# taz.de -- Gewalt gegen Obdachlose: Gewollte Unvollkommenheit | |
> In Niedersachsen sind die Gewalttaten gegen Obdachlose dramatisch | |
> gestiegen. Eine Strategie dagegen ist von Polizeiseite aber nicht in | |
> Sicht. | |
Bild: Von der Politik bestenfalls ignoriert: Obdachlose haben keine Lobby | |
BREMEN taz | Seit 2014 ist die Zahl der polizeilich erfassten Gewalttaten | |
gegen Obdachlose in Niedersachsen regelrecht explodiert: Die Zahlen sind | |
seither um 121 Prozent gestiegen. Das bestätigte der Sprecher des | |
Landeskriminalamts Hans Retter: „Aus den Zahlen der einzelnen | |
Deliktsbereiche wird deutlich, dass es sich insbesondere um einen Anstieg | |
der Körperverletzungsdelikte von 19 (2014) über 24 (2015) auf 66 Opfer | |
(2016) handelt.“ | |
Eine polizeiliche Strategie gegen die Übergriffe ist derzeit nicht in | |
Planung: „Aufgrund der Gesamtentwicklung werden derzeit neben den | |
allgemeinen Präventionsmaßnahmen keine besonderen polizeilichen Maßnahmen | |
für diese Zielgruppe für erforderlich gehalten“, räumt Retter ein. Ohnehin | |
sei „die Tendenz der Gewaltdelikte zum Nachteil von Obdachlosen wieder | |
rückläufig“. | |
Die Ermordung einer jungen Frau, die mutmaßlich durch die Räumung der | |
Wollepark-Hochhäuser in Delmenhorst in die Obdachlosigkeit geraten war, und | |
die Tötung eines polnischen Obdachlosen am Messe-Bahnhof Hannover Laatzen | |
hatten das Problem in den Blick gerückt: Während 2014 noch 38 Übergriffe | |
gegen Menschen auf Platte erfasst wurden, waren es 2015 bereits 45, also | |
ein Anstieg um 18,4 Prozent. Dabei muss man eine besonders hohe | |
Dunkelziffer annehmen, denn es ist davon auszugehen, dass Obdachlose selten | |
Strafanzeige erstatten. | |
Im Jahr 2016 schließlich waren in Niedersachsen 84 Gewalttaten gegen | |
Obdachlose aktenkundig geworden, mehr als doppelt so viel wie im Jahr der | |
Aufnahme dieses Sozialstatus-Markers in die Polizeiliche Kriminalstatistik | |
(PKS). Die wird zwar bundeseinheitlich erhoben, jedoch kommen die | |
Länderpolizeien nicht gleichermaßen gut klar mit der Auswertung. | |
So gibt es aus Hamburg keine Daten: „Richtig ist“, so ein Sprecher der | |
Polizei dort auf Nachfrage der taz, „dass die Opferspezifik erhoben wird.“ | |
Es sei jedoch „nicht möglich, sie standardisiert auszuwerten“. Erstaunlich: | |
Immerhin ist es im Gegenzug schon seit Einführung der PKS im Jahre 1953 | |
niemandem schwer gefallen, das Tätermerkmal „ohne festen Wohnsitz“ | |
gesondert aufzuführen. Allerdings hatte der Senat bereits im Februar eine | |
ähnliche Anfrage der Linksfraktion als zu kompliziert zurückgewiesen. | |
Nordrhein-Westfalen, das einzige Bundesland, dem es gelingt, dieses | |
offenbar komplizierte Opfermerkmal auch unmittelbar im Jahresbericht über | |
die Kriminalitätsentwicklung abzubilden, verzeichnet einen starken Anstieg | |
der Opferzahlen. 245 Obdachlose waren dort 2015 Opfer von Gewalt geworden, | |
einer starb. Im Jahr 2016 kamen vier zu Tode, insgesamt wurden 305 Fälle | |
registriert, ein Plus von 24,5 Prozent. | |
## Die Zahlen sind ein Politikum | |
Diese Zahlen sind nicht angenehm zu lesen. Aber sie sind wichtig: Sie sind | |
selbst bereits ein Politikum, und ihre Unvollkommenheit ist nachweislich | |
gewollt. So haben SPD und CDU gemeinsam im Januar im Bundestag verhindert, | |
dass eine von Grünen und Linke geforderte offizielle Statistik über | |
Obdachlosigkeit in Deutschland begonnen wird. | |
Über deren Anstieg informieren nur Schätzungen der | |
Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe: Fürs aktuelle Jahr geht sie | |
von 466.000 Betroffenen aus, gut zehn Prozent mehr als im Vorjahr. Aber wie | |
die sich auf die einzelnen Bundesländer verteilen, das lässt sich nicht gut | |
in einer Prognose fassen. Folge: Es kann „nicht gesagt werden, ob sich die | |
Gefährdung tatsächlich erhöht hat“, so Retter zur taz. | |
Geschweige denn wodurch: Oft wird der Blick bei der Ursachenforschung auf | |
die von Obdachlosigkeit Betroffenen selbst gelenkt. „Es erscheint logisch, | |
dass die Zahl der Straftaten steigt“, hatte Chefredakteurin Birgit Müller | |
in der jüngsten Ausgabe des Obdachlosenmagazins Hinz & Kunzt angesichts | |
steigender Betroffenen-Zahlen einen Hamburger Prozess kommentiert. Dort war | |
in der vergangenen Woche ein Mann zu sechs Jahren verurteilt worden. Grund: | |
Er hatte den Schlafsack eines anderen angezündet hatte – vermutlich aus | |
Schlafplatz-Neid. | |
Konkurrenzdruck gibt’s, bestätigt auch Volker Macke, Chefredakteur der | |
hannoverschen Straßenzeitung Asphalt. Dennoch: Er erfahre die Szene als | |
„zutiefst solidarisch“. Als Quelle der Gewalt sieht er eher | |
mehrheitsgesellschaftliche Verrohungstendenzen. „In Hannover wird | |
politisch regelrecht Kampagne gemacht“, sagt er. Ständig werde darüber | |
nachgedacht, wie Obdachlose vom Raschplatz, dem Treffpunkt der Szene, | |
vertrieben werden könnten. | |
Und in Leserbriefen und Online-Kommentaren wimmele es von „Ideen, welche | |
Durchgriffsmöglichkeiten man noch nutzen könnte“. Lebensbedrohliche | |
Attacken mit Pflastersteinen wie im Frühjahr und der Tod in Laatzen „gehen | |
definitiv nicht aufs Konto der Szene“. | |
14 Nov 2017 | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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