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# taz.de -- Obdachlose über ihr Leben auf der Straße: „Ich werde nie übers…
> Muttchen war Putzfrau und LKW-Fahrerin, bevor sie auf der Straße landete.
> Wie sie es dort aushält und warum Neue erstmal zu ihr kommen, erzählt
> sie.
Bild: Über und über mit Taschen beladen: Muttchens Rad.
taz: Muttchen, wann hast du das letzte Mal eine ganze Nacht
durchgeschlafen?
Muttchen: Das war vor drei Tagen.
Hast du da auf der Straße geschlafen?
Ja, aber ich kann da ruhig schlafen.
Hast du keine Angst, dass dich jemand überfällt oder deinen Schlafsack
anzündet?
Doch, aber das hindert mich nicht am Schlafen. Wenn wirklich etwas
passiert, wird man von den Geräuschen wach. Auch dann, wenn man fest
schläft.
Schläfst du allein?
Nein. Ich habe jemanden, der bei mir schläft und da schlafe ich besser,
weil er mit aufpasst. Wir übernachten ein bisschen außerhalb des Zentrums
unter einem Dach von einem Geschäft. Ich stelle dort mein Fahrrad vor den
Eingang und schlafe davor. Die Mitarbeiter freuen sich, dass es da steht,
weil dann keiner einbrechen kann.
Es sind gerade Minusgrade. Wie hältst du dich warm?
Ich habe viele Schlafsäcke und stecke je nach Temperatur zwei oder drei
ineinander. Dann habe ich noch SOS-Handwärmer, die ich mit reinschmeiße.
Die halten zehn Stunden warm. Nur die gibt es gerade nicht mehr, weil für
die Geschäfte der Winter vorbei ist.
Wurdest du nachts schon mal überfallen?
Das erste Mal bin ich ausgeraubt worden, da haben sie mir die Gürteltasche
geklaut. Da waren meine Münzen drin, Medikamente und Papiere. Ich habe auch
viele Visitenkarten von Menschen, die mir helfen. Das war alles weg.
Was war passiert?
Ich bin der Meinung, ich bin betäubt worden. Zwischendurch bin ich kurz
wach geworden und da war ich aus dem Schlafsack raus, saß auf einer Bank
und hab nur noch gemerkt, wie mir die Gürteltasche weggerissen wurde und
dann bin ich Stunden später wach geworden. Die Täter konnte ich nicht
sehen.
Und das zweite Mal?
Das war im gleichen Jahr im Dezember. Wenn man morgens wach wird, muss man
ja mal. Ich komme wieder, da zieht mir einer die Beine weg und ich knalle
mit dem Rücken auf Steine.
Musstest du ins Krankenhaus?
Ja, aber ich konnte mein Fahrrad mit meinen Sachen nirgendwo lassen.
Deshalb bin ich schnell wieder aus dem Krankenhaus raus. Ich hätte
eigentlich noch da bleiben müssen, weil das Genick angebrochen und mein
Zwerchfell gerissen war, aber das konnte ich nicht.
Was ist in den Tüten an deinem Fahrrad?
Wichtig sind meine Medikamente. Ich hatte einen Herzinfarkt. Und sonst habe
ich da noch etwas zum Anziehen, Schlafsäcke, Decken, Essen, Hundefutter
drauf. Viele Leute geben mir extra Sachen zum Verteilen, weil sie wissen,
dass ich das mache.
Und an wen verteilst du das?
Viele, die neu auf der Straße landen, kommen zu mir. Die hören: „Geh zu
Muttchen.“
Wer landet da so bei dir?
Es sind Menschen, die sich gerade vom Partner getrennt haben und die nicht
wissen, wie es weitergehen soll. Ich rede mit den Leuten und versuche, sie
wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Also nicht Alkohol und Drogen. Das
hilft nicht.
Trinkst du?
Nein. Ich mag das nicht. Man bekommt nichts mehr auf die Reihe. Die
Gedanken drehen sich nur darum. Das finde ich schlimm.
Wie viele Winter hast du schon auf der Straße verbracht?
Der vierte. Diesen Winter wäre ich lieber in einer Wohnung gewesen. Nachts
habe ich es immer warm, aber ich bin ja auch den ganzen Tag draußen.
Warum gehst du nicht in einen Treffpunkt?
Ich habe da schlechte Erfahrungen gemacht. Da wird sich immer geprügelt.
Wie bist du auf der Straße gelandet?
Ich habe zu der Zeit auf einem Campingplatz gewohnt. Ich hatte einen
Wohnwagen mit Vorzelt. Es hat mir gefallen, dass ich die Tür aufmachen und
draußen sein konnte. Aber die alteingesessenen Menschen waren gemein. Ich
würde sagen, das war Mobbing. Ich habe den Platz gekündigt, war aber noch
dort. Eines Tages habe ich einen großen, braunen Brief bekommen. Die
Rentenstelle wollte um die 20.000 Euro von mir haben.
Warum das?
Das wusste ich auch nicht. Ich musste nachforschen, worum es überhaupt ging
und bin deshalb mit meinem letzten Geld nach Hannover gefahren. Zu dem
Zeitpunkt habe ich schon keinen Cent Rente mehr bekommen. Dann stand ich
hier, ohne alles. Ich hatte nicht einmal Winterklamotten an, nur eine dünne
Jacke. Und es war schon Oktober.
Wo waren deine Sachen?
Auf dem Campingplatz. Die haben sich die Leute rausgeholt und alles wurde
abgerissen. Nach ungefähr sechs Monaten in Hannover habe ich rausbekommen,
dass mein geschiedener Mann 2014 Rente eingereicht hat. Der hat die
Kindererziehungszeiten auf sich eingetragen, die ich bei mir verbucht
hatte. Ich habe die Kinder ja auch erzogen.
Wie viele Kinder hast du?
Mit ihm zwei und insgesamt sind es drei. Die Rentenstelle hat ihm geglaubt.
Deshalb wollten sie die 20.000 Euro zurück haben und haben die ganze Rente
einbehalten. Dann stand ich da, ohne Geld, Hunger ohne Ende. Es hat ein
paar Tage gedauert. Ich habe mich geschämt, auch Wochen hinterher noch,
aber ich habe mich irgendwann mit einem Körbchen hingesetzt. Und dann hatte
ich etwas zu essen. Das einzige, was ich hatte, war ein Sommerschlafsack,
keine Isomatte, nichts. So habe ich den ersten Winter verbracht.
Warum bist du nicht in eine Notunterkunft gegangen?
Ich kannte mich nicht aus und habe keine Information bekommen. Ich musste
mir alles, was ich heute weiß, selbst aneignen.
Warum lebst du immer noch auf der Straße?
Eine Wohnung zu bekommen, ist schwierig. Ich möchte auch in einer bisschen
besseren Gegend wohnen. Ich möchte nicht in eine Unterkunft, wo nur
Alkoholsüchtige und Drogenabhängige sind.
Warum sitzt du eigentlich auf dem zentralsten Platz in Hannover, dem
Kröpcke?
Da saß vorher ein Mann. „Heinz“ hieß der. Und gegenüber sitzt ja noch ein
Heinz und die beiden hießen immer „Heinz und Heinz“. Der eine hat zu mir
gesagt, wenn er nicht mehr da ist, soll ich mich da hinsetzen.
Ist er gestorben?
Ja. Das ist jetzt schon zwei Jahre her. Aber ich habe mich erst nach einem
Jahr hingesetzt. Ich glaube, die Seele verweilt noch ein Jahr an dem Ort.
Ich wollte ihn nicht stören. Ich kenne das aus meiner Kindheit. Früher
starb man ja im Haus und dann wurden die Spiegel und die Bilder zugehängt,
damit sich die Seele nicht verhängt.
Gab es für Heinz eine Beerdigung?
Ich habe leider nichts erfahren. Man kennt so viele Leute und weiß nichts
von denen. Dass Heinz gestorben ist, habe ich nur durch Zufall von den
Zeugen Jehovas erfahren.
Hat sonst niemand Anspruch auf Heinz’Platz erhoben?
Andere haben es versucht, aber es lief nichts. Die haben kein Geld
bekommen.
Wieso klappt es bei Dir?
Vielleicht weil man mich kennt. Ich hab zuerst an der Bahnhofsstraße vor
einer Mauer gesessen und dann kamen eines Tages die Rumänen und haben mich
umzingelt. Sie saßen rings um mich herum und ich habe nichts mehr bekommen.
Dann bin ich in die Packhofstraße gegangen. Aber da ging das wieder los mit
den Rumänen. Und dann bin ich zu meinem jetzigen Platz gezogen.
Was geben dir die Leute?
Wenn ich erkältet bin, Hustenbonbons und oft Essen. Manchmal Warmes, öfter
Brötchen, Brote und heute sogar eine Kugel Eis. Schön wäre ab und an auch
etwas Geld, damit man sich selbst etwas kaufen kann.
Hast du das Gefühl, dass du manchmal übersehen wirst?
Ich werde nie übersehen. Der überwiegende Teil der Menschen ist sehr nett
zu mir. Wir lachen zusammen und reden über alles Mögliche: Krankheiten,
Familie, auch über ihre Seele. Über viele weiß ich alles. Aber es gibt auch
immer welche, die müssen einem einen mitgeben.
Verletzt dich das?
Manche Sprüche sind ganz schön derbe. Aber ich lasse es mir nicht anmerken.
Das sind meistens Menschen, die selber nicht so viel haben – ob Hab und Gut
oder im Gehirn.
Kennst du andere Frauen, die auf der Straße leben?
Nein.
Ist es für Frauen schwieriger auf der Straße?
Ja. Viele suchen Schutz bei Männern und müssen dafür herhalten. Es gibt
Menschen, ob Mann oder Frau, die suchen sich extra Obdachlose für eine
Nacht.
Ist schon mal jemand so an dich herangetreten?
Oft. Aber ich sag den Männern dann, dass ich kein Interesse habe.
Wo gehst du eigentlich duschen?
Ich reinige mich draußen. In diesem Tagescafé kam ich beim Duschen nie an
die Reihe. Jetzt suche ich mir irgendwo ein Versteck, meistens nachts, und
reinige mich.
Fühlst du dich manchmal eklig?
Ja, oft. Wäsche waschen kann ich nicht. Ich muss sie ausziehen und wegtun.
Das ist teuer. Unterwäsche muss ich kaufen, die bekommt man ja nicht so.
Strümpfe habe ich zu Weihnachten aber genug bekommen.
Hast du einen Plan für dieses Jahr?
Ich kämpfe dafür, dass ich meine Rente wieder bekomme. Und dann will ich
einfach nur eine Wohnung. Wenn ich drin bin, werde ich erst einmal drei
Stunden heiß duschen.
6 Mar 2018
## AUTOREN
Andrea Scharpen
## TAGS
Obdachlosigkeit
Hannover
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Sozialsystem
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