| # taz.de -- Pläne eines Hamburger Obdachlosen: „Ich bin mit meinem Leben üb… | |
| > Michael M. lebt in Hamburg auf der Straße. Seine Hündin Strange ist immer | |
| > dabei. 2016 will er sein bisheriges Leben hinter sich lassen und in eine | |
| > Wohnung ziehen. | |
| Bild: Wünscht sich ein stabiles Leben - einen Fernseher etwa und vielleicht no… | |
| taz: Michael, welche Pläne hast du fürs nächste Jahr? | |
| Michael M.: Hauptsächlich geht es mir darum, eine Wohnung zu finden – einen | |
| Fixpunkt in meinem Leben. Das ist mir ganz, ganz wichtig. Um das zu | |
| schaffen, habe ich jetzt eine gesetzliche Betreuung für mich beantragt – | |
| aus eigenen Stücken. | |
| Was macht die? | |
| Die regelt meine Angelegenheiten und unterstützt mich dabei, Hartz IV zu | |
| beantragen. Das bekomme ich selbst nicht hin. Zurzeit lebe ich nur von dem | |
| im Becher. Das ist für mich aber eigentlich schon zu viel Geld. | |
| Wie viel verdienst du denn? | |
| Jetzt in der Weihnachtszeit, wenn ich den ganzen Tag vor dem Edeka hinterm | |
| Rathaus sitze, so durchschnittlich 80 Euro. Sonst sind es täglich so 40 | |
| Euro. | |
| Was machst du mit dem ganzen Geld? | |
| Ich finanziere mir alles damit. Meine Hündin Strange kriegt nur frisches | |
| Fleisch vom Metzger. | |
| Echt?Natürlich, wenn schon leben, dann in Luxus fröhnen. Warum soll ich ihr | |
| die günstigste Dose Hundefutter von Edeka kaufen – mit viel Flüssigkeit, | |
| ein bisschen Reis, Rohasche, Zucker und weiß Gott was noch, wenn ich für | |
| ein bisschen mehr einen dicken, fetten Fleischknochen für sie kaufen kann. | |
| Das ist viel natürlicher und gesünder für sie. | |
| Aber dir schenken oft Leute Dosenfutter, oder? | |
| Ja, aber die schenke ich meistens weiter: ans Tierheim oder andere | |
| Hundebesitzer. Ich schmeiße es nicht weg. | |
| Woran ist es bisher gescheitert, dass du in eine Wohnung gezogen bist? | |
| An meiner eigenen Inkompetenz. Ich bin mit meinem Leben überfordert. Dabei | |
| möchte ich nicht dauerhaft auf der Straße leben. Ich kriege es nur nicht | |
| selbst auf die Reihe, mich darum zu kümmern, weil ich eine schwere | |
| Borderline-Persönlichkeit habe – eine psychische Behinderung. Ich hoffe, | |
| dass ich durch den gesetzlichen Betreuer endlich einen Behindertenausweis | |
| bekomme und dass meine Krankheit anerkannt wird. | |
| Was hat die Krankheit für einen Einfluss auf dich? | |
| Ich habe eine starke Impulsstörung. Ich nehme mir Sachen vor, aber die | |
| ändern sich teilweise minütlich. Ich versuche einen Fixpunkt zu greifen, | |
| aber es funktioniert nicht, weil ich einfach zu viele Quergedanken habe. | |
| Ich schaffe es nicht, Freundschaften zu halten und zu pflegen, obwohl ich | |
| mich anstrenge. Manchmal ergreife ich einfach die Flucht. Ich lebe ein | |
| halbes Jahr irgendwo und haue dann ab. Ich habe einen inneren Impuls, der | |
| mich einfach zwingt, die Stadt zu verlassen. Aber vorher hinterlasse ich | |
| ordentlich Chaos. Alles, was ich mir da aufgebaut habe, zerstöre ich, um | |
| mir einen Grund zu liefern, da nicht mehr hin zu müssen. Ich weiß nicht, | |
| warum. | |
| Warst du schon einmal in Behandlung? | |
| Nein, aber das ist jetzt eben mein Weg. Den Grundpfeiler will ich dafür mit | |
| dem gesetzlichen Betreuer setzen, der mir erst einmal die meiste | |
| Verantwortung für mein Leben aus der Hand nimmt, damit ich die Möglichkeit | |
| habe, überhaupt in Therapie gehen zu können. | |
| Was willst du mit deinem Leben machen? | |
| Viele Träume habe ich gar nicht. Ich möchte ein stabiles, vernünftiges | |
| Leben führen. Natürlich möchte man auch einen bestimmten Standard im Leben | |
| haben, einen vernünftigen Fernseher, vielleicht noch eine Spielekonsole. | |
| Eine Frau und eine Familie? | |
| Frau ja, Kinder nein. Meine psychische Störung ist keine Basis für eine | |
| Familie. Ich werde niemals normal arbeiten gehen können. Das weiß ich. | |
| Vielleicht auf dem zweiten Arbeitsmarkt in irgendeiner Werkstatt. | |
| Hättest du da Lust zu? | |
| Natürlich. Für mich ist nur immer die Bedingung, dass meine Hündin mit | |
| kann. Sie ist mein Puffer. Was heißt das? | |
| Sie ist da, wenn ich überlastet oder angespannt bin. Deswegen bin ich auch | |
| nach fast drei Jahren in Hamburg immer noch nicht abgehauen. Wenn es | |
| stressig ist, fahre ich mit ihr spielen – irgendwo am Elbstrand. Strange | |
| ist mein Puffer zwischen der Realität und meiner Störung. | |
| Ist sie immer bei dir? | |
| Nein. Wir waren einmal für neun Monate getrennt, als ich in der Haft war. | |
| Seitdem ist sie noch anhänglicher. | |
| Warum warst du im Gefängnis? | |
| Eine Geldstrafe, die ich leider nicht zahlen konnte. Halt, nein, stopp: ein | |
| Bewährungswideruf aus Bayern, weil sie mich nicht erreicht haben. | |
| Warst du schon öfter in Haft? | |
| Fast acht Jahre meines ganzen Lebens. Ich bin im Heim und in der Haft | |
| aufgewachsen. Ich hatte keine große Jugend. Ich hab mir mein Leben so | |
| dermaßen versaut. | |
| Was hast du angestellt? | |
| Jugendscheiße. Einbruch, Diebstahl und so. Ich habe mich verleiten lassen | |
| und dann die Kurve nicht mehr gekriegt. Ich bin aus dem Heim abgehauen und | |
| habe auf der Straße gelebt. | |
| Warum warst du im Heim? | |
| Meine Mutter kam nicht mehr mit mir klar. Deshalb bin ich in ein | |
| geschlossenes Heim für Schwererziehbare gekommen. Da war es halt so: Wenn | |
| du abgehauen bist, wurdest du isoliert, in Zellen wie in der Haft – und das | |
| als 16-jähriger Jugendlicher. Die haben nicht versucht, pädagogisch mit dir | |
| zu arbeiten. Die haben dich erst mal drei Tage in diese Isolationszellen | |
| geschickt, die es in drei verschiedenen Stufen gab. | |
| Was für Stufen? | |
| In der einen Zelle war ein Bett drin und eine normale Toilette. Die zweite | |
| hatte eine Matratze und eine normale Toilette und die dritte Stufe eine | |
| Decke und ein Plumpsklo – eine französische Toilette. | |
| Damit die Jugendlichen sich nicht selbst verletzen? | |
| Ja, aber es ist kontraproduktiv, was in diesem Heim gemacht wurde. Da | |
| drehst du erst recht ab. Damals brauchten die keine richterliche Anordnung, | |
| um dich da rein zu stecken. Heute ist das anders, habe ich gehört. | |
| Und da bist du abgehauen?Ja, natürlich. Ich hatte davor auch schon lange | |
| Heimzeiten hinter mir. Von meinem Stiefvater wurde ich zu Hause geschlagen, | |
| wenn nur ein Spielzeugauto auf dem Boden lag. Es hieß nicht: „Räum das mal | |
| weg“, sondern es gab direkt Schläge. Dann hat das Jugendamt mich da | |
| rausgenommen. Später kam ich wieder nach Hause, aber da lief alles aus dem | |
| Ruder. Ich wollte mir nichts sagen lassen, war so außer Kontrolle, dass | |
| keiner mehr an mich ran kam. Dann kam ich in dieses Schwererziehbaren-Heim | |
| und bekam die ersten Jugendarreste. Wann hast du die erste Nacht auf der | |
| Straße geschlafen? | |
| Das weiß ich nicht mehr genau, ich war vielleicht zwölf oder vierzehn Jahre | |
| alt. | |
| Und dauerhaft? | |
| Mit 16 oder 17 Jahren. Ich habe mich nirgendwo mehr wohl gefühlt und das | |
| war mein einziger Zufluchtsort – und ist es heute noch. Ich hab unter einer | |
| Brücke in Nürnberg geschlafen bei den Punks. Ich erinnere mich noch an eine | |
| Geschichte, da war ich 13 oder 14 Jahre alt und zu Besuch in Hamburg. | |
| Obdachlose haben mir Heroin angeboten. Ich hab das damals geraucht, aber | |
| Gott sei Dank für mich entschieden, dass ich das nicht will. | |
| Sonst wärst du jetzt wahrscheinlich tot – als Heroinabhängiger auf der | |
| Straße. | |
| Vermutlich. Ich kenne aber niemanden auf der Straße, der keine Sucht hat. | |
| Was ist deine? | |
| Gras. | |
| Warum kein Alkohol? | |
| Der vernebelt die Sinne so, dass du die Kälte nicht mehr merkst. Ich habe | |
| vor so einem Kontrollverlust Angst. Ich muss nachts mitkriegen, wenn Leute | |
| an mich ran kommen und mein Hund bellt. | |
| Wie behandeln dich die Menschen, denen du auf der Straße begegnest? | |
| Das ist ganz unterschiedlich. Ich schätze zwischen fünf und zehn Prozent | |
| beachten mich, dem Rest bin ich einfach egal. Einige reagieren mit | |
| Hilfsbereitschaft. Manche rümpfen ein bisschen die Nase, wenn sie an mir | |
| vorbei laufen. Du merkst daran schon die Missachtung, die man dir | |
| entgegenbringt. | |
| Tut es dir weh, wenn dich Leute ignorieren? | |
| Früher hat es mehr weh getan, wenn sie mich beleidigen. Mittlerweile ist es | |
| mir gleichgültig, auch wenn sie mich ignorieren. Das war aber schwierig zu | |
| lernen. | |
| Würdest du dir wünschen, dass die Menschen höflicher zu dir sind? | |
| Natürlich. Ich halte ja auch die Tür auf, wenn ich nach draußen gehe und | |
| sage Guten Morgen, wenn jemand an meinem Schlafplatz vorbeiläuft. | |
| Hast du manchmal Stress mit anderen Obdachlosen?Gar nicht. Ich gehe dem aus | |
| dem Weg, lasse mir aber auch nichts gefallen, auch nicht von rumänischen | |
| noch von bulgarischen Mitbürgern. Mit meinen eigenen, deutschen Obdachlosen | |
| habe ich niemals Ärger, weil ich mit denen reden kann. | |
| Und mit den anderen Gruppen gibt es Probleme, weil ihr euch nicht | |
| verständigen könnt? | |
| Und weil sie einfach kackendreist sind. Wir fassen das mal beim Namen. | |
| Was meinst du damit? | |
| Dass sie Leuten mit Kindern einen Becher unter die Nase halten und sie | |
| anbetteln, dass sie mit Krücke einen auf Gehbehindert machen oder sagen, | |
| dass sie Essen brauchen, obwohl schon eine ganze Tüte voll neben ihnen | |
| steht und sie 150 Euro in der Tasche haben – sie bleiben trotzdem sitzen. | |
| Und abends kommt irgendein Mensch, der das abkassiert. | |
| Woher weißt du das? | |
| Ich kenne eine Gruppe persönlich. | |
| Sind die Leute denn obdachlos?Die haben Häuser drüben in der Slowakei. | |
| Und in Hamburg? | |
| Hier leben sie auf der Straße, um ihre Sachen drüben zu finanzieren. | |
| Hier scheint es ihnen nicht gut zu gehen. | |
| Ja, das stimmt. Ihr Geld wird einkassiert. Sie kriegen nur zehn Prozent von | |
| dem, was sie einnehmen. | |
| Dann sind die, die in der Stadt sitzen, doch arme Säue. | |
| Ja, aber sie haben auch nichts davon, wenn man ihnen etwas gibt. Es wird | |
| ihnen eh abgeknöpft, auch wenn sie es freiwillig machen. Solange man da | |
| trotzdem Geld gibt, dreht man den Hintermännern nicht den Hahn ab. | |
| Wie kommt ihr miteinander klar? | |
| Wenn ich an meinen Platz komme, gehen die. Ich habe mir diesen Platz auch | |
| drei Jahre erarbeitet. Ich möchte nicht, dass der auf irgendeine Weise | |
| kaputt gemacht wird. Ich will nicht, dass sich da jemand hinsetzt und | |
| literweise Bier trinkt. Das dulde ich an meinem Platz gar nicht. | |
| Und wenn doch? | |
| Darf der gehen. | |
| Und wenn er nicht will? | |
| Dann setze ich mich und er soll sein Glück versuchen – wird er nicht haben. | |
| Ich habe viele Büromenschen, die mir täglich Geld geben. Eine Dame hat mir | |
| gerade 160 Euro geliehen, um meine Geldstrafe zu bezahlen, sie hat mir | |
| meine Hundehaftpflicht für das Jahr bezahlt. Ich habe Leute, die schenken | |
| mir jeden Tag zwei Euro, die holen mir jeden Tag einen Kaffee. Büros nehmen | |
| für mich Post an. Ich hab da eine feste Struktur. Dagegen anzukommen, ist | |
| für jemanden, der nur ab und zu da sitzt, unmöglich. | |
| Du wurdest in diesem Jahr von deinem Schlafplatz ganz in der Nähe | |
| vertrieben. | |
| Ja. Ich habe zwei Jahre am Allianz-Hochhaus gelebt. Die hygienischen | |
| Zustände waren wirklich gravierend. Es hat alles nach Urin gestunken. Es | |
| war alles vermüllt. Wenn du geschlafen hast, liefen die Mäuse über dich | |
| drüber. Es war nicht mehr auszuhalten. Deshalb kann ich durchaus verstehen, | |
| dass der Platz geräumt wurde – auch wenn es mit Sicherheit andere | |
| Möglichkeiten gegeben hätte, um das zu klären. | |
| Welche? | |
| Man hätte vielleicht einen großen Müllcontainer aufstellen und | |
| Sicherheitsleute einstellen können, die ein bisschen für Ordnung sorgen. | |
| Und man hätte das Dixi-Klo mehr als einmal in der Woche leeren müssen. | |
| Wo schläfst du jetzt? | |
| In der Seitenstraße an der Europapassage in einem Hauseingang. | |
| Fühlst du dich im Zentrum sicherer als am Stadtrand? | |
| Ja. Obwohl sie mir meine Sachen hier auch schon angezündet haben. Ich hatte | |
| nichts mehr, keinen Schlafsack, keinen Rucksack. Das war vorletztes Jahr | |
| kurz vor Weihnachten. | |
| Hast du seitdem Angst? | |
| Man hat, glaube ich, immer Angst – davor, dass man noch im Schlafsack | |
| liegt, wenn der angesteckt wird. Es gibt Leute, die sich einen Spaß daraus | |
| machen, anderen Menschen weh zu tun. Mir haben sie den Kiefer gebrochen. | |
| Ich wollte einem Betrunkenen helfen, der auf der Schnellstraße stand. Seine | |
| Kumpels haben mir als Dankeschön den Schädel eingeschlagen. | |
| Hast du deine Hündin auch zum Schutz? | |
| Ja. Sie ist Security, Spielpartner und Seelentröster, alles in einem. | |
| Warum schläfst du eigentlich nicht im Winternotprogramm der Stadt Hamburg? | |
| Da komme ich mit Hund an den meisten Stellen gar nicht rein. Es gibt für | |
| Hundebesitzer zu wenig Plätze. Außerdem hast du da nur Betrunkene um dich | |
| rum, übelstes Chaos. Da kann ich besser auf der Straße schlafen. | |
| Wie willst du den Winter überstehen? | |
| Ich werde mir irgendwo ein Zelt besorgen und das mit ganz, ganz vielen | |
| Decken mitten in die Pampa stellen. | |
| Wenn deine Pläne klappen und du im nächsten Jahr eine Wohnung hast, | |
| möchtest du dann trotzdem noch vor dem Supermarkt sitzen? | |
| Ja, es ist mit Hartz IV einfach nicht möglich, alleine klar zu kommen. Es | |
| gibt so viele Fixkosten, wie deine Monatskarte für die Bahnfahrt. | |
| Aber viele Menschen schaffen das doch. | |
| Aber wie ist die Frage. 80 Prozent von denen sitzen den ganzen Tag zu Hause | |
| und gucken in die Röhre. Die verlieren dann einfach die Lust am Leben. So | |
| möchte ich nicht enden. Dann setze ich mich lieber noch zwei Stunden am Tag | |
| vor den Edeka, lese mein Buch und unterhalte mich mit den Menschen. | |
| Hast du gute Vorsätze fürs neue Jahr? | |
| Viele. Ich will mein Leben wirklich grundsortieren. Ich wünsche mir nichts | |
| sehnlicher als ein Zimmer – und dass die Menschen endlich mal nachdenken. | |
| Worüber? | |
| Darüber, nicht ganz so egoistisch zu sein. Sie sollten lieber mal einem | |
| Obdachlosen einen Becher Kaffee kaufen, anstatt die Nase zu rümpfen. Oder | |
| ihn vielleicht mal fragen, ob er ein paar warme Socken braucht. Das ist | |
| doch nicht zu viel verlangt. | |
| Kannst du verstehen, dass manche Leute sagen, die Obdachlosen seien selbst | |
| Schuld an ihrer Lage – warum soll ich jetzt Mitleid haben? | |
| Wir sind nicht freiwillig in dieser Situation, auch wenn wir natürlich zum | |
| Teil selbst daran Schuld sind. Aber das heißt nicht, dass wir keine Hilfe | |
| brauchen – auch um da wieder rauszukommen. | |
| 27 Dec 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Andrea Scharpen | |
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