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# taz.de -- Dokumentartheater „Happy Nights“: Oh wie schön ist Sexarbeit
> Regisseurin Lola Arias will in Bremen Prostitution vom Tabu befreien.
> Deshalb finden Opfer von Menschenhandel bei ihr auf der Bühne keinen
> Platz.
Bild: Csenger K. Szabós schmerzhafte Akrobatik im Gyn-Stuhl lässt zotige Requ…
Schön ist das. Fast zu schön: Für Lola Arias’ Produktion „Happy Nights�…
Irene Ip mit offenkundiger Freude an zotigen Details fünf Orte der
Sexarbeit als durch Koberer-Fenster einsehbare und einzeln begehbare Räume
in das Kleine Haus des Bremer Theaters gebaut: eine Hafenbar, eine
Modellwohnung, ein SM-Studio, eine superenge Videokabine in der deftige
Pornofilme laufen und ein wohnzimmriges Homeoffice, in dem Tele-Sex
produziert wird.
In diesen gut ausgeleuchteten Produktionsstätten der Prostitution berichten
fünf Expert*innen aus ihrem Arbeitsleben. Die argentinische Autorin und
Regisseurin Arias ist berühmt dafür, die Wirklichkeitsbehauptung des
dokumentarischen Theaters mit fiktionalem, darstellerischem Geschehen
[1][gewissermaßen zu überblenden].
Und so performen gleichzeitig Akteur*innen der am Theater
Bremen-Tanz-Kompagnie „Unusual Symptoms“ beeindruckende Solo- und
Duo-Choreografien auf engstem Raum. Teils illustrieren, teils kommentieren
diese Bewegungsfolgen das Erzählte: Perfekt ausbalancierte
Handstand-Akrobatik auf den Beinschalen eines gynäkologischen
Untersuchungsstuhls bringt die seltsame Lust der Sado-Maso-Szene an Schmerz
und Erniedrigung auf abstrakte Weise nahe.
Und echt lustig ist es, wenn Klischee-Matrosen virtuos wie Gene Kelly in
Revueuniformen tanzen, als wären sie [2][einem Musical-Film der 1940er
Jahre entsprungen], während die nostalgieglänzenden Erinnerungen einer
Waller Puffmutter an die Wirtschaftswunderjahre in deren Beisein erzählt
werden.
Solche Zeitzeug*innenberichte hatte in Bremen Frauke Wilhelm ab 2004
[3][für ihr Projekt „Golden City-Bar“ erschlossen] – kurz nachdem das ne…
Prostitutionsgesetz Verträge über sexuelle Dienstleistungen normalisiert
hatte, um eine selbstbestimmte Arbeit als Hure oder Callboy zu ermöglichen.
Eine neue Sicht auf diese Lokalhistorie gelingt Lola Arias aber nicht: Die
milde Ironisierung durch Choreografie und Kostüm ist auch schon das Maximum
an Distanz zu ihren Expert*innen, das sie zulässt. Sie sollen rühren,
sie sollen erheitern, vielleicht auch mal in ihrer haarigen Nacktheit
schocken wie Trans*rechte-Aktivist KAy Garnellen, der dem Publikum sein
einladend reinliches Arschloch direkt und per Livevideo gedoppelt
präsentiert.
Lola Arias' Ansatz ist strikt affirmativ, sexarbeitpositiv. Als ihre
Porte-Parole fungiert dabei River Roux, Berliner Sexarbeiterin und
Luftakrobatin, die per Videobotschaft aus einem burgundroten Raum den
Mythos verbreiten darf, jede Dienstleistung sei dasselbe, eine Grenze
zwischen Care- und Sex-Arbeit existiere nicht und dabei suggeriert, man
hätte es mit einer anthropologischen Konstanten zu tun.
Dabei lässt sie aufgeblasene Kondome platzen. Das aufklärerische Potenzial
dokumentarischen Theaters wird also dem unbedingten Willen geopfert, einmal
mehr das moralische Tabu zu beseitigen, das den Bereich einst beherrscht
hatte und sicher noch immer prägt. Schon durchs Casting verdrängt Lola
Arias alle Fragen nach Machtverhältnissen, denen er entspringt.
Vor allem aber – überraschend, dass das einer [4][Autorin aus einer
Weltregion unterläuft], in der Menschenhandel, Zwangsprostitution und
Femizide als Symptome einer epidemischen Misogynie [5][seit Jahren
ungebremst ansteigen] – vergisst sie ganz, dass auch Gewalt ein Thema sein
müsste: Den Opfern, den Toten, den Versklavten verweigert Lola Arias Bühne,
Stimme und Gehör.
Stattdessen tritt nur eine Karikatur körperlicher Misshandlung im
referierten Rollenspiel zwischen Domina und ihren peinlichen Klienten auf,
etwa dem, der sich gerne wie ein Schweinchen von einer gestrengen
Schlachterin an die Decke hängen lässt. Na, wenn’s ihm Spaß macht, dem
Ferkelchen? Harmlos ist das, völlig unpolitisch und doch einfach richtig
schön. Viel zu schön, um wahr zu sein.
4 Oct 2023
## LINKS
[1] /Erschuetterndes-Obdachlosen-Theater/!5059391
[2] https://catalog.afi.com/Catalog/moviedetails/24312
[3] /Archiv-Suche/!698366&s=golden+city&SuchRahmen=Print/
[4] https://news.un.org/es/story/2021/02/1487422
[5] https://www.stern.de/panorama/verbrechen/jahresrueckblick-2019--argentinien…
## AUTOREN
Benno Schirrmeister
## TAGS
Prostitution
Sexarbeit
Theater Bremen
Dokumentartheater
Zwangsprostitution
Tanztheater
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Jugendliche
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