selbst nie religiös, nach 1990 zurück: massiver Ausbau von Siedlungen, | |
provokanter Besuch auf dem Jerusalemer Tempelberg, der 2000 die Zweite | |
Intifada auslöste. Jene Siedlerbewegung erschütterte er dann in ihren | |
Grundfesten, als er, 2001 zum Ministerpräsidenten gewählt und damit ganz | |
oben angekommen, 2003 den „Scharon-Plan“ vorlegte. Dem zufolge wollte | |
Israel den Gazastreifen vollständig räumen und sogar vier Siedlungen im | |
Westjordanland aufgeben. | |
Viele sahen darin nur die Einsicht, dass der militärische Aufwand, die | |
Siedlungen in Gaza zu halten, zu hoch war. Doch es sollen weitreichendere | |
Pläne in Scharons Schublade gelegen haben: Abzug aus zwei Dritteln der | |
Siedlungen im Westjordanland, was Rafi Eitan, einst hochrangiger | |
Mossad-Agent und langjähriger Berater von Scharon, [2][in einem Interview | |
2013 bestätigte]. Scharon brach mit seiner Partei, dem Likud, gründete | |
Kadima (Vorwärts), sprach immer seltener von Land, das man nicht abgeben | |
dürfe. Netanjahu, mit dem er sich nie verstand, spuckte Gift und Galle. | |
2005 verließen die letzten Siedler*innen den Gazastreifen. | |
In seinem 2014 erschienenen Roman „Breaking News“ widmet sich der Autor | |
Frank Schätzing der Figur Ariel Scharon und legt darin nahe, dass der | |
Ministerpräsident Opfer eines Attentats jüdischer Extremisten wurde, die | |
damit weitere Abzugspläne verhindern wollten. Sie sollen, so der Roman, | |
nach Scharons erstem Schlaganfall am 18. Dezember 2005 seine Medikation so | |
manipuliert haben, dass er die geplante Operation am 5. Januar 2006 nicht | |
überleben würde. Am Vorabend der OP erlitt Scharon schwere Hirnblutungen | |
und fiel in ein Koma, aus dem er nie mehr erwachte. | |
Das Attentat ist fiktiv und entsprang Schätzings Feder, wäre jedoch nicht | |
völlig undenkbar. Immer wieder haben in der Geschichte Israels auch | |
jüdische Extremisten Friedensprozesse torpediert. Denn sie betrachten jede | |
Aufgabe von Land als Verrat am Versprechen Gottes. 2016 sagte Yuval Diskin, | |
Ex-Leiter von Israels Inlandsgeheimdienst Schin Bet, dass im südlichen | |
Westjordanland, der von besonders radikalen Siedler*innen bewohnten | |
Gegend rund um Hebron und Kirjat Arba, ein rechtsfreier Staat entstehe, der | |
gewalttätig sei und rassistische Ideologien entwickle, was von der | |
israelischen Justiz toleriert würde. | |
## Terror mit Terror bekämpfen | |
Ariel Scharon hat diese Gewalt erst gedeihen lassen, die Saat in Kirjat | |
Arba und anderswo selbst gesät. Immer tat er, was er für richtig hielt, und | |
lange war das: Siedlungen bauen, kein Land abgeben, Terror mit Terror | |
bekämpfen. Doch einiges deutet darauf hin, dass er seine Meinung geändert | |
und verstanden hat, dass seine bisherige Haltung in eine Katastrophe | |
mündet. Und dafür auch bereit war, mit einstigen Verbündeten zu brechen. | |
Benjamin Netanjahu dagegen wollte aus der Palästinafrage ein | |
Hintergrundrauschen machen. In Gaza päppelte er die Hamas, um einen | |
palästinensischen Staat zu verhindern. Leute wie Itamar Ben-Gvir, in Kirjat | |
Arba wohnhafter Minister, der als Anwalt rechtsradikale Siedler nach | |
Anschlägen auf Palästinenser*innen verteidigt, holte er in die | |
Regierung. 2023 ermordeten Siedler zehn Palästinenser im Westjordanland. | |
Mit 242 Fällen von Siedlergewalt war 2023 das gewalttätigste Jahr in der | |
Geschichte der Besatzung. | |
Scharon war womöglich, anders als Netanjahu, bereit, Fehler zu korrigieren. | |
Begriff, wenn auch spät, dass Gewalt zu neuer Gewalt führt, Hass zu noch | |
mehr Hass. Und dass der Preis für Frieden in Israel immer Land sein wird. | |
11 Jan 2024 | |
## LINKS | |
[1] /40-Jahre-nach-Massaker-im-Libanon/!5877713 | |
[2] https://www.timesofisrael.com/sharon-was-about-to-leave-two-thirds-of-the-w… | |
## AUTOREN | |
Hanna Voß | |
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