# taz.de -- Eröffnung der documenta15 in Kassel: Die Grenzen des Aktivismus | |
> Die documenta mobilisiert ländliche Traditionen gegen modernere | |
> Kunstpraktiken. Das ist nicht immer gut für die Kunst. Und auch nicht für | |
> die Politik. | |
Bild: Werk der indonesischen Künstler „Taring Padi“, Hallenbad-Ost, Kassel… | |
Über die Freiheit der Kunst wurde im Vorfeld dieser 15. documenta viel | |
debattiert. Darüber wie unmittelbar politisch die Kunst sprechen soll. Und | |
wie es um ästhetische Positionen für eine Beurteilung steht. In den | |
Diskussionen ließ sich das „neue“ Kunstverständnis nie so recht greifen. | |
Die vielköpfige Kuratorengruppe Ruangrupa lud nun über 50 andere Kollektive | |
aus der Welt nach Kassel ein. Begriffe wie „lumbung“ und „ruru“, entnom… | |
aus dem dörflichen Ethos indonesischer Reisbauern, sollen einen | |
kuratorischen Gegenentwurf zu dem liefern, was man sonst von der documenta | |
kannte. | |
Über 1.500 Personen sind nun an der documenta 15 beteiligt. Künstlerinnen | |
aus Trinidad und Haiti, aus Mali und dem Niger, Indien, Indonesien oder | |
Vietnam sind dabei. Im Vorfeld wurden so viele Verantwortlichkeiten und | |
Gelder aufgeteilt, dass sich eine Idee davon, welche Kunst denn nun | |
entstehen würde, immer mehr zerfaserte. Ein Wagnis für eine der größten | |
Kunstschauen weltweit, die alle fünf Jahre über 500.000 Besucher:innen | |
in das eher recht beschauliche Kassel pilgern lässt. | |
## Gemeinschaftlicher Prozess | |
Jetzt hat die documenta endlich eröffnet. Und behauptet Kunst als einen | |
rein gemeinschaftlichen Prozess. Man verzichtet auf die einprägenden | |
Inszenierungen einzelner Künstlerpersönlichkeiten und große | |
Kuratorenstreiche. Das meiste hier ist tatsächlich noch im Entstehen. | |
Doch läuft man nun durch die großen Ausstellungshallen, das Fridericianium, | |
die Documentahalle oder jenseits der Fulda, in das ziemlich abgelegene | |
Bettenhausen zu der ehemaligen Fertigungshalle der Firma Hübner, wo es noch | |
immer nach Schmieröl und Metallspähnen riecht, so meint man, vor allem eine | |
große Werkstatttour zu bestreiten. Man betritt Räume, in deren Regalen noch | |
die Tonobjekte trocknen, und trifft auf den diskreten Charme von | |
Wandgrafiken, auf denen Workshopergebnisse skizziert sind. | |
In der Hübner-Halle hängt ein riesiger Webteppich aus Karton, Zeitung, | |
Baumwolle und Acryl schneckenförmig von der Decke. Das schwebende Vestibül | |
des ADN-Collectives aus Mali soll einen Versammlungsort von | |
Dorfgemeinschaften abbilden. Eine filigran anmutende Architektur. Der | |
Gruppe El Warcha aus Tunis kann man im Fridericianium dabei zusehen, wie | |
sie aus vorgefertigten Möbelteilen funktionslose Objekte zimmert. | |
In der Documenta-Halle riecht es nach Druckerfarbe. Ein geschäftiges | |
Mitglied von Fehrar Publishing Practices druckt an großen Maschinen Plakate | |
und Zines aus. Prozess ist hier die Aktion der anderen. Man schaut auf die | |
Bühnen – und geht dann weiter dran vorbei. Diese Kunstbehauptung bräuchte | |
wohl auch einen anderen Ausstellungsbegriff. Warum nicht eine Documenta als | |
ein großes Kunstcamp, wo man sich mit diesen vielen Menschen, die vor ihren | |
stillen Installationen stehen, wirklich austauscht? | |
## Asia Art Archive | |
Vom Asia Art Archive aus Hongkong würde man sehr gerne mehr über den | |
Prozess der Recherche erfahren. Die freie Initiative sammelt Video- und | |
Performancekunst. Auf kleinen Bildschirmen flimmern nun rare Aufnahmen von | |
Ray Langenbach, der von 1980 bis 2000 eine subkulturelle Szene der | |
Performancekunst in Südostasien mit der Kamera dokumentierte. | |
Die damalige Repression in Suhartos Indonesien oder des Militärs in | |
Thailand, sie bildet sich in drastischen Aktionen heute weitgehend | |
unbekannter Künstler:innen ab. Kopfüber ließ sich einer in die Erde | |
einbuddeln, um mit seinen noch freien Beinen in der Luft Fahrrad zu fahren. | |
Ein anderer beißt rohe Eier auf. | |
Humor und Schmerz liegen nah beieinander. Wie macht das Asia Art Archive so | |
etwas ausfindig? Unter welchen Bedingungen sammeln sie diese im von Peking | |
beobachteten Hongkong? Fragen, die man gerne diskutieren würde, stattdessen | |
gibt es Vitrinen und kleine Bildschirme. | |
## Kassel grüßt die Taliban | |
Viele der geladenen Gruppen bleiben also letztlich im klassischen Format | |
einer Ausstellung. Auch die Galerie Eltiqa aus dem von der Hamas | |
kontrollierten Gaza. Neben folkloristischen Malereien verweist sie in | |
Infotexten auf Finanzprobleme und nicht bezahlbare Mieten. Freie Kunst, | |
klar, braucht zu allererst einen Ort. [1][Doch wie frei ist die Kunst von | |
Eltiqa?] | |
Oder ist sie vielmehr das Resultat finanzieller und politischer | |
Abhängigkeiten, wenn jemand wie Mohammed Al Hawajri so | |
instrumentalisierbare Bilder macht, wie seine hier ausgestellten | |
Fotocollagen? In die Reproduktionen einer Bauernidylle des Barbizon-Malers | |
Jean-François Millet platziert er die Fotos hoch ausgerüsteter junger | |
Soldaten. | |
Trifft auf dieser Arbeit mit dem Titel „Guernica Gaza“ etwa das israelische | |
Militär auf die unschuldig schlummernden Kleinbauern in Gaza wie 1937 die | |
Nazi-deutsche Legion Condor auf die baskische Kleinstadt Guernica? [2][Hier | |
werden giftige Parallelen aufgemacht, die kaum mit der Phrase von der | |
„Freiheit der Kunst“ zu legitimieren sind.] Im Treppenaufgang leuchtet es | |
islamistisch: „Kabul – Graveyard of Empires“, Freude über das Scheitern … | |
Demokratie in Afghanistan. | |
Seltsam, wie hier vieles postkolonial zusammengemixt wird. Nur ein paar | |
Meter weiter hat sich Party Office B2B Fadescha aus Neu-Delhi in den | |
Kellergewölben des Hauses an der Werner-Hilpert-Straße seinen Darkroom | |
installiert. Zwischen dunkelroten Plastikvorhängen und SM-Inventar wird | |
eine Subkultur aus Indien sichtbar, deren Sexpraktiken Klasse, Geschlecht | |
und familiäre Rollen auflösen will. Man taucht kurz ein auf dieser | |
documenta, in die Behauptungen der verschiedenen Kollektive, doch bleibt | |
vieles bruchstückhaft und unvermittelt. | |
## Korea, Kolumbien und VW | |
Letztlich sind es wohl die wenigen klassisch ausgearbeiteten | |
Kunstinstallationen, die tatsächlich etwas erzählen können. Auf den ruhigen | |
Landschaftsaufnahmen in dem Video der südkoreanischen Künstlergruppe | |
ikkibawiKrrr hat die Natur einen verheerenden Schauplatz des Zweiten | |
Weltkriegs sich zurückerobert. | |
Die Bunkeranlagen, Landebahnen und Grabstätten auf den pazifischen Inseln | |
Jeju oder Peleliu sind von Pflanzen überwuchert, tropische Bäume haben ihre | |
Wurzeln um den Beton geschlungen, ein sonorisches Kratzen von | |
Saiteninstrumenten klingt, als käme selbst die Klanguntermalung des Films | |
von den Lianen und Ästen auf den projizierten Bildern. Dieses Ökosystem ist | |
von militärischen und industriellen Hinterlassenschaften des Weltkrieges | |
geprägt, Korea bis heute politisch geteilt. | |
In einem Glashaus im Auepark hat die kolumbianische Gruppe Mas Arte Mas | |
Accion Baumstämme zu einem containergroßen Stapel angeordnet. Die Sonne | |
prallt auf das Dach, der Duft, des so viele Jahre organisch gewachsenen | |
Materials, füllt den heißen Raum. Schön und betrübend zugleich. Rauschige | |
Tonaufnahmen kommen vom Glasdach: Motorsägen, Gespräche, Vogelgezwitscher – | |
paradiesische und höllische Sounds aus einem Mangrovenwald in Kolumbien, wo | |
Drogenhandel und Armut auf Abholzung treffen. | |
Entlang des gewundenen Flanierwegs im Auepark hat Mas Arte Mas Accion | |
weitere Baumstämme als kleine Sitze auf dem saftigen Gras verteilt. Man | |
setzt sich, schaut auf die Bäume, die unter dem gleißenden Sonnenlicht der | |
Eröffnungstage schon zu schwächeln scheinen. | |
Aber werden einem so die Zusammenhänge klar, die diese documenta darstellen | |
will? Oder sind es eher die Grenzen des Aktivismus in der Kunst. Eine Band | |
von VW-Betriebsangehörigen spielte unter dem Logo des Autoriesen bei der | |
Eröffnung. Ukrainefahnen waren hingegen nicht zu sehen. | |
18 Jun 2022 | |
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## AUTOREN | |
Sophie Jung | |
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