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# taz.de -- Medienkünstler Tony Cokes in München: Geschichtslücken füllen
> In einer Ausstellung im Haus der Kunst und im Kunstverein München
> untersucht Tony Cokes, wie Pop und Medien auf die Gesellschaft wirken.
Bild: „Fragments or just Moments“ von Tony Cokes im Haus der Kunst
Versatzstücke, zeitliche Brücken, räumliche Bezüge, zusammengehalten durch
Typografien, auffällige Farben und mehrdeutige Musik. So abstrakt müsste
man die Ausstellung zusammenfassen, die gerade im Münchner Kunstverein und
in der LSK-Galerie im Haus der Kunst stattfindet. Die Kunst des
US-Afroamerikaners Tony Cokes war bereits auf der documenta X und bei der
Berlin Biennale zu sehen, „Fragments, or just Moments“ ist nun jedoch die
überhaupt erste institutionelle Einzelausstellung des 66-Jährigen in
Deutschland – und sie umspannt Arbeiten aus dreißig Jahren.
Um es gleich vorwegzunehmen: Die Schau von Tony Cokes, der 1956 in
Richmond, in den südöstlichen USA geboren ist und an der Virginia
Commonwealth University zunächst Bildhauerei studiert hat, ist nicht leicht
zugänglich. Seit den frühen 1990er Jahren untersucht er den Einfluss von
Medien und Popkultur auf Gesellschaften. Ursprünglich war die Kritik an
rassistischen Darstellungen afroamerikanischer Gemeinschaften sein Thema.
In München zeigt Tony Cokes nun Videoessays, in denen er auch Sujets wie
Kriegserfahrungen und kollektives Gedenken analysiert – immer in der
Überlagerung verschiedener Zeitebenen und in der Kombination von mehreren
Medien wie Film, TV, Musik und Werbeclips.
## Diskriminierter kalifornischer Architekt Williams
Im ehemaligen Luftschutzkeller des Hauses der Kunst lässt er in
unterschiedlichen Räumen Stimmen zu Wort kommen, die brutal zum Schweigen
gebracht wurden – etwa den Architekten Paul Revere Williams (1894–1980) in
„The Will & the Way … Fragment 1“. Williams hatte – als erstes
afroamerikanisches Mitglied der US-Architektenkammer – [1][zwischen 1933
und 1975 mehr als 2.500 Luxus-Bauten in Südkalifornien entworfen] und damit
den Rahmen für einen Lebensstil geschaffen, der ihm selbst wegen seiner
Hautfarbe versperrt geblieben war.
In „Black September“ – diese Arbeit ist im Kunstverein zu sehen –
thematisiert Cokes generell den Terror, ausgehend von 9/11. Über einen
Kopfhörer hören Besucher:Innen verschiedene Sounds zu jeder
Installation, teils zugängliche Popmusik, teils Dissonanzen. In Raum zwölf
etwa schmettert Queens „We will rock you“ über die Installation hinweg. Und
die Bildebene erklärt, wie Menschen im Irak mit Musik gefoltert werden.
Erst der Kontext schafft also einen Anhaltspunkt für die Deutung: Wann ist
ein Song bloß ein Liebeslied – und wann wird er zum Instrument von Qual und
Diskriminierung? Ist eine Farbe nur poppig und fröhlich – oder verübt sie,
zusammengeschnitten mit schwarz-weißen Filmdokumenten einer düsteren Zeit,
einen visuellen Angriff, der unvorbereitet einschlägt und wehtut?
Bedeutende Münchner Ereignisse aus den Jahren 1937 bis 1972 hat Tony Cokes
eingefangen in der Werkreihe „Some Munich Moments, 1937–1972“. Darin span…
er den Bogen zwischen der NS-Kulturpolitik in den späten dreißiger Jahren
bis zu den Olympischen Spielen 1972, die als „antifaschistisch“ und
„weltoffen“ beworben wurden und bekanntermaßen blutig endeten mit der
Geiselnahme der israelischen Ringer durch palästinensische Terroristen und
dem gewaltsamen Tod fast aller der gefangengenommenen Athleten, die bei dem
fehlgeschlagenen Befreiungsversuch durch die Polizei von den Terroristen
ermordet wurden. Derselbe historische Bogen verbindet auch die
Ausstellungsorte: Das Haus der Kunst ist bis heute Sinnbild für die
monumentale Machtarchitektur der NS-Ära. 1937 wurde es mit der „Großen
Deutschen Kunstausstellung“ eröffnet. Parallel dazu wurde im Münchner
Kunstverein die Schau „Entartete Kunst“ gezeigt, die berühmteste
Schmähausstellung über jüdische und verfemte Kunst.
## Räumliche Beziehung
Heute setzt Cokes die Kunststätten anders in räumliche und historische
Beziehung: Mit weißer Schrift auf Plakaten in Orange, Grün, Blau erinnert
er in der Fußgängerunterführung am Englischen Garten (die beide
Ausstellungsorte verbindet) an [2][Otl Aicher, der das Design der
Olympischen Spiele 1972 prägte] – und der mit Inge Scholl, der älteren
Schwester der Weiße-Rose-Aktivist:Innen Hans und Sophie verheiratet war. Er
interessiere sich dafür, wie ein historischer Moment im Diesseits
widerhallt, erklärt Cokes. In München haben er und die Kuratorinnen Emma
Enderby und Elena Setzer eine anspruchsvolle, aber umso interessantere
Schau geschaffen.
Fragmentarisch wie Cokes’ Werk bleibt auch die Art des Betrachtens, da
Zuschauer kaum die Ausstellung vollständig ansehen: Einige Videos dauern
jeweils mehr als eine Stunde. So, wie der Zufall entscheidet, in welchen
Kontext ein Mensch geboren wird, bleibt auch dem Zufall überlassen, welcher
Ausschnitt einer Coke-Installation erfasst wird; wenn die Betrachterin
einen Raum betritt, welches Bild bei ihr verfängt und welcher tonale
Eindruck hängen bleibt. Das individuelle Erlebnis entsteht in der Mischung
aus dem Angebot, dem Zufall und der eigenen Prägung – das macht die Sache
spannend.
9 Jul 2022
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## AUTOREN
Johanna Schmeller
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