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# taz.de -- Elende Konkurrenz: „Wir lassen keinen Deutschen erfrieren“
> Bisher waren Obdachlose eine Opfergruppe rechter Gewalt. Jetzt entdecken
> rechte Asylgegner sie für ihre Propaganda.
Bild: Wird für Propagandazwecke plötzlich von Rechtsextremen umgarnt: Deutsch…
BREMEN taz | Rechtsextreme Hooligans haben in den vergangenen Wochen in
Hamburg, Bremen und anderen Städten Sachspenden an Obdachlose verteilt.
Dazu aufgerufen hat der Verein „Gemeinsam Stark“, der sich laut Satzung
eigentlich nicht als wohltätige Unternehmung begreift, sondern gegen die
vermeintliche Islamisierung Deutschlands und für eine stärkere Abschottung
Europas eintritt.
In dieses Bild fügt sich auch das neue Engagement für Obdachlose, denn
eigentlich wollen die Rechtsextremen Obdachlose und Flüchtlinge
gegeneinander ausspielen. Weil die Regierung ihr Geld für winterfeste
Flüchtlingsunterkünfte brauche, so heißt es im Aufruf, lasse man die
Obdachlosen im Stich. Im Internet präsentiert sich die Gruppe unter der
Zeichnung einer vermummten Gestalt mit Baseballcap. „100 Prozent Patriot“,
steht daneben.
Der Verein hat sich Anfang des Jahres als Spaltprodukt der „Hooligans gegen
Salafisten“ (HoGeSa) gegründet. Zum zweiten Vorsitzenden sollen sie die
Bremer Szenegröße Sven „Captain Flubber“ H. gewählt haben. Szenekundige
Beobachter haben ihn auch auf der Verteilaktion am Bremer Hauptbahnhof
gesehen. Man werde „keinen Deutschen erfrieren“ lassen, versprechen die
Hooligans. Und obgleich bereits diese Einschränkung Bände über das
Gedankengut der Hooligans spricht, ist es dennoch ungewöhnlich, dass die
rechte Szene Obdachlose als „die wahren Helden der modernen Zeit“ handelt.
Noch während der rechten Gewaltwelle der 1990er Jahre waren Obdachlose eine
zentrale Opfergruppe des faschistischen Terrors. Die Zeit und der Berliner
Tagesspiegel haben 2010 rund 30 von Neonazis ermordete Obdachlose ermittelt
– und das allein durch Auswertung der Lokalpresse. Die tatsächliche
Opferzahl dürfte erheblich größer sein.
Im Nationalsozialismus wurden Obdachlose im Sinne der sogenannten
„Sozialhygiene“ als „Asoziale“ zwangssterilisiert oder ermordet. Aber a…
damals betonte Reichspropagandaminister Joseph Goebbels im Zusammenhang mit
dem NS-Winterhilfswerk eine „lebendige nationale Solidarität des deutschen
Volkes“: Deutsche helfen Deutschen.
Dass jetzt Rechtsextreme mit ein paar Äpfeln und Kleidungsstücken in
Einkaufswagen an Bahnhöfen herumstehen, mag leicht als Propaganda zu
durchschauen sein. Doch wie beängstigend anschlussfähig dies an die
gesellschaftliche Stimmungslage ist, zeigt ein Blick auf die virtuellen
Stammtische.
Als kürzlich an zwei Bremer Schulen der Unterricht ausfiel, weil
Flüchtlingszelte wegen eines heraufziehenden Sturms vorübergehend evakuiert
wurden, waren die Kommentarspalten der lokalen Medien voll: „Kümmert euch
lieber mal mehr um Obdachlose ihr Gutmenschen!!!“, schrieb einer der vielen
Empörten auf dem Facebook-Auftritt von Radio Bremen. Dort gibt es derzeit
kaum ein Flüchtlingsthema, bei dem nicht postwendend Obdachlose ins
Gespräch gebracht werden.
Und wäre nun wahr, was „das Volk“ so spricht, dann könnten Obdachlose sich
mittlerweile kaum retten vor tatkräftigen UnterstützerInnen und
Anteilnahme. Doch als am Totensonntag die jährliche Gedenkfeier für die im
laufenden Jahr verstorbenen Wohnungslosen auf dem Waller Friedhof
stattfand, wären durchaus noch Plätze frei gewesen für diese Mitfühlenden.
Nur rund 50 BesucherInnen kamen in die Friedhofskapelle, um der
Verstorbenen zu gedenken – viele darunter selbst obdachlos oder
MitarbeiterInnen der Kirchengemeinde.
Der Verein „Innere Mission“ hat hier vor drei Jahren eine gemeinsame
Grabstätte eingerichtet, damit Obdachlose nicht länger anonym unter die
Erde gebracht werden müssen. Auf einer Videoleinwand wurden Portraits,
Namen und Lebensdaten der Verstorbenen eingeblendet. Die meisten sind in
ihren 60ern gestorben, doch auch Dreißigjährige sind darunter.
Auf dem Friedhof blieben die Trauernden dann unter sich – die am
Totensonntag zahlreichen anderen FriedhofsbesucherInnen sahen lieber
heimlich aus der Ferne zu. Wer auf der Straße lebt, sei gesellschaftlich
isoliert und habe meist keinen Kontakt mehr zu Freunden und Familie, sagte
Pastor Jürgen Mann in der Predigt. Und wo er von Obdachlosigkeit sprach,
meinte er ausdrücklich auch die Geflüchteten unter ihnen.
Bei der Inneren Mission gehen zeitweise bis zu 2.000 Säcke Kleiderspenden
pro Woche ein, um die deutsche Obdachlose und Flüchtlinge an den
Ausgabestellen tatsächlich konkurrieren. Die Verteilaktion der Hooligans
ist dagegen nicht nur belanglos, sondern entlarvt sich spätestens hier als
Propaganda. Denn während die Hooligans öffentlichkeitswirksam durch
Norddeutschland tingeln, hat die erheblich effektiver arbeitende kirchliche
Obdachlosenhilfe nicht einmal genug Freiwillige, um an allen Wochentagen
Spenden auch nur annehmen zu können.
2 Dec 2015
## AUTOREN
Jan-Paul Koopmann
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