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# taz.de -- Kritik an Forensic Architecture: Zweifelhafte Beweisbilder
> Die Recherchegruppe Forensic Architecture untersucht
> Menschenrechtsverletzungen. Doch die Analysen haben Schlagseite – aktuell
> gegen Israel.
Bild: Infografiken suggerieren Wissenschaftlichkeit: Ausstellung mit Forensic A…
Um Menschenrechtsverletzungen oder Kriegsverbrechen mittels
Open-Source-Investigationen unabhängig von staatlichen Interessen zu
untersuchen, haben sich in den letzten Jahren zahlreiche Recherchenetzwerke
gegründet. Zu den bekanntesten gehört [1][Forensic Architecture.] Seit 2010
setzt die am Goldsmiths, University of London situierte Rechercheagentur
Aufnahmen aus sozialen Medien oder Satellitenbilder in 3-D-Simulationen
ein. In Ermittlungsvideos werden minutiös militärische Einsätze
rekonstruiert.
Mit den meist von Menschenrechtsorganisationen in Auftrag gegebenen
bildforensischen Recherchen wendet sich das Forschungskollektiv gegen
staatliche Informationspolitiken und fordert juristische Aufarbeitung ein.
Dafür wird es in einer aktivistisch theoretisierenden Kunstwelt gefeiert.
Eine kritische Analyse blieb bisher weitestgehend aus.
Zuletzt erschien die mehrteilige Untersuchung „[2][Destruction of Medical
Infrastructure in Gaza“][3][.] Bereits im Oktober und November
veröffentlichte die Gruppe in sozialen Medien jedoch vorläufige
Untersuchungsergebnisse zum Raketeneinschlag am Al-Ahli-Krankenhaus in Gaza
am 17. Oktober. Internationale Medien wie die New York Times und Tagesschau
hatten Hamas-Meldungen übernommen, nach denen das israelische Militär (IDF)
das Krankenhaus bombardiert habe, und von bis zu 500 Toten und 600
Verletzten berichtet.
Weltweit kam es zu antiisraelischen Protesten und antisemitischen
Gewalttaten. In Berlin warfen Vermummte Brandsätze auf eine Synagoge. Als
sich herausstellte, dass die Rakete auf dem nahegelegenen Parkplatz
eingeschlagen war, wurden die Opferzahlen stark nach unten korrigiert.
## Human Rights Watch stützt die Version der IDF
Die IDF führt die Detonation auf eine fehlgeleitete Rakete der Hamas/des
Islamischen Dschihad zurück. Sprecher präsentierten Videos vom
Raketenbeschuss aus Gaza kurz vor der Explosion, eine Tonaufzeichnung gab
das vermeintliche Gespräch zweier Hamas-Terroristen über die Fehlfunktion
wieder, und Luftbilder demonstrieren, dass ein für israelische Bomben
typischer Krater fehlt. Analysen, etwa von Human Rights Watch, stützen
diese Version.
In seinem ersten X-Post nach dem Hamas-Angriff kündigte der Gründer von
Forensic Architecture, der britisch-israelische Architekt Eyal Weizman, am
14. Oktober die Dokumentation der „punishing violence of the occupation
forces, a crime against humanity“, an. Die Massaker, Vergewaltigungen und
über 240 verschleppten Geiseln erwähnte er hier nicht. Im
Arts-Persist-Podcast vom 8. November beschreibt ein anonymes Mitglied der
Rechercheagentur den pogromartigen Überfall als „a number of violent and
fatal clashes“. Die israelische Offensive aber sei „the most televised and
visually documented coverage of genocidal policies in history“.
Forensic Architecture wendet diese Bilder gegen Israel. Für die
Untersuchung kooperiert die Gruppe mit Earshot, einer Organisation für
Audio-Recherchen, und der palästinensischen Menschenrechtsorganisation
al-Haq. Letztere wurde, ohne eindeutige Belege vorzulegen, vom israelischen
Verteidigungsministerium 2021 wegen angeblicher Verstrickungen mit der
Volksfront zur Befreiung Palästinas (PFLP) als Terrorgruppierung
eingestuft.
Mit kurzen Clips, die allein auf X über 16 Millionen Mal gesehen wurden,
versucht das Kollektiv die israelischen Beweise zur Al-Ahli-Explosion zu
falsifizieren und bezeichnet sie als „desinformation“. Bei der IDF sei es
üblich, Krankenhäuser anzugreifen. Verschwiegen wird, dass die Hamas zivile
Opfer einkalkuliert und Einsatzzentralen unter Krankenhäusern einrichtet
oder Raketenstellungen neben Schulen positioniert.
## Vermeintlich objektiv
Die Videoanalyse zeichnet sich durch eine vermeintlich objektive,
wissenschaftliche Haltung aus. Sie führt vor, dass die Beweisbilder der IDF
einen Abfangjäger des Iron Dome zeigen, zu weit vom Krankenhaus entfernt.
Eine 3-D-Rekonstruktion suggeriert, die Flugbahn der Rakete lasse sich
zweifelsfrei berechnen.
Die Auswertung identifiziert Videos als Aufnahmen einer Explosion kurz vor
der Detonation am Krankenhaus, einen Kilometer entfernt. Audioanalysen
schlussfolgern, die Rakete sei aus Nordost, aus Richtung Israel, gekommen
und dass der Gesprächsmitschnitt bearbeitet wurde.
Die Agentur nutzt dokumentarische Bildsprachen und Strategien der
Blicklenkung, um die Wissenschaftlichkeit ihrer Untersuchungen zu
suggerieren und Authentizität zu generieren: Ein Zeitstrahl vermittelt
temporale Einordnung; Kreise und Markierungen leiten den Blick.
Ihren Status als Beweisbilder erhalten die Aufnahmen in ihrer Kombination:
Mithilfe zeichnerischer Dekodierungen werden sie lesbar gemacht und
kommentiert. Ein Voice-over erklärt in besonnenem Ton, was angeblich
gesehen wird und wie das Gesehene zu verstehen ist. So wird empirische
Eindeutigkeit vermittelt. Raum für politische Diskursivierung gibt es
nicht.
## Israel als alleiniger Aggressor
Unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Objektivität ergreift Forensic
Architecture regelmäßig Partei. Auf Basis vermeintlich forensischer
Faktizität halten die Investigationen zum Nahostkonflikt einen
palästinensischen Opfer- und israelischen Täterstatus aufrecht. Die
israelische Armee wird als alleiniger Aggressor gegenüber wehrlosen
Zivilist*innen ins Bild gesetzt: [4][Im Video „The Bombing of Rafah“
(2015),] einer der am häufigsten ausgestellten Arbeiten des Kollektivs,
nutzt es dafür eine Sequenz mit dem Wasserzeichen des mit der Hamas
assoziierten Nachrichtensenders muqawama press.
Den Adressat*innen der Analyse, die den betreffenden Bombenabwurf im
Gaza-Krieg 2014 als menschenrechtswidrig klassifiziert, wird dieser
Distributionskontext vorenthalten. Auch für „Destruction of Medical
Infrastructure“ bezieht sich das Kollektiv unter anderem auf die Hamas-nahe
Nachrichtenagentur Shehab News.
Um Evidenzen zu schaffen und öffentlichkeitswirksame Gegennarrative zu
etablieren, unterlässt es die Gruppe, eine Kritik ihrer Quellen selbst zu
formulieren. Im US-Magazin Art in America schrieb die Kritikerin Emily
Watlington im März, die Gruppe bewege sich so an der Grenze zu Fake News
und Halbwahrheiten.
Bei der [5][Kundgebung „We still still still still need to talk“ am 10.
November in Berlin] sprach Weizman von einem Genozid, der seit der
Staatsgründung Israels 1948 an Palästinenser*innen begangen werde. In
einem Granta-Interview betont er, Palästinenser*innen haben ein Recht
auf Palästina. Die Frage nach den Grenzen Palästinas lässt er offen –
ebenso wie die nach „the rights of Jews in Palestine“, mit der das
Interview endet und Raum für Spekulationen bietet.
## Vortrag von Forensic Architecture in Aachen abgesagt
Weizman bekundete schon vor Jahren seine Unterstützung für die
BDS-Bewegung. Im Kunstfeld, wo Kritik an Israel regelrecht zum guten Ton
gehört, wird der politische Impetus des Kollektivs bisher kaum
thematisiert. An der RWTH Aachen wurde zuletzt ein für den 11. Dezember
geplanter Vortrag von Forensic Architecture durch den Rektor Ulrich Rüdiger
untersagt. Laut Stellungnahme befürchteten jüdische und israelische
Studierende, er könne die angespannte Lage an der RWTH verschärfen. Eine
Klage des Veranstalters Axel Sowa wurde vom Verwaltungsgericht Aachen
abgewiesen.
Es ist fraglich, wie wirksam solche an deutschen Institutionen vermehrt zu
beobachtenden Absagen im Kontext von Antisemitismusvorwürfen sind. Die
Wissenschaftsfreiheit ist ein hohes Gut. Für eine kritische
Auseinandersetzung mit Forensic Architecture ist es in jedem Fall an der
Zeit.
3 Jan 2024
## LINKS
[1] /Digitale-Erinnerung-im-Ukrainekrieg/!5940072
[2] https://forensic-architecture.org/investigation/destruction-of-medical-infr…
[3] https://forensic-architecture.org/investigation/destruction-of-medical-infr…
[4] https://forensic-architecture.org/investigation/the-bombing-of-rafah
[5] /Abwege-des-Aktivismus-in-der-Kunst/!5971023
## AUTOREN
Mira Anneli Naß
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