| # taz.de -- Debatte um Israels Selbstverteidigung: Ein ur-linkes Anliegen | |
| > Linksidentitäre Kritik an Israel verhallt zu Recht, erkennt sie doch sein | |
| > Existenzrecht nicht an. Der „Kontext“, von dem viele sprechen, geht | |
| > anders. | |
| Bild: Vor dem Krieg protestieren Tausende in Tel Aviv gegen die Regierung Netan… | |
| Es ist ohne Belang, was hierzulande, was [1][andernorts in der westlichen | |
| Welt], was in den Foren der Vereinten Nationen zu Israel und seinem | |
| Abwehrkrieg gegen die Hamas gedacht und erörtert wird. Was in den hiesigen | |
| Nachrichtensendungen zu sehen ist, bleibt auch das Falsche, wenn es mit | |
| grauenerregendem Leiden verbunden ist: Bombardements und andere | |
| militärische Interventionen im Gazastreifen. | |
| Medien neigen zur Produktion greller, erschütternder Bilder – und die aus | |
| jener Landschaft, die das israelische Militär besonders im Visier zu haben | |
| hat, wecken, je nach Gemütslage, Empörung, Mitleid oder Hass. All dies kann | |
| stark moniert werden, überhaupt kann Israel und seine Politik heftig | |
| kritisiert werden, ohne dass dies als antisemitisch oder antijüdisch | |
| (miss)verstanden werden müsste. | |
| Die Politik Netanjahus kann, ja muss aus der Perspektive von Demokraten | |
| schroff angegangen werden. Er und seine rechtsradikalen Koalitionspartner | |
| haben durch militärische und politische Unachtsamkeit überhaupt möglich | |
| gemacht, dass am 7. Oktober nicht nur Hamas-Kader, sondern hinter ihnen | |
| einfallend Zivilbewohner des Gazastreifens auf israelisches Staatsgebiet | |
| mordend und schlachtend einfielen, Wehrlose massakrierend. | |
| Arye Sharuz Shalicar, einer der Militärsprecher Israels, [2][sprach im | |
| taz-Interview daher zutreffend] von einem „Mini-Holocaust“ – ein Gefühl, | |
| das mit dem 7. Oktober die israelische Bevölkerung (und wesentliche Teile | |
| der jüdischen Diaspora) beschlichen hat: Israel, Safe State für Jüdinnen | |
| und Juden, vermag offenbar das Leben seiner BürgerInnen nicht zu schützen. | |
| ## Wehrbereitschaft ist keine Geschmacksfrage | |
| Der jüdische Staat, zu dem mehr als ein Fünftel anderer religiöser | |
| Traditionen gehören, auch der Islam, ist von mehr oder weniger feindlich | |
| gesinnten Nachbarn umgeben – das macht dort Fragen der Verteidigung und | |
| Wehrbereitschaft nicht zu einer Geschmacksfrage in irgendeinem Diskurs zum | |
| Nahen Osten, sondern zu einer der Existenz schlechthin. | |
| Das festzustellen, ist kein Resultat irgendeiner philosemitischen Haltung, | |
| erst recht nicht aufgrund irgendeines sogenannten Schuldkults (so der | |
| Historiker Dirk A. Moses und vieler seiner postkolonial gesinnten | |
| FreundInnen), sondern des demokratischen Verstands: Israel ist als Staat, | |
| allem jüdischen Prä zum Trotz, in seiner Region mit Abstand das Land, das | |
| allen liberalen Demokraten auch in der Mentalität am nächsten liegen | |
| sollte. | |
| Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, demokratische Wahlen, ein Land ohne | |
| Todesstrafe und mit hohem Bewusstsein für ethnische Diversität: Wer Israel | |
| als „weißes“ Land imaginiert, gibt nachfragelos zu verstehen, noch nie da | |
| gewesen zu sein. | |
| ## Lebendigere Demokratie als die deutsche | |
| Israel müsste auch Linken ein positives Anliegen sein: ein utopisches | |
| Projekt, das wider alle Erwartungen zu gedeihen begann. Ein Staat, der sich | |
| 1948 per UN-Beschluss gründete (mit Hilfe der Sowjetunion auch, nicht der | |
| USA, nicht Großbritanniens) und aus so gut wie nichts in wüstenähnlicher | |
| Umgebung einen kapitalistischen Global Main Player machte, unabhängig von | |
| Religionen: Gegen die demokratisch ausgetragenen Streitigkeiten dort wirkt | |
| die bundesdeutsche Demokratie wie eine einschläfernde Veranstaltung. In | |
| Israel geht es immer um alles – deshalb werden die Debatten jetzt um den | |
| Krieg gegen die Hamas dort leidenschaftlicher ausgetragen, als sich | |
| [3][aus den kargen Bildern], die deutsche Medien spiegeln, nur entnehmen | |
| lässt. | |
| Israel müsste für Linke – nicht: Linksidentitäre, die vom Global South | |
| sprechen und die Welt sich nur ethnisiert vorstellen können, nicht als | |
| Mixtur wie eben etwa in Israel – auch deshalb attraktiv sein, weil es | |
| Meinungs- und Organisationsfreiheit gibt. Weil dessen arabische BürgerInnen | |
| einen viel höheren Lebensstandard genießen als etwa solche in Staaten wie | |
| Jordanien, dem Libanon oder Ägypten. Nichts in Israel ist paradiesisch, im | |
| Gegenteil. | |
| Gegen die Politik Netanjahus hat die Hälfte der jüdischen Israelis (und | |
| auch der nichtjüdischen BürgerInnen) in den zehn Monaten vor dem 7. Oktober | |
| Woche für Woche in Tel Aviv lautstark protestiert. Die Paraden des Protests | |
| haben am Ende auch viele arabische Israelis willkommen geheißen, zumal das | |
| Thema der apartheidähnlichen Besatzung der Westbank aufgebracht werden | |
| konnte. | |
| Das sind politische Kulturen der Selbstkritik, die aus den benachbarten | |
| arabischen Ländern nicht einmal phantasmatischerweise denkbar wären. | |
| ## Palästina-Sentimentalität hilft keinem weiter | |
| Dass die Militärinterventionen im Gazastreifen – von dort werden nach wie | |
| vor auch Bomben auf das verhasste Israel gestartet – auch in Israel | |
| umstritten sind, hat hauptsächlich mit dem Umstand zu tun, dass die | |
| Hamas-Täter immer noch über 100 Geiseln gefangen halten. | |
| Israels Politik wird also kritisiert, am schärfsten in Israel selbst. Der | |
| Grund, warum [4][linksidentitäre oder palästinasentimentalistische Kritik] | |
| gerade aus westlichen Zirkeln so resonanzlos verhallt, ist simpel. Die | |
| meisten Beiträge, zuletzt [5][der von Masha Gessen] bei der von ihr beim | |
| Schopfe ergriffenen Chance, angelegentlich einer [6][Preisverleihung in | |
| Bremen Israel zu dämonisieren] – verkennen dessen politische Lage und | |
| erkennen nicht das Existenzrecht Israels an. | |
| Sie halten, wie der Philosoph Omri Boehm, Israel nur als Konföderation mit | |
| den Palästinensern für denkbar, wollen den UN-Beschluss zur Staatsgründung | |
| revidieren: Warum also sollte auch nur irgendein liberaler oder linker | |
| Politiker, von Netanjahu und seinen Fellows zu schweigen, in Israel auf | |
| solchen surrealen Kram hören? | |
| ## Wie es besser ginge | |
| Jede Diskussion aus palästinensischem Blickwinkel macht sich | |
| realitätstüchtig, wenn sie auf [7][Rückkehrrechte in früher nicht allein | |
| jüdisches Gebiet] verzichtet. Wenn sie auf Handel setzt, nicht [8][auf | |
| Massaker]. Dann läge die Einsicht nicht fern: Wenn jemand die Sache der | |
| palästinensischen BürgerInnen besonders vernichtet, nachhaltig rufschädigt, | |
| dann ist es die Hamas, die mit dem 7. Oktober das größte Verbrechen auch | |
| gegen die eigene Bevölkerung angerichtet hat. | |
| Netanjahu aber muss für sein politisches Versagen belangt werden, | |
| üblicherweise in demokratischen Ländern durch Wahlen. Es ist vor allem sein | |
| Scheitern, die Hamas für einhegbar, die palästinensische Frage für | |
| hinfällig gehalten – und eine nötige Zweistaatenlösung hintertrieben zu | |
| haben. Auf sein Konto geht auch die Verantwortung für die Vernachlässigung | |
| der Sicherheit zum Gazagebiet mit der mörderischen Hamas. Das ist eine | |
| verheerende Bilanz, aber so geht der „Kontext“, von dem jetzt alle | |
| linksidentitäre Welt redet. Nicht anders. Israel hat Probleme zu lösen und | |
| ist nicht ein Problem per se. | |
| 4 Jan 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Kritik-an-Forensic-Architecture/!5983353 | |
| [2] /Militaersprecher-zum-Krieg-in-Gaza/!5977909 | |
| [3] /Antisemitismus-im-Nahostkrieg/!5965347 | |
| [4] /Israel-als-Symbol-des-Boesen/!5976692 | |
| [5] /Debatte-um-Hannah-Arendt-Preis/!5979244 | |
| [6] /Streit-mit-Hannah-Arendt-Preistraegerin/!5980783 | |
| [7] /Politische-Entwicklung-in-Israel/!5910424 | |
| [8] /Mechanismen-des-Antisemitismus/!5976748 | |
| ## AUTOREN | |
| Jan Feddersen | |
| ## TAGS | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Israel Defense Forces (IDF) | |
| Westjordanland | |
| Gaza | |
| Benjamin Netanjahu | |
| Palästina | |
| Anti-Israel | |
| Israel | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Israel | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Kolumne Der rote Faden | |
| Israel | |
| wochentaz | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Israels Taktik der gezielten Tötungen: Vergeltung für jeden Angriff | |
| Diejenigen zu töten, die Terror gegen Israelis planen und ausführen, ist | |
| keine neue Taktik. Zahlt Israel dafür langfristig einen zu hohen Preis? | |
| Gregor Gysi über Krieg in Nahost: „Deutschland fehlt der Mumm“ | |
| Man darf Kriegsverbrechen der Hamas nicht mit Kriegsverbrechen beantworten, | |
| sagt der Linken-Politiker Gregor Gysi. Er fordert einen Waffenstillstand. | |
| Brandherd Naher Osten: Türkei hat Mossad-Spitzel im Visier | |
| Der IS reklamiert den Anschlag im Iran für sich. Doch in der Region wächst | |
| das Misstrauen gegenüber Israel – auch in der Türkei. | |
| Kritik an Forensic Architecture: Zweifelhafte Beweisbilder | |
| Die Recherchegruppe Forensic Architecture untersucht | |
| Menschenrechtsverletzungen. Doch die Analysen haben Schlagseite – aktuell | |
| gegen Israel. | |
| Silvester in Zeiten der Krisen: Hauptsache, ein Funken Licht | |
| Nahost, Ukraine, Antisemitismus – Früher konnte man sich noch über | |
| Silvesterfeuerwerk aufregen. Heute muss man sich um echte Probleme sorgen. | |
| Ägyptens Friedensplan für Nahost: Frieden nur auf dem Papier | |
| Nach dem Vorstoß aus Washington legt nun auch Kairo einen Plan für die | |
| Palästinensergebiete vor. Realistisch ist weder der eine noch der andere. | |
| Israel als Symbol des Bösen: Das projizierte Feindbild | |
| Eine Weltsicht, die die Menschheit in Unterdrücker und Unterdrückte | |
| einteilt, bietet keinen Platz für distanzierte Betrachtung. Ein Blick in | |
| die USA. |