| # taz.de -- Gregor Gysi über Krieg in Nahost: „Deutschland fehlt der Mumm“ | |
| > Man darf Kriegsverbrechen der Hamas nicht mit Kriegsverbrechen | |
| > beantworten, sagt der Linken-Politiker Gregor Gysi. Er fordert einen | |
| > Waffenstillstand. | |
| Bild: Eine von über 22.000 Toten: Junge Palästinenser bergen die Leiche einer… | |
| taz: Herr Gysi, Sie waren diese Woche [1][in Israel]. Was haben Sie dort | |
| gemacht? | |
| Gregor Gysi: Wir haben einer Klinik in Israel ein Dermatom übergeben, das | |
| ist ein Instrument, um Hautverletzungen zu operieren. In dieser Klinik | |
| stammen 20 Prozent der Patienten aus dem Gazastreifen und aus der Westbank, | |
| es werden dort auch arabische und jüdische Israelis behandelt. Aber in | |
| diesem Krankenhaus macht das keinen Unterschied, da wird jede Krankheit | |
| gleich behandelt, und weil wir das gut finden, haben wir ihnen das Dermatom | |
| geschenkt. Wir, das sind in diesem Fall Professor Doktor Trabert, unser | |
| Kandidat für das Europaparlament, und ich. | |
| Sie haben Angehörige der Geiseln getroffen. Was haben die Ihnen gesagt? | |
| Sie möchten, dass für ihre eigene Regierung die Rettung der Geiseln im | |
| Vordergrund steht, und sie meinen, dass auch unsere Regierung noch mehr tun | |
| könnte – etwa, ihre Beziehungen zum Internationalen Roten Kreuz nutzen und | |
| über Katar vermitteln oder, was noch schwieriger ist, über den Iran. Die | |
| Außenministerin war schon drei Mal bei den Angehörigen, aber ich werde ihr | |
| dazu noch einmal einen Brief schreiben. | |
| Fordern die Angehörigen einen Waffenstillstand? | |
| Man muss einen Weg finden, damit die Hamas die Geiseln freigibt, und dazu | |
| gehört eine Waffenruhe, sonst geht es ja gar nicht. Der Sicherheitsrat der | |
| UNO hat einen Beschluss gefasst, der erstens den Schutz der Zivilisten im | |
| Gazastreifen und zweitens die Freilassung der Geiseln fordert. Denn Geiseln | |
| zu nehmen ist ein schweres Kriegsverbrechen, und sich hinter der | |
| Zivilbevölkerung zu verstecken, wie es der Hamas vorgeworfen wird, | |
| ebenfalls. Aber die Zivilbevölkerung zu bombardieren ist auch ein | |
| Kriegsverbrechen, und man darf Kriegsverbrechen nicht mit Kriegsverbrechen | |
| bekämpfen. Da stehe ich immer auf der Seite des Völkerrechts. | |
| Die Lage in Gaza ist dramatisch. Südafrika hat deshalb gegen Israel | |
| [2][Klage wegen „Völkermord“] erhoben. Was halten Sie davon? | |
| Um einen Völkermord nachzuweisen, muss man belegen, dass das Ziel darin | |
| besteht, eine Bevölkerung letztlich auszurotten. Ich kenne den Schriftsatz | |
| nicht. Ich kann mich noch erinnern, dass der Begriff auch beim Kosovokrieg | |
| verwandt wurde. Wir sollten vermeiden, den Begriff inflationär zu benutzen. | |
| Aber hier haben wir eine andere Situation. Südafrika hat den Antrag | |
| gestellt, dann wird der Internationale Gerichtshof darüber beraten und | |
| entscheiden müssen. | |
| Die Anklage bezieht sich auf Äußerungen von hochrangigen israelischen | |
| Politikern sowie auf die Lage in Gaza, wo Tausende Menschen getötet wurden | |
| und inzwischen Zehntausende von Hunger und Krankheiten bedroht sind. | |
| Bisher gibt es in Gaza rund 22.000 Tote, darunter soll ein hoher | |
| Prozentsatz Kinder und Frauen sein, und das bedeutet, dass wirklich sehr, | |
| sehr viele Zivilisten ums Leben gekommen sind. Es heißt, in Gaza würden | |
| Zettel verteilt, damit die Zivilbevölkerung weiß, welche Gebiete sie räumen | |
| soll. Aber wo sollen sie denn hin, frage ich da? Und wie soll die | |
| humanitäre Hilfe die Menschen dort erreichen? Insofern verstehe ich den | |
| Antrag Südafrikas. | |
| Wie kann den Menschen in Gaza geholfen werden? | |
| Mit einem Waffenstillstand. Unabhängig davon kann die israelische Regierung | |
| Ägypten nicht dazu zwingen, seine Grenzen zu Gaza zu öffnen. Ägypten | |
| glaubt, wenn es die Menschen aufnimmt, dass Israel dafür sorgen wird, dass | |
| die nie wieder in den Gazastreifen zurückkehren können. Die Alternative | |
| wäre, dass Israel auf seinem eigenen Territorium ein temporäres Lager für | |
| die Zivilbevölkerung aufmachte, das wäre eine Geste. Die israelische | |
| Regierung sollte darüber nachdenken. | |
| In Deutschland ist die Linkspartei immer noch die einzige Partei, die einen | |
| Waffenstillstand fordert. Warum? | |
| Wir sind der Auffassung, dass es letztlich nur eine politische und keine | |
| militärische Lösung dieses Konflikts geben kann. Und das geht nur, wenn man | |
| auch mit dem Iran und Katar verhandelt. Was heißt denn, die Hamas zu | |
| vernichten? Jetzt wurde ein Hamas-Anführer in seiner Wohnung in Beirut | |
| [3][in die Luft gesprengt]. Ich stimme da mit Norbert Röttgen überein, der | |
| gesagt hat, entweder, wir kriegen endlich eine Lösung des Nahostkonflikts | |
| hin, oder es kommt zu einem Flächenbrand. | |
| Letztlich wird es nicht gelingen, die Hamas oder die Hisbollah vollständig | |
| zu vernichten. Was es wirklich braucht, ist eine politische Lösung, und das | |
| kann nur eine Zweistaatenlösung sein. Ich glaube, dass jetzt zumindest ein | |
| Teil derjenigen in Israel, die bisher eher dagegen waren, gemerkt hat, dass | |
| man ein anderes Verhältnis zu Palästina finden muss. | |
| Durch den Angriff auf den Hamas-Führer im Libanon droht der Konflikt sich | |
| auszubreiten. Wie lässt sich das verhindern? | |
| Der Hisbollah-Chef Nasrallah soll sich dazu am Mittwoch eher vorsichtig und | |
| nicht so aggressiv wie sonst geäußert haben. Aber letztlich müssen die USA | |
| entscheiden: Wollen sie eine Lösung des Nahostkonflikts, und wollen sie | |
| Israel entsprechend unter Druck setzen? Sie nehmen ja sogar an den | |
| Regierungssitzungen in Israel teil und haben am meisten Einfluss. | |
| Ich denke, die ganze Situation und all der Hass zeigen, wie erforderlich es | |
| ist, eine Lösung für den Konflikt zu finden. Dafür braucht man auch die | |
| UNO. Man kann sie ja kritisieren, wie Israel das macht, aber auch Israel | |
| ist auf die UNO angewiesen. Wer soll denn die humanitäre Hilfe im | |
| Gazastreifen und im Westjordanland leisten, wenn nicht die UNO? Und Israel | |
| braucht die UNO noch darüber hinaus. | |
| Sie haben mal gesagt, China und die USA sollten gemeinsam vermitteln. Wie | |
| realistisch ist denn so ein Tandem? | |
| China hat sich bemüht, war aber nicht besonders erfolgreich. Eine | |
| Waffenruhe, die auch die Chancen für die Befreiung der Geiseln erhöhte, | |
| wird es meines Erachtens nur auf Druck der USA geben. Ich fürchte aber, | |
| dass es im Wahlkampf zwischen Joe Biden und Trump, falls er der Kandidat | |
| der Republikaner wird, eine harte Auseinandersetzung wegen beider Kriege | |
| geben wird – also sowohl dem von Russland gegen die Ukraine als auch dem | |
| von zunächst der Hamas gegen Israel und nun von Israel gegen die Hamas. | |
| Was kann Deutschland tun? | |
| Natürlich kann Deutschland mehr tun, weil es eines der stärksten Länder | |
| Europas ist und Kontakte in alle Richtungen besitzt. Der Bundesregierung | |
| fehlt nur der Mumm. Das hängt natürlich auch mit der deutschen Geschichte | |
| und der Verantwortung für die furchtbaren Verbrechen des Naziregimes | |
| zusammen, für die industrielle Ermordung von Millionen Jüdinnen und Juden. | |
| Das prägt unser Land. Trotzdem müssen wir alle Möglichkeiten nutzen, um | |
| einer Lösung des Nahostkonflikts näher zu kommen. | |
| Was ich nicht verstehe: Weder die israelische noch die deutsche Regierung | |
| haben der Fatah je Erfolgserlebnisse verschafft, sodass deren Ansehen im | |
| Westjordanland stark gesunken ist. Wenn man Leute braucht, die keine | |
| Raketen auf Israel abschießen, warum beschert man denen keine | |
| Erfolgserlebnisse? | |
| Netanjahu hat die Hamas unterstützt, um die Palästinenser zu spalten. | |
| Ja, weil er sie als Konkurrenz gegenüber der PLO und der Fatah stärken | |
| wollte. Der israelische Geheimdienst hat ja sogar mitgeholfen, die Hamas | |
| 1987 zu gründen: Da kann ich nur sagen, das ist wieder so oberschlau, wie | |
| Geheimdienste gerne sind, dreimal quer um die Ecke gedacht, und am Ende | |
| kommt bloß Mist heraus. Das ist natürlich übel. | |
| Waren Sie auch im Westjordanland? | |
| Diesmal nicht, die Zeit war zu knapp. Sonst war ich jedes Mal dort, und | |
| wenn ich wieder nach Israel komme, fahre ich auf jeden Fall wieder ins | |
| besetzte Westjordanland. Aber ich habe Abbas auch schon in Deutschland | |
| getroffen, zuletzt vor ein paar Jahren in Hannover. Da hat er mir erzählt, | |
| wie er von Netanjahu immer wieder hingehalten und gegen die Hamas | |
| ausgespielt wurde. | |
| Nach dem Urteil des Obersten Gerichts, den Justizumbau zu stoppen – wie | |
| fest sitzt Netanjahu noch im Sattel? | |
| Viele gehen davon aus, dass er bald Geschichte ist. Aber noch hat er eine | |
| Mehrheit im Parlament. Die Hoffnung ist, dass gemäßigte Leute seine | |
| Likud-Fraktion verlassen und zur Opposition wechseln. Bisher hat das nie | |
| geklappt. Aber jetzt sind die Umfragewerte für den Likud so schlecht, dass | |
| viele glauben, nicht wieder in die Knesset zu kommen. Das könnte sie zu | |
| einem Wechsel motivieren – diese Hoffnung hat ein Abgeordneter aus der | |
| Opposition mir gegenüber zum Ausdruck gebracht. Ich kann das nicht | |
| beurteilen, aber ich mache da mal ein Fragezeichen. | |
| Ein weiteres Hoffnungszeichen ist, dass das Strafgericht jetzt die | |
| Verhandlung gegen Netanjahu fortsetzt, die es nach dem 7. Oktober | |
| ausgesetzt hatte. Die Frage ist auch, wie er auf das von Ihnen genannte | |
| Urteil des Obersten Gerichts reagiert. Und es gibt das Gerücht, dass Benny | |
| Gantz bald das Kriegskabinett verlassen könnte, um wieder Opposition gegen | |
| Netanjahu zu machen. | |
| Hat Netanjahu ein Interesse daran, den Krieg möglichst lange zu führen, | |
| damit er nicht in Frage gestellt werden kann? | |
| Da ist etwas dran, leider. Aber er könnte sich verrechnen. Es gab schon | |
| einmal so eine Situation, da hat er die Lage eskaliert, und die Hamas | |
| schickte, wie von ihm erwartet, ein paar Raketen. Er ist damals aber | |
| trotzdem abgewählt worden. Der Druck auf Netanjahu ist diesmal besonders | |
| groß, weil viele Menschen extrem unzufrieden sind, weil sie ihm und seiner | |
| Regierung das Versagen der Armee und der Geheimdienste am 7. Oktober | |
| anlasten. | |
| 5 Jan 2024 | |
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| Daniel Bax | |
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