# taz.de -- Dirigent Ilan Volkov über Israel: „Dringend eine Lösung finden�… | |
> Dirigent Ilan Volkov spricht über die Notwendigkeit der Solidarität mit | |
> den israelischen Soldaten im Antiterrorkrieg und politischer | |
> Verhandlungen. | |
Bild: „Bei den Ceasefire-Demos geht es nie um die Geiseln“ – Tel Aviv im … | |
wochentaz: Ilan Volkov, welches musikalische Ereignis hat Sie zuletzt | |
aufgerüttelt? | |
Ilan Volkov: Wenn ich Musik mit Orchester dirigiere, gibt es Momente, in | |
denen alles erhebend ist. Das passiert nicht oft, und manchmal hält es nur | |
für Sekunden an. Das kann auch während des Konzerts sein. Vergangenes Jahr | |
etwa bei der Uraufführung der Viola-Konzerte von Cassandra Miller in | |
Brüssel. | |
Hat Musik Ihnen geholfen, die Ereignisse des 7. Oktober zu bewältigen, oder | |
war sie dabei hinderlich? | |
In den ersten drei Wochen danach habe ich kaum Musik gehört. Ich musste ein | |
Konzert absagen. An Konzentration war nicht zu denken. Zu Hause waren wir | |
in Sorge um Familie und enge Freunde. Inzwischen habe ich einen Weg | |
gefunden und sitze wieder an der Musik. | |
War das Ausmaß des Terrors für Sie neu? | |
Es dauerte einige Stunden, bis man verstanden hat, wie brutal diese | |
Terrorwelle war. Der 7. Oktober begann um 6.30 Uhr, als wir zu den Bunkern | |
rennen mussten, weil Raketen auf uns regneten. Als 15-Jähriger habe ich | |
1991 meinen ersten Raketenangriff erlebt, während des Irakkriegs. Aber das | |
Ausmaß am 7. Oktober war größer. Zwei Dinge wurden deutlich. Zum einen die | |
Machtlosigkeit der israelischen Armee. Eigentlich können wir nicht | |
verlieren, mit einer Armee, die hundertmal stärker ist als die Hisbollah | |
und die Hamas. Zum anderen: Die Hamas war uns an jenem Tag überlegen, sie | |
kämpfte vor allem gegen unbewaffnete Zivilisten. Sie mordeten, raubten, | |
vergewaltigten. Die ersten beiden Tage blieb unklar, wer Hamas-Kämpfer ist, | |
wer palästinensischer Zivilist. Diese Ungewissheit war nachhaltig. Mir | |
wurde aber klar, die israelische Antwort wird furchtbar ausfallen. | |
Im Buch „Es war einmal in Palästina“ schildert der Historiker Tom Segev | |
Pogrome in Hebron und Jerusalem, 1920, 1922 und 1929 gegen jüdische | |
Menschen durch Araber. Gewalt aus dem Nichts, wie die der Hamas am 7. | |
Oktober. Dann Gegengewalt. Haben Sie eine Erklärung für den Hass? | |
Der Konflikt dauert mehr als hundert Jahre, die Konfliktlinien gehen tief. | |
In der Zeit vor 1914 lebten hier schon Palästinenser und Juden. Nach 1918 | |
kamen weitere jüdische Migranten, da sie vor Pogromen, etwa im Gebiet der | |
heutigen Ukraine, in den Nahen Osten flüchteten. Es kamen auch Juden, die | |
aus arabischen Regionen flüchteten. Das ging weiter in den 1930er und | |
1940er Jahren, als Flüchtlinge auf der Flucht vor dem NS und vor dem | |
Holocaust kamen. Die Menschen haben sich als zwei Völker wahrgenommen, | |
Araber und Juden. Alles vor dem Hintergrund des Kolonialismus. Bis 1918 | |
gehörte die Region zum Osmanischen Reich, danach übernahmen die Engländer. | |
Die Rolle der Engländer wird immer vernachlässigt. | |
Man muss verstehen, dass die Engländer weder den Arabern noch den Juden | |
zugeneigt waren. Ein Auslöser für den Konflikt! In der Tat hat niemand | |
geholfen, ihn zu lösen. Später gab es einen UN-Friedensplan, aber die | |
Araber haben ihn abgelehnt. Den Krieg von 1967 haben die Araber verloren, | |
die Niederlage jedoch nie akzeptiert. In Israel, Gaza und Westjordanland | |
leben aktuell circa 14 Millionen Menschen. Niemand wird sie irgendwohin | |
schieben können. Jetzt muss man entscheiden: Will man mit dem Schwert | |
weiterkämpfen oder eine friedliche Lösung finden? Die USA müssen | |
vermitteln. Einen anderen Weg gibt es nicht, die Konfliktparteien kriegen | |
es nicht hin. | |
Die USA befinden sich im Wahlkampf, der fatal enden kann, falls Trump nicht | |
vorher im Gefängnis landet. | |
Die USA ist ständig im Wahlkampf. Aber Israel muss verstehen, dass seine | |
politische Situation nicht so bleiben wird. Wir wissen nicht, ob die Armee | |
weiter schlagkräftig bleibt, ob die USA noch als Weltpolizist agieren? | |
Deswegen muss man eine friedliche Lösung finden, Ägypten und Israel haben | |
es auch hinbekommen. Ihr Friedensvertrag ist doch ein Vorbild. Es gibt nur | |
diese zwei Wege: ein Staat mit zwei Völkern oder zwei Staaten. | |
Gibt es überhaupt Gesprächsbereitschaft? | |
Seit 50 Jahren heißt es, die Palästinenser verstehen nur die Sprache der | |
Gewalt. Aber was macht das mit uns? War das so nach dem Abkommen von Oslo | |
1993? Hat Israel alles Menschenmögliche getan, um Frieden zu schaffen? Hat | |
sich nur die palästinensische Seite schändlich benommen? Am Ende wollten | |
weder Ariel Scharon noch Benjamin Netanjahu eine Friedenslösung haben, | |
weder für Gaza, noch für Westjordanland. Sie hintertrieben die | |
Friedensbemühungen. Das ist bittere Realität. Die palästinensische Seite | |
denkt genauso wie wir. Die glaubt, die Israelis kennen nur die Sprache der | |
Gewalt und wollen keinen Frieden. | |
Segev schreibt, schon früher setzten sich Hardliner durch. | |
In den 1920er Jahren glaubte man noch an etwas anderes. So etwa der rechte | |
Politiker Zeev Jabotinsky, Vater des Likud und ein wichtiger Einfluss auf | |
Begin und Scharon. Er hatte 1923 das Essay „Die Mauer aus Stahl“ verfasst: | |
Auch darin hieß es, die andere Seite verstehe nur die Sprache der Gewalt. | |
Aber damit hat er nicht gesagt, dass man 100 Jahre Krieg führen muss. Sein | |
Argument war, dass ein Kompromiss gefunden wird. Zunächst müssen wir Stärke | |
zeigen, das hat Israel schon 1948 und 1967 getan. Am Ende wird auch die | |
Rechte nach dem Feldzug gegen die Hamas einen Weg finden müssen. Und damit | |
entschuldige ich nicht das Massaker der Hamas. Das war ein schändlicher | |
Terrorakt gegen unschuldige Zivilisten. Ein Kriegsverbrechen. In Israel ist | |
der Diskurs an dem Punkt angekommen, wo alle Schuld für die komplizierte | |
Lage auf das Osloer Abkommen geschoben wird. Das hat leider nichts mit der | |
Realität zu tun. Aber viele Menschen in Israel sind einfach ängstlich. | |
Wovor fürchten sie sich? | |
Sie fürchten, dass sie von zwei Millionen Palästinensern überwältigt | |
werden. Die politische Klasse sollte den Menschen Stärke und Zuversicht | |
vermitteln. Aber in Israel sorgt sie dafür, dass die Menschen noch mehr | |
Angst haben. Zunächst hieß es, die Geiseln werden innerhalb von drei | |
Monaten befreit, aber nichts ist passiert. | |
Trotz allem Dissens sind die Israelis solidarisch mit der Armee und setzen | |
sich für die Geiseln ein. | |
Den Menschen ist die schwierige Lage bewusst. Fast alle glauben, dass wir | |
uns verteidigen müssen. Aber ist Krieg wirklich der einzig richtige Weg? | |
Nach allem, es ist doch Politik, die der Armee sagt, was zu tun ist. Nicht | |
andersrum. Also, etwas von dieser Demokratie funktioniert. Wenn ich sage, | |
ich bin gegen die Regierung Netanjahu, dann ist das unabhängig von meiner | |
Solidarität mit den jungen Soldaten, die jetzt nach Gaza einrücken müssen. | |
Die begeben sich für diese Aufgabe in Lebensgefahr. Ich fürchte, dass wir | |
die Geiseln allein mit Gewalt nicht befreien können. Israel muss dringend | |
eine andere Lösung finden. Wahrscheinlich will die Hamas die 7.000 | |
einsitzenden palästinensischen Häftlinge gegen die Geiseln austauschen. Von | |
diesen 7.000 haben circa 600 Israelis getötet, die anderen haben keine | |
Gewaltverbrechen begangen. Das wird eine schmerzliche Entscheidung für | |
Israel sein, sich darauf einzulassen. | |
Nach dem 7. Oktober hat sich die postkoloniale Linke aufseiten der | |
Palästinenser positioniert. Israel gilt als Kolonialmacht. Was geht Ihnen | |
da als Linker durch den Kopf? | |
Israel ist kein idealer Ort, an dem alles perfekt funktioniert. Ganz und | |
gar nicht! Das bedeutet noch lange nicht, dass messianische Terroristen, | |
die Babys töten und Frauen vergewaltigen, mit ihrem Wahnsinn durchkommen | |
dürfen. Man muss sowohl die israelische Regierung wegen ihrer Versäumnisse | |
kritisieren und die rechtsgerichteten Siedler, als auch die Hamas. Die will | |
auch keine palästinensische Demokratie und ähnelt ISIS. Das Wort „Genozid, | |
was auf Israel im Umgang mit den Palästinensern angewandt wird, erklärt gar | |
nichts. Ein Schwarzweiß-Bild mit unschuldigen Palästinensern und bösen | |
Israelis, macht keine Debatte, an der ich mich beteilige. | |
Die Fronten sind verhärtet | |
Die postkoloniale Linke sollte darüber nachdenken, ob sie daran | |
interessiert ist, eine tragfähige Lösung zu unterstützen. Bei den | |
„Ceasefire Now“-Demos geht es nie um die Geiseln. Es geht nie um die | |
Machenschaften der Hamas. Wenn das für die Linke normal sein soll, den 7. | |
Oktober als legitimes Mittel zu betrachten, um eine Kolonialmacht zu | |
bekämpfen, finde ich das sehr problematisch. | |
Wie ist es Ihnen seither in Europa ergangen? | |
Schlimm war es etwa in London im Cafe Oto, weil die offiziellen Statements | |
von dort einseitig waren. Obwohl ich privat differenziertere Meinungen auch | |
dort gehört habe. Seit mehr als 15 Jahren drangsaliert die Hamas die | |
palästinensische Bevölkerung. Frauen haben keinerlei Rechte. | |
Wann ist Ihnen bewusst geworden, dass Musik über alle Gräben hinweg | |
Menschen emotional bewegen kann? | |
Vielleicht ist Ihre Frage zu optimistisch, aber ich glaube, am Ende | |
wünschen sich alle Menschen ein gutes Leben. Dazu gehört Musik. Sie spielt | |
im Alltag etwa eine Rolle, wenn sie ihren Kindern Gute-Nacht-Lieder | |
vorsingen. Musik vermittelt eine andere Realität. Sie ist etwas, das aus | |
uns selbst kommt und uns immer bewegt. Aber sie ist auch etwas, das wir | |
nicht genau verstehen. Musik schafft Freiheit! Man kann mit ihr | |
abschweifen, sogar von ihr ohnmächtig werden, ihr so gebannt lauschen, dass | |
man alles andere vergisst. Ich hoffe, dass wir weiterhin die Möglichkeit | |
haben, uns ihrer Schönheit hinzugeben. | |
27 Jan 2024 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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