# taz.de -- Abschlussbericht zur documenta 15: Die gut verwaltete Kunstfreiheit | |
> Ein Bericht zur documenta deckt viele Mängel in Kassel auf. Und er zeigt, | |
> wie sich Kunstfreiheit in öffentlichen Kulturinstitutionen bewahren | |
> lässt. | |
Bild: Kassel, Friedericianum wartet auf die nächste Documenta | |
Es herrscht Verunsicherung im Kulturbetrieb. Der Krieg in Nahost | |
polarisiert. Kunstausstellungen werden abgesagt oder Preisverleihungen | |
verschoben. Und nicht jede Entscheidung war richtig in den letzten Wochen. | |
Die documenta fifteen hat im Sommer 2022 mit ihren antisemitischen | |
Verfehlungen, ihrem verantwortlichen und kommunikativen Chaos auf eine | |
unheimliche Weise vorausgegriffen, was jetzt auch andernorts den | |
Kulturbetrieb in Deutschland zermürbt. Nun liegt seit ein paar Tagen der | |
Abschlussbericht einer Ordnungsentwicklung vor, die in Folge [1][der | |
Debatten um die documenta fifteen] von den Gesellschaftern der Kunstschau, | |
der Stadt Kassel und dem Land Hessen, veranlasst wurde. | |
[2][Der Bericht] greift tief in die Organisationsstruktur der documenta und | |
Fridericianum gGmbH vor, legt Mängel auf und gibt Handlungsempfehlungen. | |
Nachdem im November die [3][Findungskommission der anstehenden documenta | |
2027 komplett zurückgetreten] war und damit zunächst alle Prozesse für die | |
nächste Ausgabe der Kunstschau ruhten, soll dieser Abschlussbericht nun den | |
Anstoß dafür geben, die Arbeit wieder aufzunehmen. Im ersten Quartal 2024 | |
solle der Findungsprozess für eine Künstlerische Leitung der 16. | |
documenta-Ausgabe neu starten, teilte der Kasseler Oberbürgermeister Sven | |
Schoeller (Die Grünen) mit. | |
Das gut 50 Seiten umfassende Papier der Metrum Managementberatung aus | |
München, die auch schon von den Bayreuther Festpielen oder dem | |
Goethe-Institut beauftragt wurde, befasst sich mit einer Frage, die gerade | |
bei vielen Kulturinstitutionen zu einem Dilemma zu werden droht: In welchen | |
organisatorischen Strukturen kann ein öffentlich gefördertes | |
Kunstgroßprojekt Diskriminierung von Menschengruppen oder politische | |
Feindbilder vermeiden und andererseits die Kunstfreiheit bewahren. | |
## Ein Code of Conduct soll politischen Dissens vermeiden | |
Bemerkenswert ist, wie die Unternehmensberater die besonders diffizile | |
Stelle zwischen künstlerischer Leitung und Institution lösen, wenn | |
politischer Dissens herrscht. An dieser war die documenta fifteen sichtlich | |
gescheitert, als eine indonesische Kuratorengruppe aus dem sogenannten | |
„globalen Süden“ auf einen deutschen Diskurs über Antisemitismus stieß. | |
Ohne Bevormundung, „auf Augenhöhe“, wie es im Bericht heißt, solle fortan | |
zu Beginn der Zusammenarbeit zwischen künstlerischer Leitung und der | |
documenta gGmbH ein Verhaltenskodex erarbeitet werden, der als eine Art | |
ethischer Maßstab für die Ausrichtung der öffentlichen Ausstellung gelte. | |
Einmalig, schreibt Metrum, sei so ein von der künstlerischen Leitung | |
entworfener Code of Conduct in deutschen Kultureinrichtungen. Er würde für | |
jede documenta-Ausgabe, also alle fünf Jahre, neu erarbeitet. Bislang wird | |
im Kulturbetrieb so ein Verhaltenskodex vor allem für innerbetriebliche | |
Prozesse eingesetzt. Auch das schlägt die Beratungsfirma zusätzlich für die | |
documenta und Fridericianum gGmbH vor. | |
Die Unabhängigkeit einer künstlerischen Leitung, die bei der letzten | |
documenta fifteen wegen der antisemitischen Verfehlungen unter der | |
Direktion von ruangrupa so in Frage gestellt wurde, sie gilt dem Münchener | |
Beratungsunternehmen als unbedingtes Gut. Doch offenbar hatte man es in | |
Kassel 2022 versäumt, sie auch genügend zu gewährleisten. | |
Im Bericht liest man, dass Verantwortlichkeiten nicht klar genug getrennt | |
waren. Die [4][Findungskommission] etwa, die eigentlich nur die | |
künstlerisch Leitung ernennen soll, hatte ruangrupa auch kuratisch | |
Hilfestellung geleistet, Aufgaben von [5][Geschäftsführung und | |
künstlerischen Inhalten vermischten] sich, in der Außenkommunikation wurden | |
die Stimmen von Institution und künstlerischer Leitung kaum getrennt. Die | |
organisatorischen Gegebenheiten müssten aber derart gestaltet sein, dass | |
die documenta gGmbH sich auch von den künstlerischen Inhalten distanzieren | |
kann. Auch das gewähre die Kunstfreiheit. | |
## Kleinerer documenta-Aufsichtsrat mit Beteiligung des Bunds | |
Zu den im Bericht geforderten klaren Verantwortlichkeiten gehöre in Zukunft | |
ein kleinerer documenta-Aufsichtsrat von fünf bis neun Personen, bislang | |
sind es zwölf. Ihm sollten neben Vertreter:innen der Stadt Kassel und | |
des Landes Hessen nunmehr auch Vertreter:innen des Bundes angehören. | |
Der war 2018 aus dem Aufsichtsrat ausgeschieden. Ein neu einzurichtender | |
wissenschaftlicher Beirat solle zudem den Aufsichtsrat bei Entscheidungen | |
unterstützen. | |
Und noch ein Detail fällt in diesem Bericht auf: Offenbar ist das | |
stimmliche Chaos während der documenta fifteen auch darauf zurückzuführen, | |
dass die Anzahl der Mitarbeiter:innen für die wenigen Monate der | |
Ausstellungszeit massiv anstieg, viele von ihnen aber nur kurzfristig | |
eingearbeitet und prekär angestellt waren. Hier empfiehlt die | |
Beratungsfirma bessere Bezahlung und mehr Verbindlichkeit für | |
Arbeitnehmer:innen. Es überrascht nicht, aber man kann es sich für so ein | |
großes Kunstereignis wie die documenta vor Augen führen: Eine ungute | |
Arbeitssituation führt auch – nach innen wie nach außen – zu unguten | |
Entscheidungen. | |
20 Dec 2023 | |
## LINKS | |
[1] /documenta-im-Kulturausschuss/!5912363 | |
[2] https://www.documenta.de/de/press#press/3335-abschlussbericht-der-organisat… | |
[3] /Documenta-Kommission-tritt-zurueck/!5973132 | |
[4] /documenta-fifteen--eine-Bilanz/!5883282 | |
[5] /Ruecktritt-von-Documenta-Chefin/!5868917 | |
## AUTOREN | |
Sophie Jung | |
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