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# taz.de -- Theater im Heimathafen Neukölln: Ein Hoch auf die Wahlfamilie
> Nähe und mütterliche Ratschläge für 800 Euro monatlich: Réka Kincses
> inszeniert in Berlin Marta Barcelós Stück „MADRE®“ – und trifft damit
> sehr den Zeitgeist.
Bild: Suche Tochter, biete Mutter: Felicitas (W. Herzberg, l.) inserierte, Anna…
Beschauliche Familienessen, Striche an der Wand, die das Wachstum der
Kinder dokumentieren, und eine Mutter die Ratschläge gibt – so stellt sich
Anna die perfekte Kindheit vor. Doch die Realität sieht anders aus. Anna
ist ohne Mutter aufgewachsen. Ihr Vater starb an einer Überdosis, als sie
acht Jahre alt war, danach war das Kinderheim ihr Zuhause.
Heute ist Anna erwachsen, besitzt eine eigene Werbefirma und eine 190
Quadratmeter große Wohnung. Was ihr zu ihrem persönlichen Glück fehlt, ist
eine Familie, die sie sich sehnlichst wünscht. Aber mit dem nötigen
Kleingeld ist alles möglich, und so geht Anna einen ungewöhnlichen Deal
ein.
„MADRE®“ ist das dritte Bühnenstück der mallorquinischen Dramatikerin Ma…
Barceló. Ursprünglich auf Katalanisch geschrieben, wurde es in Athen auf
Griechisch uraufgeführt, bevor es nach Berlin in den [1][Heimathafen
Neukölln] kam. Hier bringt es [2][Regisseurin Réka Kincses] auf die
Studiobühne und inszeniert es als humoriges Kammerspiel mit Wera Herzberg
und Inka Löwendorf als Mutter-Tochter-Duo.
Der Untertitel – „Es ist nie zu spät für eine glückliche Kindheit“ –…
einen Hinweis darauf, wohin die Reise an diesem Abend geht. Es ist die
deutsche Uraufführung, eine Premiere also, bei der man eine gewisse
Aufregung den Darstellerinnen zunächst noch anmerkt. Die legt sich aber
nach einigen Minuten, vielleicht auch, weil die Stimmung im größtenteils
maskenlosen Publikum so schön ausgelassen und familiär wirkt. Überhaupt
wächst das Stück mit jeder Minute. Anfangs noch etwas klamaukig, ergreift
es einen immer mehr.
## Mutter zur Miete
Zu Beginn sitzen eine jüngere (Inka Löwendorf) und eine ältere Frau (Wera
Herzberg) an sich gegenüberliegenden Ende einer langen Tafel – ein simples,
aber funktionelles Bühnenbild. Felicitas, die ältere, hat den Kopf auf den
Tisch gelegt, Anna, die jüngere, steht auf. Während im Hintergrund die
Geräusche von Krankenhausapparaturen ertönen, spricht Anna zu der scheinbar
im Koma liegenden Felicitas, erzählt von gemeinsamen Erinnerungen.
Was dann kommt, sind Rückblenden einer gemeinsamen Zeit, die in der noch
nahen Vergangenheit liegen. Ganz gewöhnliche Gespräche zwischen Mutter und
Tochter, über das Essen, Annas Arbeit und schließlich über Annas Wunsch,
ein Kind zu adoptieren. Ob sie denn wüsste, wie hart es sei, ein Kind
allein großzuziehen, fragt Felicitas besorgt. „Aber ich habe doch dich“,
entgegnet Anna.
In der Tat wirken die beiden Frauen sehr harmonisch; was auch an der fast
schon berührenden Chemie zwischen den beiden Schauspielerinnen liegt. Man
traut den beiden sofort zu, einem Kind gemeinsam eine Familie sein zu
können. Und das, obwohl Anna und Felicitas streng genommen keine Familie
sind.
Suche Tochter, biete Mutter – so in der Art klang die Annonce, die
Felicitas einige Jahre zuvor aufgegeben hat. Weil sie selbst nie Kinder
hatte einerseits, andererseits weil die Rente für eine frühpensionierte
ehemalige Angestellte nicht gerade üppig ausfällt.
## Wie viel ist Familie wert?
Sie sei „emotional bedürftig“, erklärt Felicitas Anna bei deren erster
Begegnung. Ein Match; auch Anna sehnt sich nach Nähe, Kontinuität und
mütterlichen Ratschlägen. All das wird detailliert ausgehandelt, in einem
Vertrag festgehalten und mit 800 Euro monatlich vergütet. Ein nicht ganz
billiges Vergnügen, möchte man einwenden. Doch wieviel ist Familie denn
wert?
Das ist eine der Fragen, die Marta Barceló in ihrem Stück aufwirft. Die
meisten von uns bekommen eine Familie gratis zur Geburt dazu, können sie
sich dementsprechend aber auch nicht aussuchen. Was aber, wenn uns eine
liebende Familie verwehrt bleibt oder wir sie durch gewisse Umstände
verlieren? Einer kapitalistischen Logik folgend, wäre ein Deal wie der hier
ausgehandelte nicht unrealistisch.
„Mich interessiert, wie Menschen einander begegnen, welche Art der
Beziehung sie zueinander aufbauen und auch welche Grenzen sie setzen“, sagt
Barceló nach der Premiere. Die heutige Gesellschaft biete schließlich viel
mehr Möglichkeiten unterschiedlicher Beziehungskonstrukte.
Das Konzept der Wahlfamilie ist kein neues; in queeren Communitys ist es
beispielsweise keine Seltenheit, sich seine Familie auszusuchen – vor allem
wenn die ursprüngliche einen nicht so akzeptiert, wie man ist. Dass es auch
für andere Menschen interessant sein könnte, zeigt Barceló in ihrem Stück
und trifft damit den berühmten Zeitgeist; schließlich leben immer mehr
Menschen allein, ob freiwillig oder nicht.
Sich ein liebendes Netzwerk aufzubauen erscheint gerade nach der Pandemie
wie eine charmante Lösung gegen die wachsende Einsamkeit.
3 May 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Sophia Zessnik
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