# taz.de -- Erschütterndes Obdachlosen-Theater: Revue grauer Rummel | |
> Mit ihrer Bremer Straßenoper widmet sich die argentinische Regisseurin | |
> und Dramatikerin Lola Arias der einzig wahren Kunst: Geld zu machen. | |
Bild: Früher war Bernhard Richter Schauspieler. Jetzt ist er obdachlos - und s… | |
BREMEN taz | Nachher wird der Titel noch erklärt. Vorab nur so viel: Er | |
klingt vielleicht polemisch, aber dies ist kein Verriss! An der Bremer | |
Straßenoper von Lola Arias gibt’s nichts zu nörgeln. Sie ist großartig. Da | |
heißt’s hingehen!, hingehen!, hingehen!, das ist ein wichtiges Projekt und | |
erschütternd und ergreifend. | |
Warum? Das ist komplizierter, wenn man sich jetzt nicht darauf beschränkt, | |
zu sagen: Die Obdachlosen, die auftreten, sind alle auf ihre Weise nette | |
Menschen, sondern sich klarmacht, dass es der argentinischen Dramatikerin | |
und Regisseurin nicht um Authentizität geht, und schon gar nicht um | |
Betroffenheit, Furcht und Mitleid. Sondern um Kunst: „The Art of Making | |
Money“ heißt Arias neuestes Stück daher, das Bremer Theater hat damit am | |
Freitag die Schauspiel-Saison eröffnet. Auf Deutsch: „Die Kunst, Geld zu | |
machen“. | |
Die Kunst, Geld zu machen – das ist ja die einzige Kunst, die zählt. Gerade | |
in Bremen weiß man das, aber letztlich gilt das überhaupt in dem Raum, der | |
beansprucht, die Wirklichkeit zu sein. Wobei von diesem aus betrachtet das | |
Theater vor allem interesselose Illusionsmaschinerie zu sein hätte, die | |
gesellschaftsstabilisierend den Gegensatz von Schein und Sein bekräftigt. | |
Arias aber will, so hat sie einmal gesagt, „die Unterscheidung zwischen | |
Fiktion und Wirklichkeit stören“. Sie arbeitet dafür mit Laien und | |
Berufsschauspielern: In Bremen unterstützen die zwei jedes Gepose | |
eliminierenden Profis Matthieu Svétchine und Claudius Franz acht Personen, | |
die Erfahrung mit dem Leben auf der Straße haben: Drei Obdachlose, ein | |
Hund, drei Straßenmusiker und eine ehemalige Prostituierte. Die erzählen | |
ihre Geschichten – nur der Hund nicht – und spielen sich selbst, wie sie | |
auf den Straßen und Plätzen Bremens überleben, die Mikko Gaestel mit | |
Panorama-Videos auf eine leicht verzerrende Rückwand projiziert: Die | |
Wirklichkeit? Und alle haben so ihre Tricks und Kniffe, ihre Technik – | |
also: ihre Kunst – um auf diesen Bühnen Geld zu machen. Sie verraten dem | |
Publikum, was sie sonst verbergen. Sie machen sichtbar wo die unbewusste | |
Geste endet. Wo die absichtsvolle Pose beginnt – das Schauspiel. | |
Das verursacht ein eigenartiges melancholisches Unbehagen, das man zuletzt | |
als Kind im Puppenspiel gespürt haben mag. Jedenfalls fängt das Publikum | |
an, zu interagieren: Viele beteuern, dass sie trotz Kenntnis ihrer Masche | |
’nen Euro oder zwei geben wollen, wenn sie Anja Meister mit Tränen in den | |
Augen auf dem Parkplatz an der Mall anschnorrt, „Aber ja doch!“, als sie’s | |
in Zweifel zieht. | |
Aufrüttelnd freilich wirkt das nicht. Und das ist auch nicht intendiert: | |
Ihren kämpferischen Ursprung hat die Idee vom dokumentarischen Theater fast | |
völlig verloren. Sie stammt aus den 1920ern. Der Regisseur Erwin Piscator | |
hat sie entwickelt, mit Laien, die sich selbst darstellten, und mit | |
Berufsschauspielern, aus Texten, die im Leben und Erleben von ihnen und | |
Publikum eine Rolle spielten, die er aus ihm bezog: Es war ein Theater, das | |
sehr die herrschaftsstiftende Differenz von Kunst und Leben einreißen | |
wollte, ihre Zerstörung als Teil der Revolution begriff. Und glücklich war | |
Piscator, als das agitierte Massenpublikum mitging, ja mitspielte in seiner | |
Revue Roter Rummel (1924), die Alltagsgespräche beinhaltete, Lieder und | |
Parteitags- und Wahlreden – und dabei auch als Massenmedium fungierte, kaum | |
jemand hatte ja damals schon Radio. | |
Das ist vorbei. Wir haben alles auf allen Kanälen. Die Farbe Rot ist aus | |
der Mode. Agitieren tut höchstens noch die Marxistisch-Leninistische Partei | |
Deutschlands (MLPD). Die Revolution fällt aus. Dokumentarisches Theater | |
aber findet fast überall statt: In Braunschweig hat bald das Projekt „Unter | |
Drei“ Premiere, eine der theatralen Reaktionen auf den NSU-Terror. In | |
Oldenburg wird die Geschichte der berüchtigten örtlichen Psychiatrie | |
erkundet. Und Hannover widmet sich den Abhörprotokollen von Angehörigen der | |
deutschen Wehrmacht. | |
Die meisten Theaterkritiker motzen, schließlich will man nicht umsonst | |
Schiller gelesen haben, aber intellektuell haben sie der Dringlichkeit des | |
Dokumentarischen wenig entgegenzusetzen. Die hat mit dem Zustand der | |
Wirklichkeit zu tun, die nur noch als Produkt undurchschaubarer | |
Betriebssysteme zu existieren scheint, multipel medial geformt: Die | |
Wirklichkeit der Wirklichkeit ist zweifelhaft wie nie – und Theater muss | |
klären, was das mit ihm macht: Geht es unter, wenn es sie in einer ihrer | |
härtesten Formen, als Leben auf der Straße, auftreten lässt? Oder käme es | |
darin zu sich? | |
Denn, wenn in Bremen Bernhard Richter, der, böse Pointe, mal Schauspieler | |
war, wie sein berühmter Bruder, jetzt als Obdachloser auftritt, ist dies | |
die Rolle seines Lebens. Und wenn er, wie er’s sonst vorm Supermarkt tut, | |
mit Decken für sich und seinen Hund Kumpel seinen Platz auf den | |
Bühnen-Brettern einrichtet – dann bedeuten diese was weiß ich, aber doch | |
wohl kaum die Welt. Weder für die Zuschauer, noch für ihn. Und wohl auch | |
nicht für Kumpel. | |
Ganz anders als der witzige Akkordeonist Boiko Borisov Todorov oder Ronald | |
Meister, der Ex-Knacki, ist Richter eher intro. Er wirkt mitunter grimmig – | |
und auch leicht verlegen: Schließlich ist dieser Abend eine radikale | |
Entblößung, auch wenn dabei alle ihre Kleidung ordentlich anbehalten, ja | |
sogar im munteren Gruppentanz diverse Nuttenfummel probeweise überwerfen, | |
während, angestimmt von Beate Augustin, die Tarife für Sexpraktiken vom | |
Händchenhalten bis Eierlutschen ins Mikro geröhrt werden. | |
Arias sensible Rhythmisierung verhindert, dass es eine Freakshow wird: Sie | |
setzt sehr bewusst schon durchs Casting genau das in Szene, wofür einst das | |
Wort obszön erfunden wurde. Es bezeichnet, was der Alltag verdrängt und | |
überschweigt – und was nur auf der Schauspielbühne öffentlich zur Sprache | |
kommen darf: Es ist möglich, darin das Eigentliche des Theaters zu sehen, | |
das, was es von allen anderen Institutionen der Gesellschaft unterscheidet: | |
Hier treten in Erscheinung: Die im Dunklen, die man sonst nicht sieht. Das, | |
was der totale gesellschaftliche Bann getroffen hat. Und, warum nicht?, der | |
zerrissene Leidensurgrund der Welt, also so was Dionysisches. Nur ohne | |
Rausch, als traurigfroher Rummel, eine Revue in Grau. | |
10 Sep 2013 | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
Benno Schirrmeister | |
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