# taz.de -- Israels Taktik der gezielten Tötungen: Vergeltung für jeden Angri… | |
> Diejenigen zu töten, die Terror gegen Israelis planen und ausführen, ist | |
> keine neue Taktik. Zahlt Israel dafür langfristig einen zu hohen Preis? | |
Bild: Der Sarg von Hamas-Führer Saleh al-Arouri wird durch Beirut getragen, 4.… | |
Noch sind die genauen Umstände des Todes von Salah al-Aruri am Dienstag im | |
Süden der libanesischen Hauptstadt Beirut nicht geklärt. Doch bezweifelt | |
kaum jemand, dass Israel für das Attentat verantwortlich ist. Die Nummer | |
zwei der Hamas-Führung sei bei einem „hinterhältigen israelischen Angriff“ | |
gestorben, erklärte Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah bei einer Rede am | |
Mittwoch. Bekannt hat sich Israel zu dem mutmaßlich per Drohne erfolgten | |
Angriff bisher nicht. | |
Gezielte Tötungen gehören seit Jahrzehnten zum Repertoire israelischer | |
Geheimdienste und Sicherheitsbehörden. Der Ruf des israelischen | |
Auslandsgeheimdienstes Mossad beruht nicht zuletzt auf einer Reihe von | |
spektakulären Attentaten und Entführungen, darunter die Festnahme [1][des | |
Naziverbrechers Adolf Eichmann] in Argentinien 1960 oder der Mord an dem | |
Waffenhändler Gerald Bull 1990, der für den irakischen Diktator Saddam | |
Hussein Geschütze bauen wollte. | |
Nachdem die Hamas bei ihrem beispiellosen Überfall am 7. Oktober rund 1.200 | |
Menschen in Israel ermordete, hatte die israelische Führung gewarnt: Die | |
Drahtzieher des Angriffs sollen sich an keinem Ort der Welt mehr sicher | |
fühlen. Der Angriff auf al-Aruri in Beirut zeigt, dass die Warnung wohl | |
ernst zu nehmen war. Ein hoher US-Beamter ließ laut einem Bericht der New | |
York Times durchblicken: „Das ist erst der Anfang, es wird Jahre so | |
weitergehen.“ | |
Doch der Angriff wirft auch Fragen auf: Droht ein solches Vorgehen die | |
Region weiter zu destabilisieren? Bringt es Israel mehr Sicherheit? Und ist | |
es überhaupt zulässig und legitim? | |
## Angriff auf ein militärisches Ziel in einem verfeindeten Land | |
Al-Aruri hatte als Vizechef innerhalb der Hamas ein offiziell eher | |
politisches Amt und befand sich in Beirut zudem weitab der Kampfhandlungen. | |
Israel wirft dem Mitgründer der Kassam-Brigaden aber vor, Raketenangriffe | |
aus dem Libanon sowie Terroranschläge und Entführungen im Westjordanland | |
koordiniert zu haben. Für die Hamas dürfte sein Tod militärisch | |
Konsequenzen haben, sagt der Islamwissenschaftler Reinhard Schulze von der | |
Universität Bern. „Wegen seiner engen Beziehungen zur Hisbollah und zu den | |
iranischen Revolutionsgarden könnte er nur von jemandem ersetzt werden, der | |
das Vertrauen aller Seiten genießt.“ | |
Die USA hatten ein Kopfgeld in Höhe von fünf Millionen Dollar auf al-Aruri | |
ausgesetzt, der auch an der Entführung und Ermordung dreier Teenager im | |
Westjordanland 2014 beteiligt gewesen sein soll. „Moralisch sehe ich kein | |
Problem“, sagt der Militärhistoriker Danny Orbach von der Hebräischen | |
Universität in Jerusalem. „Juristisch war es ein Angriff auf ein | |
militärisches Ziel in einem verfeindeten Land.“ | |
Gezielte Tötungen gehören zu den umstrittensten Mitteln, die demokratische | |
Staaten einsetzen können. Dabei, so schreibt der israelische Journalist und | |
Geheimdienstexperte Ronen Bergman in seinem Buch „Der Schattenkrieg“, habe | |
kein anderer westlicher Staat dieses Mittel in den vergangenen Jahrzehnten | |
häufiger genutzt als Israel. | |
Alleine zwischen dem Ende der zweiten Intifada Mitte der 2000er Jahre bis | |
2018 gab es demnach mehrere hundert solcher Operationen. Der Großteil habe | |
während der regelmäßigen Auseinandersetzungen zwischen der israelischen | |
Armee sowie der Hamas und dem Palästinensischen Islamischen Dschihad in | |
Gaza (2008, 2012, 2014) stattgefunden. Außerdem habe der Mossad immer | |
wieder Angriffe auf palästinensische, [2][syrische und iranische Ziele] in | |
der arabischen Welt ausgeführt. Zum Vergleich: Während der Präsidentschaft | |
von George W. Bush sollen die USA 48 solche Operationen umgesetzt haben, | |
unter Obama seien es 353 gewesen. | |
## Operation Zorn Gottes | |
Als Mittel zur Verteidigung und zur Durchsetzung der eigenen Ziele ließen | |
sich gezielte Tötungen bis in die jüdischen Untergrundorganisationen | |
verfolgen, die vor der Staatsgründung 1948 im britischen Mandatsgebiet | |
Palästina aktiv waren, sagt Orbach. „In den frühen Jahren Israels, als | |
Infiltrationen und Anschläge aus den benachbarten arabischen Staaten an der | |
Tagesordnung waren, hat sich dieses Mittel etabliert.“ | |
Israels erster Regierungschef David Ben-Gurion fasste es noch 1969 düster | |
zusammen: „Wir müssen ihnen zeigen, dass das Blut (jüdischer Israelis) | |
nicht billig ist.“ Aus der Erfahrung zahlreicher Pogrome und des Holocausts | |
sowie der Tatsache, dass der jüdische Staat auch Jahre nach seiner Gründung | |
noch nicht über die Mittel verfügte, seine Bürger effektiv zu schützen, | |
habe sich die Doktrin entwickelt, für jeden Angriff Vergeltung zu üben, | |
sagt Orbach. | |
Erstmals massiv gegen Palästinenser eingesetzt wurden gezielte Tötungen | |
nach [3][dem Münchner Olympia-Attentat im September 1972]. Damals wurden | |
während einer Geiselnahme durch palästinensische Terroristen elf | |
israelische Sportler sowie ein Polizist getötet. Der Mossad stellte, | |
autorisiert von Regierungschefin Golda Meir, die Sondereinheit „Caesarea“ | |
auf. | |
Noch im Oktober erwarteten Agenten den Vertreter der palästinensischen | |
Befreiungsorganisation PLO in Italien, Abdel Wael Zwaiter, vor seiner | |
Wohnung in Rom und erschossen ihn mit zwölf Kugeln. Kurz darauf wurde der | |
PLO-Repräsentant in Paris, Mahmud Hamshari, von einer in seinem | |
Telefonhörer versteckten Bombe getötet. Insgesamt töteten israelische | |
Agenten und Spezialeinheiten im Rahmen der „Operation Zorn Gottes“ einen | |
der überlebenden Terroristen sowie zwölf mutmaßlich an der Planung des | |
Attentats Beteiligte in Europa und im Nahen Osten. Dabei kamen auch | |
mehrere Unschuldige ums Leben. Die Operation könnte laut Orbach als | |
Blaupause für den Angriff auf al-Aruri und mögliche weitere Attentate | |
dienen. | |
## Beirut ist wichtigstes Hamas-Machtzentrum außerhalb Gazas | |
Ihren Höhepunkt erreichte die Praxis der gezielten Tötungen während der | |
zweiten Intifada, des palästinensischen Volksaufstands Anfang der 2000er | |
Jahre vor dem Hintergrund einer beispiellosen Welle von Terroranschlägen | |
auf israelische Zivilisten. Das System gezielter Tötungen war laut Orbach | |
zu „einer gut geölten Maschine“ geworden. Binnen fünf Jahren wurden mehre… | |
hundert Mitglieder palästinensischer Organisationen und Terrorverdächtige | |
gezielt getötet. | |
2005 beschloss ein Kabinettsausschuss der israelischen Regierung unter | |
Ariel Scharon mit Aussicht auf einen neuen Friedensprozess, auf gezielte | |
Tötungen zu verzichten. Danach seien sie auch im Ausland zurückgegangen, | |
haben aber keineswegs aufgehört, sagt Orbach. Das zeigten Attentate auf | |
Wissenschaftler des iranischen Atomprogramms oder der Mord an Mohammed | |
al-Mabhuh in dessen Hotelzimmer 2010 in Dubai, die Israel zugeschrieben | |
werden. Al-Mabhuh gilt als Mitbegründer der Kassam-Brigaden, des | |
bewaffneten Arms der Hamas. | |
Theoretisch ist die Liste der potenziellen Ziele für weitere Attentate | |
lang: Ganz oben stehen [4][Jahja Sinwar] und Mohammed Deif, die die Hamas | |
und deren Kassam-Brigaden im Gazastreifen leiten und die Hauptverantwortung | |
für den 7. Oktober tragen dürften. Der Großteil der Hamas-Führung aber lebt | |
außerhalb des Gazastreifens. Im katarischen Doha sitzt die offizielle | |
politische Führung um Hamas-Chef Ismail Hanijeh und Chalid Maschal. Sie | |
gelten als offen für Verhandlungen. In Beirut hingegen existiert um Osama | |
Hamdan und den getöteten al-Aruri ein radikalerer Flügel. „Doha ist zwar | |
weiter für die Außenbeziehungen zuständig“, sagt Islamwissenschaftler | |
Reinhard Schulze. „Beirut aber hat sich zunehmend zum wichtigsten | |
Machtzentrum außerhalb von Gaza entwickelt.“ | |
Auch die Doha-Gruppe müsse mit ähnlichen Aktionen rechnen, sagt Schulze. | |
Ronen Bar, der Chef von Israels Inlandsgeheimdienst Schin Bet, hatte | |
gedroht, Hamas-Anführer auch in der Türkei und in Katar ins Visier zu | |
nehmen. Solange aber noch mehr als 130 Geiseln in Gaza festgehalten würden, | |
sei Katar als Kommunikationskanal für Freilassungen wichtig. Mit der Türkei | |
wiederum verbindet Israel trotz eisiger Beziehungen ein großes | |
Handelsvolumen. Aktuell sind dort laut Orbach öffentlich keine ausreichend | |
wichtigen Zielpersonen bekannt, um diese Verbindung zu riskieren. | |
## Der moralische Preis und die Grenzen der Methode | |
Wiegt der Nutzen solcher Tötungen das immense Risiko einer Ausweitung des | |
Krieges in der Region auf? In der Vergangenheit sind zahlreiche | |
Hamas-Anführer bei israelischen Attentaten getötet worden, darunter ihr | |
Gründer Scheich Ahmad Jassin. Dennoch wurde die Organisation über die Jahre | |
immer stärker und genießt auch heute unter Palästinensern viel | |
Unterstützung. | |
Geheimdienstexperte Ronen Bergmann lässt diese Frage in einem Podcast im | |
Mai 2023 offen: Taktisch gebe es gute Gründe für das Mittel der gezielten | |
Tötungen. Doch die Professionalität, die Israels Geheimdienste in diesem | |
Feld entwickelt haben, dürfe nicht über den moralischen Preis und die | |
Grenzen der Methode hinwegtäuschen. | |
Viele israelische Politiker seien im Laufe der Jahrzehnte zu der | |
gefährlichen Einschätzung gelangt, der Mossad habe die Macht, jede | |
Bedrohung aus dem Weg zu räumen. „Sie haben nicht verstanden, dass es ein | |
Limit gibt, bis zu dem sich Probleme mit Gewalt lösen lassen, und dass man | |
seinem Gegner mitunter mit Dialog und Diplomatie begegnen muss.“ | |
Andernfalls laufe Israel Gefahr, auf taktischer Ebene große | |
geheimdienstliche Erfolge zu feiern und dennoch langfristig und strategisch | |
katastrophal zu scheitern. | |
6 Jan 2024 | |
## LINKS | |
[1] /60-Jahrestag-des-Eichmann-Prozesses/!5759178 | |
[2] /Konflikt-zwischen-Israel-und-Iran/!5620186 | |
[3] /50-Jahrestag-des-Olympia-Attentats/!5876313 | |
[4] /Gewalt-in-Nahost/!5772486 | |
## AUTOREN | |
Felix Wellisch | |
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