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# taz.de -- Obdachlos in Hamburg: Ausgrenzung ohne Zäune
> Ein Obdachloser macht eine Führung durch Hamburg und zeigt, was es alles
> an Grenzen gibt: Pflastersteine, Musik und Mülleimer.
Bild: Manchmal gibt es nicht mal eine freie Bank – nur Hindernisse.
HAMBURG taz | Wer von den Landungsbrücken zur Reeperbahn will, passiert die
Kersten-Miles-Brücke. Unter ihr sitzt Torsten Meiners auf einem rauen,
unebenen Steinklotz. Er wurde extra für Leute wie ihn verlegt. Man könnte
auch sagen: gegen Leute wie ihn – gegen Obdachlose. Der im Boden
eingelassene Stein, einer von vielen, macht es ungemütlich, unter der
Brücke zu schlafen.
Die Steine sind eine Markierung – bis hierhin, nicht weiter. Sie sind so
was wie Grenzen. Auch der schräge Boden und die Rinne, durch die das
Regenwasser fließt. Niemand soll hier verweilen.
Um die Brücke hat sich ein Streit in Hamburg entwickelt, denn sie steht für
etwas, man sieht was an ihr. Man sieht, wie die Stadt mit Obdachlosen
umgeht. Jahrelang campierten sie dort. Nicht immer im Einklang miteinander.
Es gab Schlägereien. Die Polizei berichtete im Oktober 2010 von fünf
Verfahren wegen Körperverletzung in einem Jahr – einer starb. Außerdem habe
es eine Vergewaltigung unter der Brücke gegeben.
Der damalige Chef der Bezirksverwaltung von Hamburg-Mitte, Markus Schreiber
(SPD), sah in der Brücke einen „Angstraum“, sagte auch, es habe
Anwohnerbeschwerden gegeben. Daraufhin ließ der Bezirk die Steine verlegen.
Die Hoffnung der Behörde: Wenn die Menschen unter der Brücke verschwinden,
verschwinden die Probleme.
Doch die Obdachlosen kamen weiterhin hierher, auch wenn es nun ungemütlich
war. Kurzerhand grenzte Schreiber, der Bezirksverwaltungschef, das Areal
unter der Brücke deshalb mit einem hohen Zaun ein.
## Solidarität mit den Obdachlosen
Das war zu viel: Plötzlich protestierten die Obdachlosen. Und Menschen aus
Hamburg solidarisierten sich mit ihnen. Es gab Kunstaktionen, eine
Demonstration, mehr als 1.250 Leute kamen. Auch in der Bürgerschaft
kritisierten alle Parteien das Vorgehen – nach zehn Tagen war der Zaun
wieder weg.
Meiners war damals bei den Aktionen dabei. „Erst wenn die Ausgrenzung
offensichtlich wird, geht der Protest los“, sagt er. Die meisten Grenzen in
der Stadt jedoch seien subtiler. Ohne Zäune. Ohne Steine.
Meiners, 48, ein kleiner, gepflegter Mann, mit braunen Augen, dunklem Bart,
ist durchtrainiert. Er hat eine rote Regenjacke an, ein schwarzes
Stirnband, beige Hose. Sein altes grünes Fahrrad steht an der Brücke – ein
Geschenk. „Ich kleide mich normal, um nicht mit Klischees konfrontiert zu
werden“, sagt er.
## Unsichtbare Grenzen für Obdachlose
Meiners ist Stadtführer – ein besonderer. An diesem regnerischen Tag zeigt
er die unsichtbaren Grenzen, an die Obdachlose in Hamburg stoßen. Er
beginnt am Hauptbahnhof. Nach Wien, Zürich und Kopenhagen geht es hier –
für die meisten aber nach Norderstedt, Stade, Pinneberg.
„Dieser Ort ist wie ein Brennglas“, sagt Axel Mangat von der
Bahnhofsmission. „Alles, was es in Hamburg gibt, zeigt sich auch hier.“
Reiche, Arme, Künstler, Konsumenten, Reisende – und Obdachlose, zählt er
auf. Die Bahn berichtet von fast einer halben Million Menschen im Bahnhof
jeden Tag. Nirgendwo in der Stadt ist Obdachlosigkeit so sichtbar wie hier.
Nirgendwo sonst in der Stadt können so viele Leute sie sehen.
Meiners steht in der Imbiss-Meile der Wandelhalle im nördlichen Teil des
Bahnhofs – einem Einkaufszentrum. Es riecht nach gebratenem Fleisch, im
Hintergrund zischt eine Kaffeemaschine. Manchmal, erzählt er, komme er
hierher, um Essensreste zu sammeln. Beim Schnellrestaurant KFC werden
Hähnchenteile in Pappeimern verkauft – Pappeimer so groß wie die für
Popcorn im Kino.
„Wenn jemand die stehen lässt, dann nehme ich die mit“, sagt Meiners. Wenn
er sieht, dass ein abgestellter Teller noch halbvoll ist, isst er ihn auf.
Aber die Betreiber der Imbisse in der Wandelhalle wollen keine Resteesser.
Wer erwischt wird, bekommt Ärger. „Das macht man einfach nicht“, sagt
Daniel Martens, der die Wandelhalle betreibt.
## „Ausgrenzung von Armen“
Meiners entsetzen diese Regeln: „Das sind offene Lebensmittel, mit denen
die eh nichts mehr anfangen können.“ Er nehme niemandem etwas weg. Er redet
ruhig und eloquent – unaufgeregt ist sein Tonfall. „Ausgrenzung von Armen“
nennt Meiners das Verhalten der Wandelhallen-Leute. Unsichtbar geschehe
das.
Auf dem überdachten Platz zwischen Schauspielhaus und Bahnhof läuft
ununterbrochen klassische Musik. Sie soll Obdachlose, Trinker und Junkies
vergrämen. Die Lautsprecher sind für Meiners wie Grenzsteine.
Grenzen sind Meiners Lebensthema. „Ich will immer ausbrechen aus dem
Kreis“, sagt er. In der DDR ist er aufgewachsen, nah bei Berlin. Um
rauszukommen wurde er Hochseefischer. „Ich wollte etwas von der Welt
sehen.“ Das sei der einzige Beruf in jenem Staat gewesen, mit dem man habe
rauskommen können.
## Der Mauer – eine überwundene Grenze
Nach dem Mauerfall allerdings zieht er nach Hamburg, seine Großmutter wohnt
da. Er wird Fahrradkurier und beginnt Roulette im Casino zu spielen. Er
wird süchtig, verzockt zu viel und wandert aus, nach Neuseeland – ohne
Visum. Nach eineinhalb Jahren mit Gelegenheitsjobs ist er wieder pleite.
„Die haben angefangen, Casinos zu bauen“, sagt er. Die neuseeländische
Polizei legt ihm nahe zu gehen. Den Rückflug nach Hamburg bezahlt sein
Vater.
Ohne Konto, ohne Arbeit, ohne Versicherung, ohne Zuhause versucht er den
Neustart. Er weiß, dass er immer mal seine Miete aufs Spiel setzen würde.
Je nachdem, wie es dann läuft, könnte er zahlen, oder auch nicht. Deshalb
verzichtet er lieber auf eine Wohnung – seit sieben Jahren. Casinos meidet
er, so weit hat er’s im Griff, Spielhallen nicht. Das Spielen brauche er
für seine emotionale Balance. Die Hälfte seiner Einnahmen geht dafür drauf.
Er lebt in verlassenen Gebäuden und hofft, dass ihn niemand findet. So zu
wohnen ist für ihn nicht nur praktisch, sondern auch Protest gegen
Leerstand, sagt er. Gerade logiert er in einem großen Gebäude in einer von
Hamburgs edleren Straßen.
Meiners lebt vom Verkauf des Straßenmagazins Hinz & Kunzt und er [1][führt
Gruppen durch die Stadt], liest Schulkindern aus einem Buch über Obdachlose
vor und spricht mit Journalisten. Flaschen sammelt er und Aktmodell für
Maler und Kunststudenten ist er auch.
Hartz IV will er nicht beantragen. Er lehnt das ab, findet das unwürdig.
Man sei für das Job-Center kein Hilfesuchender, sondern ein Bettler, meint
er. „Ich bettle nicht, ich verkaufe Zeitungen“.
## „Unnötiger Aufenthalt“ – was Sprache verrät
Die Grenze zwischen Bahnhof und Stadt markiert eine unscheinbare Fuge. Auf
der sitzt Selegan Dumitru aus Rumänien, in seiner Hand hält er Exemplare
von Hinz und Kunzt. Im Bahnhof darf er sie nicht anbieten. Er lehnt sich
mit dem Rücken an eine Mauer – über ihm hängt die Hausordnung, ein
unscheinbares Schild. Sie regelt, dass „unnötiger Aufenthalt“ verboten ist.
Auch Flaschen dürfen im Bahnhof nicht gesammelt werden. „Es kann beim
Durchsuchen von Müllbehältern zu Verletzungen kommen“, sagt Bahn-Sprecherin
Sabine Brunkhorst. Es sei gefährlich, hineinzugreifen. Zudem könne das
Umfeld vermüllt werden. „Das sieht einfach unschön aus“, sagt sie.
Flaschensammler sind trotzdem da. Aber: „Die gestalten die Mülltonen
absichtlich so, dass man nicht hineingucken kann“, sagt Meiners.
Er schiebt sein Rad neben sich her und erzählt, wie wichtig das
Flaschensammeln für Obdachlose ist. „Das ist die größte
Umverteilungsmaßnahme seit Jahren.“ Umso schlimmer, wenn das verhindert
werde. Wie am Bahnhof. Oder am Hamburger Flughafen. Dort, erzählt Meiners,
habe er die Pfandflaschen der Frühflieger eingesammelt. Zwischen fünf und
sechs Uhr morgens – bis die Security es verbot.
## „Mir fehlen fünfzig Cent für ein Bier“
Ein Mann wankt auf ihn zu. „Hey, habt ihr Teamgeist?“ Er hat lange Haare,
eine Sonnenbrille hochgesteckt, in den Plastikgläsern sieht man
Regenbogenfarben. In seiner linken und rechten Tasche steckt je eine
Bierdose. „Mir fehlen fünfzig Cent für ein Bier.“ Meiners lehnt ab: „Ne…
für mich ist das viel Geld“, sagt er.
Meiners steuert ein altes leeres Bürogebäude an, in dem das
Winternotprogramm von Hamburg ist, 160 Obdachlose pro Nacht können hier
schlafen, über 1.000 nutzen es über den Winter. An der Seite hängt die
Werbung für das Musical „Rocky“. Sein Untertitel: „Fight from your heart…
Am Eingang guckt er durch die verschlossene Glastür. Ein Mitarbeiter des
Hauses entdeckt ihn, geht zum Eingang und drückt die Türklinke, um sich ja
zu vergewissern, dass auch abgeschlossen ist.
Meiners ärgert es, dass die Obdachlosen nur von 17 bis 9 Uhr bleiben
dürfen. Auch im Winter, bei Kälte, werden sie morgens vor die Tür gesetzt –
so empfindet er das. „Das ist Alibi-Hilfe.“ Das Haus stand Jahre leer.
Meiners wünscht sich mehr dauerhafte Bleiben kleiner Projekte für die
Obdachlosen in Hamburg. So ist es zu groß, „das ist kasernierte
Ausgrenzung“, findet er.
30 Sep 2012
## LINKS
[1] http://www.hinzundkunzt.de/linke-leiste/hamburger-nebenschauplatze/
## AUTOREN
Daniel Kummetz
Daniel Kummetz
## TAGS
Mitleid
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