# taz.de -- Antisemitismus bei documenta15: Rassismus und „Islamophobie“ | |
> Bald beginnt die documenta 15 in Kassel. Da drohen unerquicklicke | |
> Debatten über Israel. Von daher ist es ratsam, Schlüsselbegriffe vorab zu | |
> klären. | |
Bild: Das ruruHaus in Kassel. Hier soll während der documenta diskutiert werden | |
Als Anfang dieses Jahres Antisemitismusvorwürfe gegen [1][die documenta und | |
das indonesische Kuratorenkollektiv Ruang]rupa durch das „Bündnis gegen | |
Antisemitismus Kassel“ laut wurden, reagierte die deutsche | |
Kultur-Staatssekretärin Claudia Roth von den Grünen mit einer ebenso | |
routiniert wie kalkuliert anmutenden Ankündigung: Man wolle „in eine | |
Debatte eintreten, um das Grundrecht der Kunstfreiheit angesichts des | |
Kampfes gegen Rassismus und Antisemitismus und Islamophobie zu | |
diskutieren“. | |
Mittlerweile wird Rassismus in zahlreichen sich als links verstehenden | |
Milieus reflexartig ins Spiel gebracht, sobald es um Antisemitismus geht. | |
Die Ignoranz gegenüber den Unterschieden zwischen rassistischen und | |
antisemitischen Ideologien behindert zusehends antirassistische und | |
antisemitismuskritische Praktiken. | |
Und der Unwille, den „Islamophobie“-Vorwurf als jenen Kampfbegriff der | |
Verteidiger einer islamischen Menschenzurichtung zu erkennen, mit dem noch | |
die brutalsten Formen der Unterdrückung gegen Kritik immunisiert werden | |
sollen, charakterisiert seit Langem die Debatten über Antisemitismus, | |
Rassismus und Islamkritik. | |
## Nicht einfach Rassismus gegen Juden | |
Eine Kritik des Antisemitismus muss zunächst zeigen, inwiefern er nicht | |
einfach ein gegen Juden gerichteter Rassismus ist. So sehr Rassismus und | |
Antisemitismus miteinander korrespondieren, existiert doch ein | |
fundamentaler Unterschied: Es ist allein der Antisemitismus, der als | |
allumfassende Welterklärung auftritt und eine existenzielle Feinderklärung | |
vornimmt. | |
Etwas schematisch lässt sich der zentrale Unterschied wie folgt auf den | |
Punkt bringen: Die Abgrenzung gegen die „Minderwertigen“ findet im | |
Rassismus seinen Ausdruck. Gegen die „Überwertigen“ richtet sich der | |
Antisemitismus. Den Opfern des Rassismus wird nicht ihre Überlegenheit, | |
sondern ihre Unterlegenheit vorgeworfen. Rassismus biologisiert historisch | |
und aktuell existierende Produktivitätsgefälle. Er wendet sich gegen die | |
Ohnmacht der Rassifizierten und erklärt gesellschaftlich und historisch | |
bedingte Unterschiede aus der vermeintlichen „Natur“ der Rassifizierten. | |
Antisemiten imaginieren ihre prospektiven Opfer im klaren Gegensatz zu den | |
Opfern des Rassismus gerade nicht als ohnmächtig, sondern als allmächtig. | |
In den Augen von Antisemiten beherrschen Juden die ganze Welt. Dazu wären | |
die Opfer des Rassismus im Bewusstsein der Rassisten gar nicht in der Lage | |
– kein Mensch fantasiert von einer „afrikanischen Weltverschwörung“. | |
## Andere Art der vermeintlichen Bedrohung | |
Bei Rassismus und Antisemitismus handelt es sich um Bedrohungsszenarien, | |
die sich Rassisten und Antisemiten halluzinieren. Die Art der Bedrohung, | |
die halluziniert wird, ist aber doch entscheidend anders: Antisemiten | |
imaginieren sich ihre Vernichtung durch den überlegenen Geist, die „Herren | |
des Geldes“ oder die als illegitim begriffene jüdische Staatlichkeit. | |
Dieser imaginierten Bedrohung gedenken sie in letzter Konsequenz durch | |
Vernichtung zuvorzukommen. | |
Natürlich finden sich im rassistischen Bewusstsein auch Fantasien von einer | |
Allmächtigkeit der Rassifizierten. Zu denken wäre hier etwa an die | |
Vorstellungen von angeblicher sexueller Omnipotenz, die allerdings an der | |
Einschätzung der Opfer des Rassismus als Unterwertige nichts ändert und die | |
Reduzierung der Rassifizierten auf triebhafte Tiere nur mehr um eine | |
weitere Facette ergänzt. | |
Außerdem lassen sich auch hier wichtige Unterschiede zwischen | |
antisemitischen und rassistischen Zuschreibungen aufzeigen. „Schwarze“ | |
imaginiert sich das rassistische Bewusstsein in der Regel als | |
muskelbepackte Omnipotente. Häufig kommt dazu noch das Bild vom schwarzen | |
Vergewaltiger. | |
## Imaginierte Heimtücke und Reichtum | |
Der Jude hingegen fungiert in der klassischen antisemitischen Projektion | |
nicht als Vergewaltiger, sondern als Verführer, als hinterhältiger | |
Verderber, der seine Opfer nicht, wie der rassifizierte Schwarze, durch | |
physische Gewalt oder äußerliche Reize ins Elend stürzt, sondern durch eine | |
Art emotionaler und psychischer Heimtücke oder durch Geld. Das | |
entsprechende Bild ist nicht das vom naturverbundenen, wohlgeformten jungen | |
Kerl, sondern jenes vom alten, gekrümmten, geilen Bock. | |
Die Besonderheit von Antisemitismus resultiert in erster Linie aus dem | |
unterstellten spezifischen Umgang mit Geld und Geist, woraus für | |
Antisemiten die besondere Gefährlichkeit der Juden folgt. Aufgrund ihrer | |
besonderen Bedrohlichkeit, die nicht aus ihrer großen Zahl, sondern ihrer | |
unterstellten Qualität resultiert, sind sie es, die als „Gegenrasse, als | |
negatives Prinzip als solches“ ins Visier genommen werden, wie Theodor W. | |
Adorno und Max Horkheimer in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ festgehalten | |
haben. Aus dieser halluzinierten Bedrohung resultiert eine spezifische | |
Verfolgungspraxis, die – in der „Logik“ des Antisemitismus nur konsequent… | |
aufs Ganze geht. | |
## NS-Vernichtungskrieg im Osten | |
Am deutlichsten wurde das im Nationalsozialismus, in dem sowohl der | |
Antisemitismus als auch der Rassismus zu millionenfachem Massenmord geführt | |
haben. Während es hinsichtlich der jüdischen „Gegenrasse“ jedoch um totale | |
Vernichtung ging, war im Fall des antislawischen Rassismus im | |
Nationalsozialismus nach dem millionenfachen Mord, der insbesondere im Zuge | |
des Vernichtungskrieges im Osten begangen wurde, die partielle Beherrschung | |
der „rassisch Minderwertigen“ ins Auge gefasst – was allein dadurch mögl… | |
wurde, dass in den Augen der Rassisten „die Slawen“ oder „die Afrikaner�… | |
jener unterstellten spezifisch jüdischen Handhabung von Geld und Geist gar | |
nicht fähig sind. | |
Bei Teilen jener europäischen Parteien rechts des klassischen | |
Konservativismus, die sich nicht mehr offen in die Tradition des | |
Nationalsozialismus stellen, sehen wir heute eine partielle Entsagung | |
hinsichtlich expliziter antisemitischer Hetze bei gleichzeitiger | |
Konzentration auf die „raumfremde Kultur“ des Islam. | |
Allerdings käme kein noch so verschwörungstheoretisch versierter rechter | |
Agitator auf die Idee, „der Moslem“ wäre in der Lage, die internationale | |
Finanzwelt zu kontrollieren und die europäischen Nationen in die Krise zu | |
stürzen. | |
Die gegenüber in Europa lebenden Muslimen und gegenüber Flüchtlingen aus | |
islamisch dominierten Ländern ausagierten fremdenfeindlichen Ressentiments | |
erinnern in aller Regel an Aspekte von klassisch rassistischen | |
Vorstellungen von zwar gewalttätigen, aber letztlich unterlegenen und | |
minderwertigen Einwanderern, nicht an antisemitische Vorstellungen vom | |
überlegenen, durch die geschickte Handhabung von Geld und Geist die Welt | |
ins Unglück stürzenden und daher bis zur letzten Konsequenz zu bekämpfenden | |
Juden. | |
## Delegitimierung von Kritik | |
[2][Begriffen wie „Islamophobie“ oder „Antiislamismus“ muss vor diesem | |
Hintergrund] mit äußerster Skepsis begegnet werden. Beim „Antiislamismus“ | |
fragt man sich schon aufgrund der Wortkomposition, was daran kritikwürdig | |
sein sollte, sich gegen Islamismus zu positionieren. Der Begriff der | |
„Islamophobie“ zielt in erster Linie auf die Delegitimierung von Kritik. | |
Eines der Hauptprobleme beim „Islamophobie“-Begriff ist die ihm inhärente | |
Parallelisierung einer ressentimenthaft begründeten Ablehnung des Islam | |
oder eines Hasses auf in Europa lebende Muslime mit dem als allumfassende | |
Welterklärung auftretenden und in der Shoah kulminierenden Antisemitismus. | |
Solche Parallelisierungen basieren auf der falschen Annahme, Muslime würden | |
heute in den wahnhaft-projektiven Verarbeitungen von gesellschaftlicher | |
Wirklichkeit eben jene Funktion erfüllen, die Juden im klassischen | |
Antisemitismus haben. Doch keine politisch relevante Gruppierung imaginiert | |
„Moslems“ oder gar ein „islamisches Prinzip“ als Verkörperung der | |
Zersetzung und als Personifikation subjektloser Herrschaft, in deren | |
Vernichtung der Krisencharakter der Moderne zu exorzieren wäre. Das aber | |
ist ein Kernelement des antisemitischen Wahns. | |
Wenn Antisemiten im Westen, das iranische Regime oder sunnitische | |
Islamisten von einem jüdischen Drang nach Weltherrschaft fantasieren, ist | |
das eine wahnhafte Projektion der eigenen Wünsche auf den ewigen Todfeind. | |
Der Hinweis auf einen globalen Herrschaftsanspruch im Islam hingegen ist | |
keine Verschwörungstheorie (auch wenn er von Rechtspopulisten meist nur in | |
der Form von paranoidem Geraune formuliert wird), sondern dieser Anspruch | |
wird von maßgeblichen Strömungen des Islam offen artikuliert. | |
Das Verständnis für die Unterschiede rassistischer und antisemitischer | |
Ideologien ist eine Voraussetzung dafür, beide besser bekämpfen zu können. | |
Das Gerede von einer „Islamophobie“ zielt hingegen auf die Abwehr einer | |
dringend gebotenen Kritik nicht nur am Islamismus, sondern beispielsweise | |
auch an antisemitischen Ausprägungen eines orthodox-konservativen | |
Mehrheitsislams. Derartige Kritik unter Rassismusverdacht zu stellen, ist | |
ein durchschaubares Manöver, das sehr viel offensiver in seiner | |
intellektuellen Unredlichkeit und seinem antiaufklärerischen Impetus | |
kenntlich gemacht werden sollte. | |
25 Apr 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Debatte-um-BDS-und-documenta-15/!5825724 | |
[2] /Debatte-um-Achille-Mbembe/!5681657 | |
## AUTOREN | |
Stephan Grigat | |
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