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# taz.de -- Menschen in Kassel sind am glücklichsten: Zufrieden im Mittelmaß
> Kassel ist laut einer neuen Studie die glücklichste Stadt Deutschlands.
> Wie bitte?! Unsere Autorin kommt aus Kassel und versucht es zu verstehen.
Bild: Kassler essen Kasseler
[1][„Kassel, du bist für mich ein Traum aus Asphalt“], sangen die „Echten
Kerle“ 2011 a cappella auf der klebrigen Bühne meiner Gesamtschule. Nach
dem mittelmäßigen Auftritt blieb ein wochenlanger Ohrwurm, den wir bei
Grillfesten auf dem Bundesgartenschau-Gelände weiter sangen, „nie zu nass
und nie zu trocken, nie zu warm und nie zu kalt“. Von diesem kurzen Hype
der Heimatverbundenheit ist bei mir nach der Schule wenig geblieben. Nichts
wie weg, dachte ich eher. Lieber raus aus der Stadt, bei der man nach der
Abifeier um 11 Uhr nachts mit dem Bier in der Hand nach Hause läuft, weil
man dachte, es passiert noch was und dann passiert nichts mehr.
Doch auch wenn es überrascht: [2][Irgendwas scheint an der nordhessischen
Großstadt toll zu sein]. Denn sie ist im SKL Glücksatlas des Allensbacher
Instituts dieses Jahres zur glücklichsten Stadt Deutschland erkoren worden.
Noch überraschender ist der erste Platz, weil Kassel in vielen objektiven
Faktoren eher mittelmäßig abschneidet. Zuletzt „stieg die Arbeitslosigkeit
auf 8,4 Prozent. Im Ranking der Lebensqualität liegt die nordhessische
Stadt nur auf Rang 16 von 40“, steht auf der Glücksatlas-Website. Kassel,
wie viele andere Städte in den oberen Rängen der Liste, gehört damit zu den
sogenannten „Overperfomern“, da das subjektive Glücksempfinden über der
erfassten „tatsächlichen“ Lebensqualität liegt.
Warum ist das so? Auch nach jahrelangem Abstand kann ich höchstens
mittelmäßige Worte über Kassel finden. Schlimm zum Beispiel, dass in
Soziokultur so wenig investiert wird. Man könnte ja vielleicht mal
versuchen, die jungen Menschen, die wegen der Kunst-Uni in der Stadt
kommen, auch zum Bleiben zu motivieren. Stattdessen wurde [3][der einzig
annehmbare Technoklub], das Arm, vor einigen Jahren geschlossen und ein
beliebter Treffpunkt, die Perle II, nun auch. Oder den absurd teuren und
schlechten ÖPNV angehen (drei Euro für ein Einzelticket in der Innenstadt,
wo sind wir hier? In Berlin oder was?). In dem Stadtteil, in dem ich
aufgewachsen bin, fährt bis heute kein Bus nach 22 Uhr (Wo sind wir hier?
Auf dem Dorf oder was?).
## Die Documenta gibt's, immerhin
Vielleicht, denke ich aber, ist es bei diesem phänomenalen Ergebnis im
Glücksatlas an der Zeit, mit dem Meckern, dem „Gemähre“, wie es in der
Mundart heißt, aufzuhören und mit einem frischen Blick auf die Stadt zu
schauen. Schließlich sehen auch die über 700.000 Besucher*innen der
internationalen Ausstellung für Moderne Kunst, documenta, die dort alle
fünf Jahre stattfindet, in Kassel eine Perle. Zumindest für Kurztrips
scheint die Stadt also okay zu sein.
Laut dem Institut Allensbach finden sich die glücklichsten Menschen in
Städten, „die familiär, beschaulich, sicher und grün geblieben“ sind. Wa…
sie in Kassel leben, das habe ich in den letzten Jahren Freund*innen und
meine Familie gefragt. Die Antworten decken sich mit den Ergebnissen des
Glücksatlasses: Man könne gut Radfahren und Spazieren. „Ich kenne keine
Stadt, in der man loslaufen kann und stundenlang nur alte Bäume, Parks und
keine Autos sieht“, sagte kürzlich eine Freundin zu mir.
Nagut, es gibt einige Sachen, mit denen Kassel angeben kann und die Leute
mit Stolz sagen lässt: Die Stadt hat sich gemacht! Mit über 2,4
Quadratkilometer ist der Bergpark Wilhelmshöhe der größte Europas und
Weltkulturerbe – und wunderschön! Die sommerlichen Wasserspiele an den
Kaskaden des Denkmals Herkules – auch toll! Die Fulda, die direkt an der
Innenstadt vorbeiführt – deutsche Adria!
## Mystische Stadt
Die Überbleibsel der documenta, wie etwa ein Bronze-Baum oder ein riesiger
Fotorahmen, die nach der Ausstellung in der Stadt blieben – ziemlich
sympathisch. Und schließlich hat Kassel trotz der Einschnitte eine
beachtliche Kulturszene aufgebaut, die international erfolgreiche Band
Milky Chance kommt auch aus Kassel – Zufall? Ich glaube nicht.
Glücklich macht Kassel aber wahrscheinlich gerade deswegen, weil es eben
nicht overperformt. Einwohner*innenzahl mittel, nicht zu viel Lärm,
nicht zu viel Arbeitslosigkeit, die Mieten sind ok, geografisch liegt es
sogar in Deutschlands Mitte. Für viele von außerhalb bleibt Kassel ein
Mysterium, die meisten kennen vielleicht den nicht wirklich einladenden
Willi-Bahnhof, weil sie dort immer umsteigen und danach behaupten Kassel zu
kennen.
Oder ihnen kommt – Achtung grober Fehler – der Kassler Braten in den Kopf.
Der kommt aber gar nicht aus Kassel. Die deutsche Salciccia „ahle Wurscht“
dafür übrigens schon. Gut für Kasseler, Kasselaner oder Kasseläner (je
nachdem, wie viele Generationen schon in Kassel gelebt haben). So bleibt
alles, wie’s ist, und die Leute glücklich. Oder wie man hier sagen würde:
das Mittelmaß, s’ schigget.
30 May 2024
## LINKS
[1] /Besuch-in-Kassel/!5960606
[2] /Abschlussbericht-zur-documenta-15/!5980807
[3] /Leipziger-Musikclub-IFZ-schliesst/!6013818
## AUTOREN
Ann-Kathrin Leclere
## TAGS
Kassel
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