| # taz.de -- Kirche wird Ausstellungsort: Eine Heimstatt für die Verfemten | |
| > Mit „Parabel“ hat Sammlerin Maike Bruhns den ersten Ort für Hamburger | |
| > verfemte Kunst eröffnet. Die aktuelle Schau zeigt auch | |
| > KZ-Häftlingszeichnungen. | |
| Bild: Bekommt ein zweites Leben: die zum Kunstort umgewidmete Nikodemus-Kirche … | |
| Kunst als bloße Dekoration an der Wand ist ihre Sache nicht. Eher schätzt | |
| die Hamburger Kunsthistorikerin und -sammlerin Maike Bruhns, die kürzlich | |
| einen neuen Ausstellungsort schuf, Kunst, die Zeitgeschehen reflektiert. | |
| Die zum Beispiel die monströse Gewalt der NS-Zeit in Bilder setzt und die | |
| vorgebliche Amnesie der TäterInnengesellschaft Lügen straft. Denn | |
| KünstlerInnen – Kulturschaffende generell – sind in beginnenden Diktaturen | |
| oft als Erste von Berufsverbot, Haft und Flucht bedroht. | |
| Über all das hat die TäterInnengesellschaft lange geschwiegen. Auch deshalb | |
| wurde die Rolle der Kunst in der NS-Zeit auch in Bruhns’ Heimatstadt | |
| Hamburg lange weder beachtet noch systematisch erforscht. Bemerkt hat sie | |
| das in den 1980er-Jahren während ihrer Doktorarbeit über die | |
| jüdischstämmige neosachliche Malerin [1][Anita Rée], Mitgründerin der | |
| KünstlerInnenvereinigung „[2][Hamburgische Sezession“]. Die löste sich 19… | |
| auf, um dem Ausschluss jüdischer Mitglieder zu entgehen. Im selben Jahr | |
| nahm sich Rée das Leben. Andere flohen oder gingen in die innere | |
| Emigration. | |
| „Angesichts so vieler tragischer Schicksale fand ich es ungerecht, dass die | |
| Rolle Hamburger KünstlerInnen nicht erforscht war“, hat [3][Maike Bruhns] | |
| einmal gesagt. Überhaupt liege Hamburger Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts | |
| seit Jahrzehnten als [4][marginalisiert] in den Depots. Dabei sei sie | |
| hochwertig und eigenständig. In der Tat kann sich die 1940 nach Portugal | |
| geflohene Jüdin Gretchen Wohlwill durchaus mit Max Liebermann messen. Und | |
| der von den Nazis als „entartet“ diffamierte, 1933 nach Norwegen emigrierte | |
| Rolf Nesch kann Edvard Munch das Wasser reichen, wie eine Ausstellung 2019 | |
| in Hamburgs Kunsthalle bewies. | |
| Dies im Blick, fing Maike Bruhns früh an, Hamburger Kunst zu sammeln – von | |
| Verfemten, Verfolgten, linken KünstlerInnen und ins Exil geflohenen. 3.500 | |
| Werke vom Ersten Weltkrieg bis heute fasst die Sammlung jetzt. 2001 gab | |
| Bruhns zudem das Grundlagenwerk „Kunst in der Krise. Hamburger Kunst im | |
| 'Dritten Reich. Künstlerlexikon Hamburg 1933–1945“ heraus. | |
| Auch die Ortlosigkeit Hamburger Kunst hat jetzt ein Ende. Nach fünfjähriger | |
| Suche hat Maike Bruhs die „Parabel. Zentrum für Kunst in Hamburg“ in der | |
| ehemaligen Nikodemus-Kirche im Stadtteil Ohlsdorf eröffnet. Wie die | |
| angrenzende Kita und das Gemeindehaus wurde die Kirche in den 1950er-Jahren | |
| im brutalistischen Stil gebaut. Das Kirchenschiff hat die Form einer | |
| umgedrehten Parabel, daher der bewusst mehrdeutige Name. Betrieben wird das | |
| Gelände von einer GmbH, die es in 99-jähriger Erbpacht von der Kirche | |
| übernahm. Den denkmalgerechten Umbau zum Ausstellungsort finanzierte | |
| Familie Bruhns. Unterstützung der Stadt habe es nicht gegeben, sagt die | |
| Sammlerin. Sponsoren seien willkommen. | |
| ## Die Albträume hören nicht auf | |
| Konkret soll das Gemeindehaus als Depot für die Sammlung dienen. Zudem sind | |
| Seminarräume, Bibliothek und Ausstellungsareal geplant. Die großen | |
| Präsentationen beherbergt drei- bis viermal jährlich das Kirchenschiff. Sie | |
| sollen Kunst aller Gattungen zeigen und gelegentlich auch aus Bruhns’ | |
| Sammlung bestückt werden. | |
| Den Anfang machten Neuerwerbungen der Sammlung, es folgte die Schau „Dem | |
| Inferno entronnen – Kunst nach 1945 in Hamburg“. Die aktuelle Präsentation | |
| „Im Abgrund. Terror, Gewalt und die Künste 1930 bis nach 2000“ zum 80. | |
| Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager ist aus Bruhns’ Sammlung | |
| sowie Leihgaben etwa des Altonaer Museums und der KZ-Gedenkstätte | |
| Neuengamme bestückt. | |
| In kleinen Compartiments präsentiert sie chronologisch Werke von den | |
| 1920er-Jahren bis heute – eine eindrückliche künstlerische Zeugenschaft. | |
| Sie beginnt mit den blühenden wie elenden 1920er-Jahren – eine Ambivalenz, | |
| die in der morbiden Wirtshausszene [5][Elfriede Lohse-Wächtlers] | |
| aufscheint. Die Malerin wurde 1940 im Zuge der „Euthanasie“ von den Nazis | |
| ermordet. Mehrere Zuchthäuser und KZs überlebte die kommunistische | |
| Widerstandskämpferin [6][Anita Suhr;] ein gezeichneter „Zellenausblick“ auf | |
| kahle Bäume steht dafür. Und Gretchen Wohlwill malte ihren ersten Fluchtort | |
| vor der Emigration, das trostlos menschenleere Finkenwerder. | |
| Wer nicht fliehen konnte, erlebte zum Beispiel dies: KZ-Häftlinge, die bei | |
| Fliegeralarm nicht in die Bunker dürfen. Der Arzt Bernhard Heyde, Ehemann | |
| der jüdischen Schauspielerin Ida Ehre, hat es aus dem Fenster beobachtet | |
| und 1944 gemalt. Das Bild bezeugt, dass auch dies vor aller Augen geschah – | |
| und unter Mithilfe all jener, die Häftlinge, die es dennoch versuchten, an | |
| der Bunkertür abwiesen. | |
| Und die KünstlerInnen legen bis heute den Finger in die Wunde: Im einstigen | |
| Altarraum der Kirche prangen drei Kohlezeichnungen des 2021 verstorbenen | |
| Robert Schneider, der schon Ex-DDR-Industriebrachen, Schlachthöfe, die | |
| umweltzerstörenden Ölfelder Aserbaidschans malte. Die nun präsentierten | |
| Kohlezeichnungen zeigen riesige Stacheldraht-Pfosten im ehemaligen [7][KZ | |
| Auschwitz], vor denen man sich klein fühlt wie wohl damals die Häftlinge. | |
| Und der einstige Schlafsaal, aufs architektonische Gerippe reduziert, zeigt | |
| keine Spuren von Leben. Bereit für den Neubezug von irgendwem, irgendwo auf | |
| der Welt? | |
| Auch die Barackenreihe am sauber gefegten Weg steht für die Übertünchung | |
| von Lebensspuren. Noch dazu gezeichnet mit Kohle – Chiffre für die Asche | |
| der Krematorien. Aus ihr werden nun Bilder gemalt, die dem Versuch der | |
| Auslöschung trotzen. Ein außerordentlich kluger Umgang mit dem Material. | |
| ## Anrühreneder Theresienstadt-Zyklus | |
| Das mit Abstand Anrührendste – aber nicht Sentimentale, da zur | |
| Allgemeingültigkeit Verdichtete – sind neun Blätter aus Max Weiss’ | |
| [8][Theresienstadt]-Zyklus auf der Empore. In „Ankunft in Theresienstadt“ | |
| etwa steht eine Menschenmenge mit ordentlich aufgestellten Koffern in dem | |
| KZ, befehligt von zwei SS-Männern. Es ist die Verdichtung mehrerer | |
| Vorzeichnungen, auf denen es weit ungeordneter zuging. | |
| Bis zur Beklemmung verdichtet ist auch der „Schlafraum“ mit halb | |
| verhungerten Männern in den Stockbetten und einem SS-Mann, der draußen vorm | |
| Fenster weitere Gefangene drangsaliert. Weiss muss während seiner Lagerhaft | |
| schwer traumatisiert worden sein. Die in dieser Zeit entstandenen | |
| Zeichnungen komponierte er erst Jahre nach der Befreiung zu diesem Zyklus. | |
| „Vermutlich“, sagt Maike Bruns, „weil die Albträume nicht aufhörten.“ | |
| 4 Oct 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
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