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# taz.de -- Digitale Erinnerung im Ukrainekrieg: Gegen die Unsichtbarmachung
> Das Theater in Mariupol war ein Mikrokosmos des Widerstands. Eine
> Recherchegruppe arbeitet seine Zerstörung durch russische Angriffe auf.
Bild: Digitale Rekonstruktion von dem was, was es nicht mehr gibt: das kriegsze…
Um die 1.000 Zivilist*innen hielten sich im Mariupoler Theater auf, als
am 16. März eine russische Bombe im Bühnenraum des Gebäudes einschlug und
bis zu 600 Menschen tötete. Nachdem Russland die Stadt kurze Zeit später
besetzt hatte, verschwand die Theaterruine hinter weißen Sichtschutzzäunen.
Dahinterliegende Überreste eines der größten Verbrechen an der ukrainischen
Zivilbevölkerung seit Beginn des russischen Angriffskrieges trug man mit
Bulldozern ab.
Gegen diese Unsichtbarmachung und für die Sichtbarkeit ukrainischen
Widerstands setzt sich das ukrainische Centre for Spatial Technologies
(CST) ein. Am Freitagabend stellte es seine Arbeit bei den Berliner
Festspielen vor.
„Der Stuhl stand in diese Richtung – und dort, dort war ein Brett, um den
Luftzug zu stoppen. Hier haben Kinder geschlafen, deshalb durfte dort kein
Zug sein“, erklärt Victoria, eine Überlebende des Anschlags, in einem
Filmausschnitt, den der Leiter des CST, Maksym Rokmaniko an diesem Abend
zeigt. Im Film deutet Victoria auf ein dreidimensionales Computermodell des
Theaterinnenraums, das das CST zusammen mit Forensis, dem Berliner Ableger
des Londoner Rechercheagentur Forensic Architecture, erstellt haben.
Mithilfe tausender Fotos, Geolocations und historischer Baupläne haben sie
das Mariupoler Theater über ein Jahr lang in einem Computermodell
detailgetreu nachgebaut. Anhand von Zeugenaussagen, wie jener von Victoria,
passten die Forschenden das digitale Abbild anschließend an und erweiterten
es um Objekte und Möbel. Stück für Stück kann so nachvollzogen werden,
[1][was sich in dem Gebäude in dem Wochen vor und während des Angriffs
abspielte]: wo sich die Schutzsuchenden aufhielten, wie die Räume genutzt
wurden, und vor allem, was im Moment der Explosion passierte. Mit den
überlagerten Zeugenaussagen will man auch gegen russische Fehlinformationen
angehen.
## Ein Türöffner der Erinnerung
„Traumatische Erinnerungen sind oft schwer abzurufen, ein objektbasierter
Prozess kann ein Türöffner in die Erinnerung sein“, beschreibt Eyal
Weizman, der Gründer von Forensic Architecture, seinen Ansatz der
sogenannten situierten Zeugenaussagen. Mit jener Methode hat die
Recherchegruppe bereits zur Rekonstruktion potenzieller
Menschenrechtsverstöße in syrischen Gefängnissen, dem abgebrannten Londoner
Greenfell Tower und [2][der NSU-Mordserie beigetragen].
Die Aussagen werden akribisch psychologisch und rechtlich vorbereitet,
insbesondere um eine Retraumatisierung der Zeug*innen zu verhindern.
Diese Methode machte sich auch das ukrainische CST zunutze. Aufgrund der
traumatischen Erlebnisse war Rokmaniko zunächst überrascht von der großen
Bereitschaft der Überlebenden, ihre Erlebnisse aus dem Theater zu teilen.
Doch war der Ort, wie sich herausstellte, viel mehr als der Schauplatz
eines Kriegsverbrechens. In den Wochen zuvor hatte sich das Gebäude in
einen Mikrokosmos zivilen Widerstands verwandelt – „in eine Stadt in einem
Gebäude“.
Wie aus den Zeugenaussagen und Rekonstruktionen hervorgeht, wurde das
Theater in kurzer Zeit zu einem Raum der Solidarität, der Kreativität und
gemeinsamen Verantwortung. Menschen versammelten sich um die Feldküche und
ums Klavier, Kinder spielten dort. Die Rekonstruktion bedeutete für die
Überlebenden auch ein Stück Erinnerung zurückzubekommen, während sie die
Beweise dafür unter der russischen Besatzung von ihren Handys löschen
mussten.
Der Vortrag fand im Rahmen des Festivals „Performing Exiles“ statt, das
sich auch mit Berlin als einem Ort des Exils auseinandersetzt. Während im
letzten Jahrhundert noch Menschen emigrieren mussten, sei die Stadt heute
selbst Ort der Exilierten geworden, so das Programm. Die Recherchen zu
„Memory Theatre“ des Centre for Spatial Technologies und Forensis geben ein
Beispiel, wie situierte Zeugenaussagen über ein Mittel der Beweisführung
hinausgehen. Sie zeigen neue Wege für eine digitale Erinnerungskultur im
Exil.
26 Jun 2023
## LINKS
[1] /Ukrainische-Stadt-als-Kriegsziel/!5864879
[2] /Oper-um-Taten-des-NSU-in-Hannover/!5844635
## AUTOREN
Amelie Sittenauer
## TAGS
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Mariupol
Forensik
Architektur
Erinnerung
Ausstellung
Schwerpunkt Nahost-Konflikt
Digitale Medien
Stadtgeschichte
taz.gazete
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