| # taz.de -- Kunst nach dem 7. Oktober: Im Notfall Trial and Error | |
| > Der Kulturbetrieb in Deutschland ist an einem Tiefpunkt. Es wird | |
| > aggressiv gestritten, verbal aufgerüstet, zum Boykott aufgerufen. Was tut | |
| > not? | |
| Bild: Holzkiste, wenn der Künstler streikt: Blick in Ausstellung „Poetics of… | |
| Im Berliner Kunsthaus KW – Institute for Contemporary Art steht inmitten | |
| eines Ausstellungsraums eine Holzkiste. Darin soll ein Kunstwerk aus | |
| Leuchtstoffröhren enthalten sein, so informiert ein Label an der Wand, sein | |
| Verfasser: „American Artist“. Vielleicht ist in der Kiste gar nichts drin | |
| und sie suggeriert nur, man verpasse hier etwas. „American Artist“ | |
| bestreikt das KW als deutsche Kultureinrichtung, hat seine Teilnahme an der | |
| [1][Ausstellung „Poetics of Encryption“] zurückgezogen. Und das KW schlie�… | |
| sich auf eine Art dem Streik an und straft das Publikum mit dieser | |
| Holzkiste ab. | |
| Was ist passiert im deutschen Kunstbetrieb, für das diese Kiste nun ein | |
| Symptom ist? Viel, seit dem 7. Oktober, sehr viel. Und es scheint, als | |
| wären die Ausstellungshäuser an einem Tiefpunkt angelangt. Fragt man bei | |
| Kurator:innen und Museumsleiter:innen nach, wie es hierzulande um | |
| die Kunst und das Ausstellungmachen steht, wird nur zögerlich geantwortet. | |
| Am liebsten möchte man gar keine öffentlichen Aussagen mehr machen. | |
| In den letzten Monaten hatte es viele Absagen gegeben, und ihr Symbolgehalt | |
| ist fatal. Die Hashtags „Censorship“ oder „McCarthyismus“, mit denen in… | |
| sozialen Medien von streikenden Künstler:innen derzeit öffentlich | |
| geförderte Kulturinstitutionen markiert werden, sie sind schon andernorts | |
| in ein festes Narrativ übergegangen. Ganz selbstverständlich leitet der | |
| Autor Eugene Yiu Nam Cheung auf der US-amerikanischen Onlineplattform | |
| e-flux seinen Text über die so desaströs geendete [2][Lesung von Tania | |
| Bruguera im Hamburger Bahnhof] damit ein, dass „in Deutschland ein | |
| zunehmendes Klima der Zensur“ herrsche. | |
| Viel Aufsehen erregte international der Fall der [3][südafrikanischen | |
| jüdischen Künstlerin Candice Breitz]. Sie hätte jetzt im Saarlandmuseum | |
| ihre Videoarbeit zu Prostitution in Südafrika zeigen sollen, doch die | |
| Ausstellung wurde im November mit der Begründung abgesagt, Breitz würde | |
| damit auch ihren politischen Äußerungen zum Nahostkonflikt eine Plattform | |
| bieten. Die Künstlerin hatte zuvor in sozialen Netzwerken und bei | |
| öffentlichen Kundgebungen Kritik an Israel geübt, provozierte mit Begriffen | |
| wie „Apartheid“ und „Genozid“, nannte die israelische Regierung | |
| „sadistisch“. | |
| ## Verweben von Kunstfreiheit und Meinungsfreiheit | |
| In dieser Woche hat die saarländische Museumschefin Andrea Jahn nun | |
| vorzeitig ihren Posten geräumt, anscheinend eine Folge der Absage. Im | |
| Saarland wird diskutiert, ob Kulturministerin Christine Streichert-Clivot | |
| (SPD) zu starken Druck auf Jahn ausgeübt hat. | |
| Doch der Fall Candice Breitz ist vielleicht exemplarisch für eine längere | |
| Entwicklung in der Kunst, die seit den aggressiven Diskussionen um den | |
| Nahostkonflikt für Ausstellungshäuser zu einem paralysierenden Dilemma | |
| geworden ist. Denn die im Kulturbetrieb so viel debattierten Begriffe | |
| Meinungsfreiheit und Kunstfreiheit sind schon lange in der Kunst | |
| miteinander verwoben. Die politisch aktive Breitz und ihre Kunst sind kaum | |
| zu trennen. | |
| „Ich bin skeptisch, ob Kunst das richtige Mittel ist, politisch etwas in | |
| Gang zu setzen“, hatte Künstler Tim Eitel einmal gesagt. „Meistens ist | |
| Kunst ja ein Symptom gesellschaftlicher Prozesse.“ Das stand 2010 in Texte | |
| zur Kunst, als das Magazin in einer Ausgabe die Frage nach dem Politischen | |
| in der Kunst stellte. Noch verortete Tim Eitel das Politische in den | |
| materiellen Verhältnissen. | |
| Autor Helmut Draxler äußerte in der gleichen Ausgabe bereits die Sorge, | |
| dass eine politische Kunst ihre Autonomie verliere und sich unter | |
| Ideologieverdacht stelle. Heute spricht man längst davon, dass die Kunst | |
| ihre Autonomie aufgegeben habe. Schon auf der documenta 2017 ließ sich | |
| beobachten, dass Identität und Autorschaft überhaupt erst den Wert eines | |
| Kunstwerks legitimieren. | |
| In den sozialen Medien hat in den letzten Monaten ein regelrechtes | |
| Aufrüsten stattgefunden, durch Bilder und durch Worte, durch verkürzte | |
| Parolen dank Hashtags wie „Genozid“, „Apartheid“ oder „Rassismus“. … | |
| Fronten sind hart, auch aufgebaut von Künstler:innen und | |
| Kurator:innen. Jene, die meinen, sich mit einfachen politischen Formeln | |
| auf eine vermeintlich gute Seite zu stellen, wenn sie sich für die | |
| palästinensische Sache einsetzten, in einem Konflikt, der so komplex ist, | |
| dass er auch erfahrene Politikexpert:innen überfordert. | |
| ## Boykott als ästhetische Form? | |
| Die Venedig-Kunstbiennale steht an, und jüngst kursierte im Internet ein | |
| Boykottaufruf. Mit grafischer Guerillataktik täuschte eine Website den | |
| offiziellen Auftritt der Biennale vor und rief dazu auf, den israelischen | |
| Pavillon zu stoppen. In kurzer Zeit hatten 18.000 Personen aus dem | |
| internationalen Kunstbetrieb unterschrieben, darunter bekannte und | |
| unbekannte Namen. | |
| Die Künstlerin Hito Steyerl hat einen Begriff für derlei Vorgänge gefunden: | |
| „Boycottism“. Das Boykottieren in den sozialen Medien und den realen Räumen | |
| wie bei „Strike Germany“ deutet Steyerl so als künstlerische Performance. | |
| Damit wäre vielleicht ein Umgang gefunden. Man müsste all die | |
| Unterschriften und Postings nicht mehr als politisches Handeln ernst | |
| nehmen, sie wären dann nur Teil einer ästhetischen Kategorie, eines | |
| gewissen Radical Chic. | |
| Doch ganz so einfach ist es nicht. Das, was verbreitet wird, ist hart, | |
| feindselig, oft einseitig. Man muss letztlich gegenhalten – durch | |
| Aufklärung. Die Diskussionen müssen aus der Unterkomplexität des Internets | |
| herausgehievt werden. Oder man überführt die Diskussionen in den realen | |
| Raum, zum Beispiel in die paralysierten Museen. | |
| Aber bräuchte es dafür etwa einen Polizeischutz, wie es zuvor die Berliner | |
| Innensenatorin Iris Spranger (SPD) forderte, nachdem die Performance der | |
| kubanischen Künstlerin Tania Bruguera im Hamburger Bahnhof in Berlin | |
| schmerzhaft enden musste? Bruguera hatte bei einer geplant 100-stündigen | |
| öffentlichen Lesung von Hannah Arendts Totalitarismusanalyse die Grenzen | |
| der Diskussionsfähigkeit austesten wollen, lud auch israelkritische | |
| Demonstranten ein. | |
| ## Es entlud sich antisemitischer Hass | |
| Während gerade Mirjam Wenzel, Direktorin des Jüdischen Museums in Frankfurt | |
| am Main, aus Hannah Arendts Werk las, entlud sich unter ihnen ein Hass, und | |
| man kann sagen, es war ein antisemitischer Hass, denn er war an die | |
| Repräsentantin einer jüdischen Einrichtung gerichtet: Wenzel wurde als | |
| „Rassistin“ beleidigt und mit den Worten „You are committing genocide – | |
| shame on you“ bedrängt. | |
| Doch Law and Order forderte auch Wenzel nicht, als sie infolge einer | |
| Sitzung des Kulturausschusses im Bundestag Handlungsempfehlungen für Kultur | |
| und Politik veröffentlichte, wie dem ansteigenden Antisemitismus im | |
| Kulturbetrieb zu begegnen sei. Auch administrative Maßnahmen bei | |
| öffentlichen Förderungen, wie es [4][Berlins Kultursenator Joe Chialo mit | |
| der Antisemitismusklausel] versuchte, scheinen ihr kein Mittel. Wenzel, die | |
| Museumsfrau, spricht vielmehr vom „Bereitstellen zusätzlicher Mittel für | |
| die Fortbildung des leitenden Personals von Kultureinrichtungen zur | |
| Stärkung ihres antisemitismuskritischen Urteilsvermögens“. | |
| „Eine staatliche Förderung dieser Schulungen begrüßen wir“, antwortet der | |
| Direktor des Museum Folkwang in Essen, Peter Gorschlüter, auf | |
| taz-Nachfrage. „Die Schulungen sollten aber auch weiterhin von unabhängigen | |
| Fachleuten durchgeführt werden und nicht im Auftrag der Politik.“ Das | |
| Folkwang-Museum war Ende letzten Jahres in die Schlagzeilen geraten, als | |
| der Kurator Anais Duplan nach BDS-nahen Posts zum Nahostkonflikt von einer | |
| Ausstellung abzog und in den sozialen Medien den internen Briefwechsel mit | |
| dem Museum veröffentlicht hatte. Auch jetzt macht Duplan auf Instagram mit | |
| einem Brief gegen das Folkwang auf sich aufmerksam. | |
| „Antisemitismuskritisches Urteilsvermögen“ ist ein guter Begriff und | |
| womöglich schwer zu erreichen. Es begegnet wohl auch dem Ansatz der | |
| [5][Literaturwissenschaftlerin Yael Kupferberg. Die betonte im Zuge der | |
| Aufarbeitung antisemitischer Verfehlungen während der documenta 2022], dass | |
| antisemitische und allgemein diskriminierende Feindbilder immer auftauchen | |
| werden in der Kultur, man müsse aber eine „reflexive Distanz“ zu ihnen | |
| entwickeln. | |
| ## Die „reflexive Distanz“ zu Feindbildern | |
| Diese reflexive Distanz, ein souveränes Verhältnis zu schwierigen Inhalten, | |
| ließe sich auch durch Schulungen in den Vorgesprächen zu den „Codes of | |
| Conduct“, dem Verhaltenskodex im Kulturbetrieb, aufbauen. | |
| Ex-Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) wehrt sich derzeit öffentlich | |
| gegen [6][solche Verhaltensregeln]. Er trat einst als Oberbürgermeister von | |
| Kassel für die Kunstfreiheit der documenta ein, indem er in den Siebzigern | |
| die Findungskommission einführte und so die Weltkunstschau von der Politik | |
| trennte. Aber schränken „Codes of Conduct“ die Kunstfreiheit ein, oder | |
| schärfen sie nicht eher das Bewusstsein? | |
| Die Anforderung, Verfehlungen zu erkennen und ihnen mit Haltung zu | |
| begegnen, dem Druck von Politik einerseits und Aktivist:innen andererseits | |
| standzuhalten, lastet besonders bei Museumsdirektor:innen oder | |
| Kurator:innen. Daher sollten sie Boykottforderungen ablehnen, egal aus | |
| welcher Richtung sie kommen. „Kontroversität muss zugelassen werden“, | |
| schrieben Saba-Nur Cheema und Meron Mendel kürzlich in ihrer FAZ-Kolumne. | |
| Notfalls in einem „Trial-and-Error-Verfahren“, wie Hito Steyerl sagt. | |
| Die Verengung der Diskussion auf Kunst- und Meinungsfreiheit hat noch eine | |
| andere Wirkung. Was ihr zum Opfer fällt, ist die Kunst selbst. Die taucht | |
| in den Debatten nicht auf. | |
| 17 Mar 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Digitale-Sphaere-in-der-Kunst/!5992898 | |
| [2] /Palaestina-Protest-bei-Kunstaktion/!5991553 | |
| [3] /Abwege-des-Aktivismus-in-der-Kunst/!5971023 | |
| [4] /Antidiskriminierungsklausel-in-Berlin/!5982966 | |
| [5] /Symposium-zur-documenta-15/!5974450 | |
| [6] /Abschlussbericht-zur-documenta-15/!5980807 | |
| ## AUTOREN | |
| Sophie Jung | |
| ## TAGS | |
| Bildende Kunst | |
| Ausstellung | |
| Antisemitismus | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Biennale Venedig | |
| GNS | |
| Diskurs | |
| Social Media | |
| Documenta | |
| Documenta | |
| Meinungsfreiheit | |
| Bildende Kunst | |
| zeitgenössische Kunst | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Bildende Kunst | |
| Biennale Venedig | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| zeitgenössische Kunst | |
| Schwerpunkt Nahost-Konflikt | |
| Kulturförderung | |
| Israel | |
| Antisemitismus | |
| Antisemitismus | |
| Documenta | |
| Anti-Israel | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Naomi Beckwith wird documenta 16 leiten: Kurz vor knapp neue Kuratorin in Kassel | |
| Nach Debatten über Kunstfreiheit und dem Rücktritt der Findungskomission: | |
| US-amerikanische Kuratorin Naomi Beckwith wird documenta 16 leiten. | |
| Absage von Comic-Vorstellung in Berlin: Keine Debatte ohne Volker Beck | |
| Die Berliner „Urania“ cancelt kurzfristig die Vorstellung eines Comics über | |
| Jerusalem mit dem französischen Historiker Vincent Lemire. Diese | |
| Überreaktion ist symptomatisch. | |
| Kunstsymposium nach Nan Goldin-Protesten: Aufrüsten und stillstehen | |
| In Berlin fand ein Symposium über Kunst und Aktivismus zur Ausstellung der | |
| Künstlerin Nan Goldin zwar statt, wurde aber durch Boykottaufrufe | |
| abgewürgt. | |
| Kunstfreiheit und ihre Institutionen: Tief sitzt der Argwohn | |
| Ausstellungen sind derzeit ein politisches Kampffeld, ihre öffentliche | |
| Förderung gerät seit dem 7. Oktober ins Wanken. Wie steht es dann um die | |
| Kunst? | |
| Debatte um 7. Oktober: Vernunft statt falscher Gewissheit | |
| Die Politologin Saba Nur-Cheema und der Historiker Meron Mendel haben in | |
| Berlin über den 7. Oktober diskutiert – mit richtigen Argumenten. | |
| Filmemacher Steyerl und Radynski: „Eher ein fraktaler Kolonialismus“ | |
| Hito Steyerl und Oleksiy Radynski über Verstrickungen russisch-deutscher | |
| Gasgeschäfte und ihr Kunstprojekt „LEAK. Das Ende der Pipeline“ in Leipzig. | |
| Aktuelle Kunst und „Globaler Süden“: Eine Debatte, die keine ist | |
| Der „Globale Süden“ ist Leitlinie für Kurator Adriano Pedrosa auf der | |
| jetzigen Kunstbiennale von Venedig. Wofür steht der Begriff in der | |
| Kunstwelt? | |
| Israel und die Biennale in Venedig: Ist das Protest? | |
| Der Krieg in Gaza macht vor der Kunstbiennale in Venedig nicht Halt. | |
| Reaktionen auf die vorläufige Schließung des israelischen Pavillons. | |
| Absage an Israels Pavillon in Venedig: Eine Geste der Solidarität | |
| Die Künstlerin Ruth Patir sollte bei der Biennale Venedig Israels Pavillon | |
| bespielen. Sie macht einen Waffenstillstand im Gazakrieg zur Voraussetzung. | |
| Nancy Fraser von Uni Köln ausgeladen: Boykott mit Folgen | |
| Nach dem 7. Oktober unterzeichnete die Philosophin Nancy Fraser den | |
| Boykott-Aufruf „Philosophy for Palestine“. Jetzt wird sie selbst | |
| boykottiert. | |
| Kulturförderung und Antisemitismus: Risiken bei Bekenntnispflicht | |
| Der Rechtsprofessor Möllers hat Antisemitismusklauseln bei der | |
| Kulturförderung untersucht. Er sieht darin rechtliche Probleme. | |
| Antisemitismus in Institutionen: Es fehlt die Klarheit | |
| Instagram-Aktivismus und Zensurverdacht: Zwischen Antisemitismus- und | |
| Rassismusvorwürfen finden Institutionen wenig Worte. | |
| Gutachten zu Antisemitismusklauseln: Grundsätzlich rechtens | |
| Der Rechtswissenschaftler Christoph Möllers legt ein Gutachten zu | |
| Antisemitismusklauseln in der Kultur vor. Gesetzliche Grundlagen hält er | |
| für notwendig. | |
| Postkoloniale Theorie und Antisemitismus: Die dunkle Kehrseite | |
| Die Postcolonial Studies stehen seit dem 7. Oktober wieder verstärkt in der | |
| Kritik. Die Frage ist, wie antisemitisch sie sind. Eine Analyse. | |
| Symposium zur documenta 15: Die Welt ist zu schnell | |
| Ein Symposium in Kassel sollte den Antisemitismus der documenta 15 | |
| aufarbeiten. Doch es zeigte vor allem, in welcher Krise die Kunst derzeit | |
| steckt. | |
| Abwege des Aktivismus in der Kunst: Vom Pogrom zur „Poetic Justice“ | |
| In der Kunstszene steht politischer Aktivismus hoch im Kurs. Warum sind | |
| allein die Palästinenser das Objekt der Begierde? |