| # taz.de -- Leben unter Obdachlosen: Mitleiden | |
| > Ein Empathie-Workshop über das Leben unter Obdachlosen kann anmaßend | |
| > sein. Aber die Inszenierung „Das halbe Leid“ funktioniert | |
| Bild: Den Rand der Gesellschaft nachspielen | |
| Was macht man, wenn man sieht, wie jemand brutal verprügelt wird? Was man | |
| in der Kneipe maulheldenhaft diskutiert, wird in der Inszenierung „Das | |
| halbe Leid“ ganz praktisch gelebt. Angst und Wut sind genauso spürbar wie | |
| Ratlosigkeit. Eine ältere Dame geht dem Schläger an die Kehle und fliegt | |
| durch den Raum. „Das machst du nicht, wenn ich dabei bin!“ – Sie weiß: | |
| Diese Szene wird sich wiederholen. Sie weiß aber wie alle anderen Besucher | |
| auch, dass das alles Teil einer Theater-Performance ist, die die Ränder der | |
| Gesellschaft lebensecht nachzustellen versucht. Dieses Wissen wird während | |
| der zwölfstündigen Inszenierung allerdings schnell nutzlos. | |
| Die Erfahrung, der man sich beim Besuch der neuen Signa-Produktion „Das | |
| halbe Leid“ aussetzt, geht vom ersten Moment an nahe. Auf dem Ticket, das | |
| man am Rolltor der stillgelegten Werkshalle in Barmbek abgibt, ist noch das | |
| Logo das Hamburger Schauspielhauses drauf. Aber das Erhabenheitsgefühl des | |
| Theaterbesuchers kommt nicht auf. Die eigene Kleidung hängt bald im | |
| Blechspind und man trägt eine Jogginghose und ausgelatschte Turnschuhe. So | |
| sehen alle aus, mit denen man diese Nacht verbringt, die Schauspieler und | |
| die Besucher. Alle nehmen an einem Workshop für Empathie teil, so die | |
| Spielverabredung. Und die „Leidsätze“ für die Teilnehmenden lauten so: | |
| „1.: Ich trage deine Kleidung und deinen Namen. | |
| 2.: Ich ekel mich nicht vor dir. | |
| 3.: Ich darf dich nicht beurteilen. | |
| 4.: Ich versuche nicht, dir dein Leid wegzunehmen. | |
| 5.: Ich nehme Teil an deinem Leid.“ | |
| Wir Gäste, die hier „Kursisten“ heißen, sind auf 50 Personen begrenzt, uns | |
| gegenüber steht die gleiche Anzahl an Schauspielern. Sie stellen entweder | |
| Obdachlose, hier „Leidende“ genannt, oder die ehrenamtlichen Mitarbeiter, | |
| die „Mitleidenden“ des Vereins Das halbe Leid e.V. dar. In einem | |
| Einführungsvortrag wird die gesamte paternalistische Hölle des | |
| Sozialpädagogensprechs aufgefahren. Gleich darauf werden die Teilnehmer in | |
| einer Reihe aufgestellt und in einer Zeremonie, die an Militär und | |
| Sportunterricht erinnert, von den Obdachlosen ausgewählt. Wir sind ihre | |
| Kursisten, sie unsere Mentoren. Wir werden ihnen ähnlich und geben unsere | |
| Namen ab – wir sind Rolf I und Wolfgang II. | |
| Die Namen stehen auf den Schildern, die vor unserer Brust hängen. Rolf und | |
| Wolfgang, der stets betrunkene Prügelknabe und der Paranoiker, bleiben für | |
| die nächsten Stunden unsere wichtigsten Bezugspersonen. Mit ihnen werden | |
| wir identifiziert und identifizieren uns bald schon selbst mit ihnen. | |
| Joe, ein etwas untersetzter Osteuropäer feixt, Rolf frühstücke jeden Morgen | |
| drei Dosen Bier. Hase, eine junge Frau mit aufgesetzten rosa Ohren lästert | |
| über Wolfgang. Wir haben das Bedürfnis, unsere Alter-Egos zu verteidigen. | |
| Denn sie, das sind ja schließlich wir. | |
| Das Leben als einzige kalte und finstere Nacht | |
| Der Empathie-Workshop zeigt schon sehr früh erste Erfolge. In wahnsinnig | |
| gewordenen Versionen von Gestalt-, Musik- und Sporttherapien teilen | |
| Leidende und Kursisten ihre Erfahrungen mit Enttäuschung, Gewalt und | |
| Schmerz. Ab Mitternacht beginnt eine Phase brüchiger Nachtruhe. Das Licht | |
| erlischt, vorsichtig legt man sich in die Stockbetten der nach | |
| Geschlechtern getrennten Schlafsäle. Die Aufgabe der Kursisten ist es nun, | |
| den zugeordneten Leidenden vor seinem inneren Leid zu beschützen. Zur Ruhe | |
| kommt niemand. Man hört Schritte, Schreie und Wolfsgeheul vom Band. | |
| Das Leben erscheint hier als eine einzige kalte und finstere Nacht. | |
| Zwischen den Schlafsälen und Seminarräumen liegt eine riesige, | |
| neon-beleuchtete Halle. Sie ist so etwas, wie ein öffentlicher Platz. Hier | |
| begegnen sich alle Akteure beim Rauchen an den Sitzbänken. Wir stehen | |
| beieinander und trinken Dosenbier. Der Leiter der Einrichtung mit dem | |
| sprechenden Namen Peter Freund bleibt stehen und sagt ein paar Sätze, die | |
| das bisher Geschehene reflektieren. | |
| In diesem Stück, von dem man nie genau sagen kann, was gespielt wird und | |
| was echt ist, ähnelt seine Ansprache dem Erwachen im Traum. Das Spiel wird | |
| im Spiel durchbrochen. In der Ödnis dieser ewigen Nacht wird spürbar, dass | |
| man hier niemand ist und nichts hat. Das einzige, worauf man sich noch | |
| beziehen kann, ist die armselige Gestalt, die einem an die Hand gegeben | |
| wurde. Aber wo ist sie? Geht es ihr gut? Hoffentlich wird sie nicht wieder | |
| von jemandem beraubt oder verprügelt. Besonders Rolf wird häufig Opfer und | |
| so kommt man oft in den Zwang, sich verhalten zu müssen. Man kauft für ihn | |
| Bier, gibt ihm Geld und schreitet ein, wenn andere ihm ans Leder wollen. | |
| Außer Rolf und Wolfgang bleibt uns nichts in dieser Welt. | |
| Aus dem Handgemenge kommt man nicht heraus. Ein Konflikt im | |
| Männerschlafsaal eskaliert. Serkan, Streetworker und Hinterhofboxer, greift | |
| mit einem Gürtel durch. Auf dem Rücken des Gemaßregelten bleiben blutige | |
| Striemen, sie sind der Übergang zwischen Spiel und Ernst, Fiktion und | |
| Realität. Die Keilerei verlagert sich, man beschimpft Serkan wütend als | |
| Faschisten. „Na fühlst du dich jetzt stark? Aber weißt du, morgen bist du | |
| nicht mehr da. Und dann greif ich mir deinen Mentoren. Der kriegt dann | |
| deinen Auftritt zu spüren!“ Das schlechte Gewissen wird auch Tage später | |
| noch anhalten. Was, wenn alles Mitleid nur Selbstbestätigung ist? Was, wenn | |
| die Überwindung der Angst, die mühsame Einmischung nur die Manifestierung | |
| des eigenen Selbstbildes ist? Vielleicht ist all das Wohlgemeinte nutzlos? | |
| Nicht eklig klebrig, nicht anmaßend | |
| Ein Empathie-Workshop könnte eklig klebrig sein. Der Versuch den verlorenen | |
| Rand der Gesellschaft lebensecht nachzustellen, erscheint anmaßend. Beides | |
| aber bleibt aus. Das könnte daran liegen, dass es sich hier trotz all der | |
| Theatralik weniger um Theater, sondern mehr um Kunst handelt. | |
| Die beiden Köpfe der Gruppe – Arthur und Signa Köstler – kommen nicht vom | |
| Theater, sondern aus der Bildenden Kunst. Es geht hier nicht um das | |
| Einreißen der so genannten vierten Wand, jener Grenze zwischen Publikum und | |
| Bühne. Dieser Theaterdiskurs spielt keine Rolle. Es geht um das Beleben | |
| einer Installation, eines Environments, wie man es für Performances | |
| entwirft. | |
| Die Produktionen der 2004 gegründeten Signa-Gruppe finden dennoch | |
| ausschließlich im Theaterkontext statt – in Kopenhagen, Wien oder jetzt | |
| eben Hamburg. Die Inszenierungen finden stets an Außenspielstätten statt, | |
| die in Schulen, Fabriken oder Mietshäusern eingerichtet werden. Auf deren | |
| Gestaltung wird mindestens genauso viel Wert gelegt, wie auf die | |
| Performance. | |
| In der stillgelegten Werkshalle in Hamburg-Barmbek stimmt alles. Der | |
| Männerschlafsaal stinkt nach Schweiß, der Frauenschlafsaal nach | |
| Waschmittel, im Tagebuch des Musiktherapeuten kann man seine ganze traurige | |
| Liebesgeschichte nachlesen, auf jeden Gegenstand im Büro der | |
| Vereinsleiterin wurde ganz klein „Fotze“ geschmiert. Man muss dieses | |
| geschlossene System für die Dauer der Inszenierung als wahr anerkennen. | |
| Sich zu verschließen ist keine Option. Früher oder später wird man | |
| Mitspieler, schmiedet Allianzen und erzählt Dinge, wie sonst nur in | |
| Therapiesitzungen. | |
| Viele der Vorwürfe, die oft bei immersivem Theater, bei dem die Grenzen | |
| zwischen Inszenierung und Wirklichkeit zutreffen, tun dies hier | |
| erstaunlicherweise nicht. Man denke etwa an den autoritären Moralismus des | |
| Zentrums für politische Schönheit. | |
| Das Signa-Theater ist anti-hierarchisch organisiert – und das in mehrfacher | |
| Hinsicht. Allein, die Tatsache, dass das Geschehen kein Zentrum hat und | |
| jeder Teilnehmer potenziell etwas vollkommen anderes erlebt, ist | |
| bemerkenswert. Aber auch der Einfluss, den ein jeder selbst auf die | |
| Entwicklung der Handlung hat, trägt dazu bei. | |
| Um halb sechs Uhr morgens endet die Nacht nach kurzem Schlaf, mit grellem | |
| Neonlicht und einer ätzenden Keyboard-Version von „Über den Wolken“. | |
| Anstehen zum Haferschleim holen, müde Gesichter, rote Augen, erneute | |
| Eskalationen und dann der Morgenkreis. Man singt, rekapituliert die Nacht, | |
| streitet und beschwichtigt. Dann zieht man sich um und bekommt die | |
| Teilnahmebescheinigung ausgehändigt, verabschiedet sich und geht. | |
| Da steht man dann auf der Straße, Finster und arschkalt ist es. „Der | |
| Teilnehmer ist befähigt, selbstverantwortlich die für ihn hilfreichen | |
| Erfahrungen im Alltag umzusetzen.“ Das steht auf dem Testat. Ja, man hat | |
| gelitten, hat Leid gezeigt und Leid gesehen. Man erfuhr aber auch eine | |
| zynische Version von Nächstenliebe. In den „Leidsätzen“ der Mitleidenden, | |
| in denen sich die Hierarchien manifestieren heißt es: „Ich scheue kein | |
| Mittel, dein Leid zu enthüllen.“ | |
| Inszenierung „Das halbe Leid“: Werkshalle der Firma Heidenreich & Harbeck, | |
| Wiesendamm 30, Hamburg. Es gibt noch Restkarten für einzelne Termine, z.B. | |
| für Freitag, den 15.12. um 19 Uhr. Alle Termine unter www.schauspielhaus.de | |
| 14 Dec 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Radek Krolczyk | |
| Hannah Wolf | |
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