# taz.de -- Ausstellung zur ersten documenta 1955: Vergessen und vergessen gema… | |
> Die erste documenta 1955 sollte auch eine Kunst rehabilitieren, die unter | |
> den Nationalsozialisten verfolgt wurde. Aber tat sie das wirklich? | |
Bild: Lücken im Kanonisierungsprozess der ersten documenta? Blick in die Solin… | |
Die Krise der documenta ist ihr Dauerzustand und gleichzeitig ihr | |
Lebenselixier, sagte der Kunstwissenschaftler Harald Kimpel kurz nach der | |
letzten documenta 2017. Damals stand die Kasseler Kunstausstellung wegen | |
über fünf Millionen Euro zu viel ausgegebener Gelder in der Kritik. 2022, | |
anlässlich der documenta 15, sieht sich [1][das indonesische | |
Kurator:innenteam ruangrupa mit Antisemitismusvorwürfen konfrontiert]. | |
Eine geplante Gesprächsreihe zur Entkräftung der Anschuldigungen sagten die | |
Verantwortlichen jüngst kurzfristig wieder ab. Auch die im letzten Jahr | |
bekannt gewordene NS-Vergangenheit eines der documenta-Gründer, Werner | |
Haftmann, wirft kein gutes Licht auf die traditionsreiche | |
Ausstellungsreihe. Die Krise, sie scheint zu bleiben. | |
Dass die Gesinnung derer, die Kunst für ein großes Publikum kuratieren, | |
entscheidend ist, macht aktuell eine Ausstellung in Solingen deutlich. Das | |
Zentrum für verfolgte Künste vergleicht die erste documenta 1955 mit der | |
Vierten Großen Kunstausstellung in Kassel 1929. Es fällt auf: Ein Großteil | |
der Künstler:innen wurden auch nach der NS-Zeit vergessen. | |
Die Solinger Ausstellung rekreiert in Teilen die Schau von 1929. Es sind | |
hintergründige Bilder darunter, die teilweise das kulturelle Aufleben in | |
der Großstadt der zwanziger Jahre widerspiegeln, gleichzeitig aber bereits | |
mit dunklen Pinselstrichen das kommende Jahrzehnt herbeizuzeichnen | |
scheinen. Eric Isenburger porträtierte so etwa in dämmerlichternen Farben | |
– schwarz, tintenblau, leichengrün – den Kunstsammler Wolfgang Gurlitt, der | |
mit seiner jüdischen Abstammung und gleichzeitiger Teilhabe am | |
NS-Kunstgeschäft für schräge Zwischentöne auf der nationalsozialistischen | |
Kulturklaviatur sorgte. | |
Auch Joachim Ringelnatz war unter den Ausstellenden 1929. Während heute vor | |
allem seine humoristischen Gedichte und Erzählungen bekannt sind, wurden | |
seine Aquarelle in den zwanziger Jahren im In- und Ausland präsentiert. | |
Viele der in der Vierten Großen Kunstausstellung gezeigten Werke sind | |
verschollen. Sie wurden von den Nazis als „entartet“ klassifiziert und | |
verkauft oder zerstört. Dem Zentrum für verfolgte Künste scheint vor allem | |
daran gelegen, den heute vergessenen Künstler:innen posthum Bekanntheit | |
zu verleihen und ihre Werke fast 100 Jahre später erneut auszustellen. | |
Dass Künstler:innen mitunter jedoch nicht nur vergessen, sondern eher | |
vergessen gemacht werden, darauf macht die Ausstellung in Solingen | |
nüchtern, ohne direkte Schuldzuweisungen aufmerksam. Die Vierte Große | |
Kunstausstellung 1929 ist von demselben Kurator organisiert worden, der | |
1955 auch die erste documenta ausrichtete: von Arnold Bode. Bode selbst | |
gilt als unbelastet, blieb zeit seines Lebens SPD-Mitglied und wurde | |
während der NS-Zeit mit Berufsverbot belegt. | |
Von seinem wichtigsten Mitarbeiter, Werner Haftmann, kann man dies freilich | |
nicht behaupten. Im letzten Jahr wurde nicht nur seine NSDAP-Mitgliedschaft | |
enthüllt, es stellte sich überdies heraus, dass er im Zweiten Weltkrieg | |
Partisanen folterte und Zivilist:innen ermordete. Haftmann, der mit | |
„Malerei im 20. Jahrhundert“ ein Standardwerk zur Kunstgeschichte | |
verfasste, galt als wortgewaltig, 1955 hielt er die Eröffnungsrede zur | |
documenta 1. | |
Deren erklärtes Ziel war es, von den Nazis verfemte Künstler:innen zu | |
rehabilitieren und den Bruch mit dem NS-Kunstverständnis | |
öffentlichkeitswirksam und international zu zelebrieren. Das kann jedoch | |
mitnichten als erfolgreich gelten. Während das Fehlen von kommunistischen | |
Künstler:innen noch mit der antikommunistischen Stimmung der jungen BRD | |
entschuldigt werden könnte, ist die Tatsache, dass unter den 148 | |
ausgestellten Künstler:innen kein einziger jüdischer war, kaum | |
gesichtswahrend zu begründen. | |
Auch mussten nur acht der 1955 in Kassel ausgestellten Künstler:innen | |
während der NS-Zeit ins Exil, erfährt man auf einer Wandtafel im Museum. | |
Die restlichen hatten sich mit den Verhältnissen in Deutschland wohl | |
irgendwie arrangiert. | |
## Rehabilitation oder vielmehr Hohn? | |
Haftmann schrieb später von der NS-Kulturpolitik als „Bildersturm“, der als | |
solcher der Kunst und vor allem den Künstler:innen, die im Untergrund | |
weiterarbeiteten, nichts anhaben konnte. In dem Kontext wirkt es fast | |
höhnisch, dass weniger als die Hälfte der 1955 ausgestellten | |
Künstler:innen von der Beschlagnahmungsaktion „Entartete Kunst“ 1937/38 | |
betroffen war. Kunst rehabilitieren zu wollen, ohne Maler wie Max | |
Liebermann oder Felix Nussbaum, der das berühmte „Selbstbildnis mit | |
Judenpass“ schuf und 1944 in Auschwitz ermordet wurde, zu zeigen, kann | |
nicht gelingen. | |
Es irritiert daher, dass Haftmanns Nazi-Vergangenheit in der Ausstellung | |
kaum konkret thematisiert wird. „Rückblickend scheint insbesondere Werner | |
Haftmann stärker von der nationalsozialistischen Kunstpolitik beeinflusst | |
gewesen zu sein, als 1955 wahrgenommen wurde“, heißt es lediglich auf einer | |
Wandtafel. Nicht nur fanden von den Nazis als „kulturbolschewistisch“ | |
diffamierte Künstler:innen keinen Eingang in den Auswahlprozess der | |
ersten documenta, [2][Haftmann bot stattdessen gerade den Künstler:innen | |
Platz, die er der NS-Führung 20 Jahre zuvor] noch als „deutsche Sendung“ | |
angepriesen hatte, heißt es weiter. | |
Die Solinger Kurator:innen mutmaßen vorsichtig über die Gründe | |
dahinter: Die documenta 1955 sei durch Eleganz und Stille geprägt gewesen, | |
„ganz so, als wolle man die Besucher:innen nicht durch antibürgerliche | |
Kunst und ‚riskante Quellen‘ irritieren“. | |
Eine heute so schwierige Figur wie Emil Nolde schien zehn Jahre nach Ende | |
der NS-Herrschaft hingegen nicht zu irritieren. Die erste documenta zeigte | |
Werke des expressionistischen Malers. Noldes Kunst wurde zwar von den | |
Nationalsozialisten als „entartet“ verfemt, doch [3][spätestens seit der | |
2019 im Hamburger Bahnhof in Berlin gezeigten großen Nolde-Ausstellung] ist | |
dessen Verehrung für die NS-Ideologie samt glühendem Antisemitismus | |
allgemein bekannt. Haftmann wusste über Noldes Gesinnung stets Bescheid. | |
Einen Widerspruch zum Beginn der neuen demokratischen Moderne, die die | |
erste documenta in Deutschland einläuten sollte, scheint er nicht gesehen | |
zu haben. | |
31 May 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Debatte-um-BDS-und-documenta-15/!5825724 | |
[2] /Naziverstrickungen-der-fruehen-documenta/!5777263 | |
[3] /Emil-Nolde-war-ein-Antisemit/!5584897 | |
## AUTOREN | |
Julia Hubernagel | |
## TAGS | |
Documenta | |
Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
Entartete Kunst | |
Emil Nolde | |
Documenta | |
Documenta | |
Bildende Kunst | |
Antisemitismus | |
Schwerpunkt Kunst und Kolonialismus | |
Anti-Israel | |
Kolumne Der rote Faden | |
Documenta | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Salzburger Museum über Kunst in NS-Zeit: „Wir haben uns lange nicht gesehen�… | |
Das Museum Kunst der verlorenen Generation in Salzburg bietet Raum für | |
Künstlerinnen*, die zur NS-Zeit als „entartet“ galten und vergessen wurden. | |
Emil Noldes NS-Vergangenheit: Expressionist in Grau | |
Mischa Kuball setzt in Kassel seine Forschung zur NS-Tätigkeit von Emil | |
Nolde fort. In seinem Konzeptkunstwerk wird der Maler entzaubert. | |
Hamburger Ausstellungsort „Parabel“: Ein Zuhause für verkannte Kunst | |
Im einer umgenutzten Hamburger Kirche entsteht ein Ausstellungszentrum für | |
die lokale Kunst. Initiiert hat „Parabel“ die Kunstsammlerin Maike Bruhns. | |
Eröffnung der documenta15 in Kassel: Die Grenzen des Aktivismus | |
Die documenta mobilisiert ländliche Traditionen gegen modernere | |
Kunstpraktiken. Das ist nicht immer gut für die Kunst. Und auch nicht für | |
die Politik. | |
Politisierung auf der documenta 15: Kunst im Anflug auf Kassel | |
Der postkoloniale hat den proletarischen Internationalismus in der Debatte | |
abgelöst. Doch wie reagiert die Kunst darauf? | |
Antisemitismus bei documenta15: Rassismus und „Islamophobie“ | |
Bald beginnt die documenta 15 in Kassel. Da drohen unerquicklicke Debatten | |
über Israel. Von daher ist es ratsam, Schlüsselbegriffe vorab zu klären. | |
Streit um die Documenta 15: Antisemitismus oder Humanismus? | |
Das Künstlerkollektiv Ruangrupa kuratiert die Documenta. Die Kritik, es | |
habe radikale Antizionisten eingeladen, ist nicht aus der Luft gegriffen. | |
Naziverstrickungen der frühen documenta: Der Neuanfang, der keiner war | |
Eine Ausstellung in Berlin beleuchtet die Geschichte der documenta. Vom | |
Mythos der kulturellen Neugründung der Bundesrepublik bleibt wenig übrig. |