| # taz.de -- Theaterstück „Mother Tongue“ in Berlin: Arbeit an der Zukunft | |
| > In „Mother Tongue“ im Gorki Theater Berlin lässt die Regisseurin Lola | |
| > Arias Geschichten rund um Sex, Reproduktion und queere Familienmodelle | |
| > erzählen. | |
| Bild: Der Moment, in dem Darstellerin Nyemba M'Membe mit dem Muttersein hadert … | |
| Engel fliegen durch die Bilder auf der Bühne, doch die junge Frau davor | |
| tobt eher, als sei sie in der Hölle gelandet. Tanzen gehen will sie, aber | |
| seit ihr Kind auf der Welt ist – die Geburt mit Kaiserschnitt liegt einige | |
| Szenen zurück – besteht ihr Leben nur noch aus Wischen, Stillen, Putzen, | |
| Schmerzen, Waschen. Was alle Welt an Babys findet, kann sie grad gar nicht | |
| mehr sehen, an diesen scheißenden und schreienden Bündeln. Genervt zieht | |
| sie über gluckende Mütter im Park her und mitleidige Blicke. | |
| Stück für Stück zerlegt die Darstellerin Nyemba M'Membe dabei auf einer | |
| Galerie das Bild von einer Frau, die im Muttersein Erfüllung findet, | |
| derweil das Ensemble auf der Bühne unter ihr, das eben noch die verzückten | |
| Gesten von Heiligen markierte, langsam in sich zusammensackt. | |
| Das Solo von Nyemba M'Membe ist ein witzigster Contrapunkt in dem Stück | |
| „Mother Tongue“, das die [1][Regisseurin Lola Arias] mit den Darstellenden | |
| erarbeitet hat. In Berlin entstand für das Gorki Theater die dritte Fassung | |
| der, wie es im Untertitel heißt, „Enzyklopädie der Reproduktion im | |
| einundzwanzigsten Jahrhundert“. | |
| Wie die vorigen, in Bologna und Madrid entstandenen Versionen, beruht es | |
| auf Gesprächen mit Experten und Betroffenen, Interviews und Workshops, in | |
| denen Geschichten gesammelt wurden um den Mutterwunsch, [2][künstliche | |
| Befruchtung], [3][Co-Parenting,] schwule Väter, queere Familienmodelle und | |
| Pflegefamilien. | |
| ## Die rechtlichen Hürden | |
| In zehn Kapitel ist die Enzyklopädie gegliedert, von Aufklärung über | |
| Kinderwunsch und Geburtsurkunde zur „Mutter der Zukunft“. Was in Berlin | |
| erzählt wird, beruht auf den Geschichten der Mitspielenden, die sich uns | |
| nach und nach vorstellen. Sie spielen aber nicht nur sich selbst, sondern | |
| übernehmen in den Geschichten der anderen auch andere Rollen. Die meisten | |
| Episoden sind im queeren Kontext angesiedelt. Ein Fokus liegt auf den | |
| rechtlichen Hürden, die etwa ein Transvater, der mit zwei lesbischen Frauen | |
| ein Kind hat, überwinden muss und auf den politischen Forderungen nach | |
| Verbesserungen des rechtlichen Rahmens. | |
| Die Inszenierung hat viel von einem Feature mit O-Tönen, ein Stück | |
| Dokumentartheater, das häppchenweise unterschiedliche Erzählstränge | |
| vorantreibt. Da die Darstellenden auch die Rollen wechseln, fällt die | |
| Zuordnung der Informationen nicht immer ganz leicht. | |
| Alle sieben haben interessante Biografien: Ufuk Tan Altunkaya, in | |
| Deutschland geboren, in der Türkei aufgewachsen, erzählt von seinem | |
| schwierigen Comingout in der Türkei, dem Rückzug nach Deutschland mit | |
| seinem Mann und der Gründung einer Familie mit der Berlinerin Franzi über | |
| das Co-Parenting. Das erste Date zwischen ihm und Franzi ist dann eine der | |
| vielen Spielszenen, die damit erheitern, dass es ja keine eingeübten Muster | |
| für diese Kontakte gibt. | |
| Kay Garnellen stellt sich uns als Transmann, Sexarbeiter und Performer vor, | |
| redet über das schwierige Verhältnis zu seiner Mutter, seine Elternschaft | |
| mit zwei lesbischen Frauen und belebt das Bühnengeschehen mit sexy | |
| Auftritten. | |
| ## Kaleidoskop kurzer Szenen | |
| Millay Hyatt erzählt vom langen Weg zum Kind, das auf biologischem Weg | |
| nicht kommen wollte, von jahrelangen Adoptionsversuchen und dem mühsamen | |
| Weg zur Pflegeelternschaft. Szenisch ist das aufgelöst in kurze Telefonate, | |
| die die vielen frustrierenden Absagen in einen Behördenslapstick | |
| übersetzen. | |
| So gleicht der Abend einem Kaleidoskop, unterbrochen von Songs und | |
| Tanzszenen, der vieles anreißt, aber wenig vertieft. Die Perspektiven | |
| bleiben nah an den Figuren; die eingangs beschriebene Szene, die von der | |
| Klage einer Mutter abhebt in die Zeichnung eines verrückten Zustands, der | |
| nicht nur über eine Figur erzählt, sondern auch viel über den | |
| Erwartungshorizont an das Muttersein, ist eher die Ausnahme. So bleibt die | |
| Inszenierung doch im Kleinteiligen stecken. | |
| Das Publikum der Premiere freute sich über die Inszenierung, spendete den | |
| Mitwirkenden, die nur zum Teil Bühnenprofis sind, Szenenapplaus. Es | |
| spiegelte damit, dass es um Ermutigung und Ermächtigung geht, solche | |
| alternativen Familienentwürfe offen zu leben und dafür zu kämpfen, dass sie | |
| einen besseren Weg zur rechtlichen Gleichstellung erhalten. | |
| Am Ende allerdings, im letzten Kapitel, „Mutter der Zukunft“, stellte das | |
| Team eine doch eher fragwürdige Utopie auf die Bühne: von Elternschaften, | |
| die auf Kollektive von mindestens zehn Menschen verteilt werden sollen. Von | |
| Samenspenden und Eizellen, die in allen zugänglichen Banken lagern. Das | |
| erinnerte dann doch eher an Science-Fiction-Szenarien, in denen die | |
| Kontrolle der Reproduktion der Anfang des Totalitarismus ist. | |
| 13 Sep 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katrin Bettina Müller | |
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