# taz.de -- Unterkunft: Obdachlose zweiter Klasse | |
> Beim Winternotprogramm werden nur „unfreiwillige“ Obdachlose eingelassen. | |
> Wer in Rumänien eine Wohnung hat, muss auf einem Stuhl übernachten | |
Bild: Ein Lager von Wohnungslosen unter einer Brücke an der Helgoländer Allee… | |
Werden Menschen aus Rumänien oder Bulgarien, die in Hamburg obdachlos sind, | |
beim Winternotprogramm ausgeschlossen? Diese Frage sorgte zuletzt für | |
Aufregung. Unter anderen hatte der Chef der Hamburger Diakonie davor | |
gewarnt, für bestimmte Menschen den Kältetod zu riskieren. | |
Sozialbehörden-Sprecher Marcel Schweitzer hatte daraufhin der taz erklärt: | |
„Das Winternotprogramm kann anonym in Anspruch genommen werden, alle | |
Menschen werden aufgenommen, niemand abgewiesen.“ | |
Nun ist klar: Es findet durchaus eine Unterscheidung der hilfesuchenden | |
Menschen statt. Und zwar in solche, die „unfreiwillig“ obdachlos sind, und | |
solche, die dies angeblich „freiwillig“ seien. Die offizielle Version: „D… | |
Winternotprogramm dient der Unterbringung von obdachlosen Menschen ohne | |
Selbsthilfemöglichkeit im Rahmen der Gefahrenabwehr für Leib und Leben im | |
Winter – bei frostigen Temperaturen.“ Laut Schweitzer sind | |
Selbsthilfemöglichkeiten bei Menschen vorhanden, die Geld für ein Hostel | |
oder eben eine eigene Wohnung hätten. „Wenn jemand in Rumänien eine Wohnung | |
hat, kann er nach erfolgter Perspektivberatung im Winternotprogramm | |
finanzielle Hilfen für die Rückreise beantragen“, erklärt Schweitzer. | |
Diese Sozialberatungen im Winternotprogramm seien freiwillig. | |
SozialarbeiterInnen gingen dabei „auch gezielt auf Personen zu“, wenn sie | |
offensichtlich Hilfe brauchten, oder eben, „wenn es Anhaltspunkte dafür | |
gibt, dass Personen nicht zur Zielgruppe des Winternotprogramms gehören“. | |
Und wer dann nicht zurückreist? Alle, die „nicht zur Zielgruppe“ des | |
Winternotprogramms gehören, dürfen über Nacht in der Aufenthaltsstätte | |
Hinrichsenstraße bleiben – allerdings auf Stühlen, nicht in Betten. „Dies | |
ist keine Übernachtungsstätte“, erklärt Schweitzer. „In vielen deutschen | |
Städten stellen solche Wärmestuben übrigens den einzigen Erfrierungsschutz | |
dar.“ | |
Johann Graßhoff, Sozialarbeiter bei der Diakonie in Hamburg, zweifelt an | |
der Freiwilligkeit des klärenden Gespräches beim Winternotprogramm: „Das | |
Perspektivgespräch ist eher eine Befragung – und zwar unter großem Druck.“ | |
Dies treffe vor allem die Gruppe der Rumänen und Bulgaren. | |
Viele der Betroffenen haben im Heimatland keine Perspektive – sie bleiben | |
hier oder kommen wieder. Dass die Leute nun auf dem Stuhl übernachten | |
müssen, entspreche nicht den Mindestanforderungen für eine menschenwürdige | |
Unterbringung, sagt Sozialarbeiter Graßhoff. Zudem wisse er von einer | |
zweistelligen Zahl an Leuten, die nicht in der Hinrichsenstraße angekommen | |
sind. „Im schlimmsten Fall befürchte ich, dass irgendwann jemand erfriert, | |
der vorher beim Winternotprogramm abgewiesen wurde.“ | |
## Es geht um Vergrämung | |
Für den Rechtsanwalt und Polizeirechts-Experten Karl-Heinz Ruder ist klar: | |
„Es geht um Vergrämung.“ Mann wolle Rumänen und Bulgaren davor abschrecke… | |
nach Hamburg zu kommen. | |
Dabei habe die Einteilung in „freiwillige“ und „unfreiwillige“ Obdachlo… | |
im Polizeirecht eigentlich einen anderen Ursprung: „Früher war | |
Obdachlosigkeit strafbar“, sagt Anwalt Ruder. Mit der Einführung der | |
„freiwilligen“ Obdachlosigkeit sollte sichergestellt werden, dass Menschen, | |
denen diese Lebensform Spaß mache, sich auf das Grundrecht auf freie | |
Entfaltung der Persönlichkeit berufen konnten. | |
Allerdings gebe es ein Urteil des Oberverwaltungsgerichts | |
Berlin-Brandenburg vom April 2016, dass es für EU-Ausländer zumutbar sei, | |
freiwillig in ihre Heimat zurückzukehren, erklärt Ruder. Das Gericht hatte | |
entschieden, dass „keine behördliche Verpflichtung mehr zur Beseitigung der | |
Obdachlosigkeit bestehe“, sofern die Rückkehroption ungenutzt bleibe. Ein | |
Urteil, auf das auch die Sozialbehörde in Hamburg verweist. | |
Dem steht eine Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Bremen vom Februar | |
2013 entgegen. Darin heißt es: „Es spricht einiges dafür, dass es nicht | |
zulässig ist, etwaige obdachlosenpolizeiliche Maßnahmen auf die Übernahme | |
der Rückführungskosten in das Herkunftsland zu beschränken.“ | |
Das „Herausgreifen“ von EU-Bürgern beim Winternotprogramm verstoße gegen | |
das Diskriminierungsverbot, kritisiert Ruder. Bei einer Temperatur von | |
minus zehn Grad sei eine Unterscheidung der Hilfesuchenden ohnehin | |
hinfällig: „Wenn ein Erfrierungskältetod droht, dann muss die Behörde zum | |
Schutz der Menschenrechte einschreiten – egal ob Bulgare, Deutscher oder | |
Kanadier.“ | |
23 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Jean-Philipp Baeck | |
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