# taz.de -- Heinz Strunk im Schauspielhaus Hamburg: Heimatabend der Lokalmatado… | |
> Strunk bringt in Hamburg seinen Roman „Der Goldene Handschuh“ auf die | |
> Bühne. Der Inszenierung fehlt es aber an der traurigen Präzision der | |
> Vorlage. | |
Bild: Unterschicht, Kleinkriminalität und Bohème: das Ensemble des „Goldene… | |
Bei Fritz „Fiete“ Honka zu Hause stinkt es. Das bemerkt sofort jeder | |
seltene Gast, der sich in die mit Pin-up-Postern tapezierte Hölle in der | |
Altonaer Zeißstraße traut. Auf der Bühne des Hamburger Schauspielhauses | |
greift sich Charly Hübners Honka deshalb auch als Erstes eine von drei | |
Raumpflegespraydosen, die in einem Körbchen gleich neben dem Eingang | |
stehen. Auf dem Tisch: ein Dutzend Flaschen Korn, auf dem Bett: eine | |
versiffte Decke, unter der Spüle: ein Bein in einer Mülltüte, so viel | |
Theaterspaß muss sein. | |
Bettina Stuckys Gerda, eine verwahrloste Trinkerin, die Honka am Tresen des | |
„Goldenen Handschuhs“ aufgelesen hat, stellt sich wie ein weiteres | |
Möbelstück dazu, während Fiete ihr seine Lieblingsplatte „Es geht eine | |
Träne auf Reisen“ vorspielt: „Die Menschen enttäuschen dich immer, aber | |
dieses Lied – nie!“ | |
Der Gestank in Fietes Wohnung stammt von zerstückelten Frauenleichen, die | |
der vierfache Mörder Anfang der 1970er Jahre hinter einer zweiten, | |
eingezogenen Wand versteckte, wie Leser*innen von [1][Heinz Strunks 2015 | |
erschienenem Roman „Der Goldene Handschuh“] wissen. Bis zu dessen | |
Erscheinen hatte der arbeitswütige Autor, Musiker und Entertainer, geboren | |
1962 in Hamburg-Harburg unter dem bürgerlichen Namen Mathias Halfpape, vor | |
allem autobiografisch grundierte Bücher wie den Bestseller „Fleisch ist | |
mein Gemüse“ (2004) verfasst. | |
Auch das triste Milieu rund um den Hamburger Berg auf St. Pauli mit seiner | |
spezifischen Durchlässigkeit zwischen Unterschicht, Kleinkriminalität und | |
Bohème ist Strunk bestens vertraut. Doch mit der sorgfältig recherchierten | |
Honka-Geschichte schrieb er sich noch einmal auf eine andere literarische | |
Umlaufbahn: So einfühlsam und genau, ja geradezu zärtlich hat wohl selten | |
jemand die verlorenen Gestalten geschildert, die sich in den Stehkneipen | |
und Spelunken an der Reeperbahn mit Fako (Fanta-Korn) narkotisieren. Und | |
auch Fritz Honkas Monstrosität schmälert Strunk nicht, macht sie aber doch | |
als logische Fortsetzung lebenslanger Demütigungen und Misshandlungen | |
plausibel. | |
Was aber geschieht, wenn Strunk nun mit seiner alten Jungskombo Studio | |
Braun (Rocko Schamoni, Jacques Palminger) und TV-Kumpel Charly Hübner, mit | |
dem er unlängst für die Verfilmung von „Jürgen“ selbst vor der Kamera | |
stand, das gute Buch auf die Bühne des Hamburger Schauspielhauses bringt? | |
Zunächst einmal knallt es. Noch bevor der aus halbtransparenten | |
Plastikplanen zusammengeklebte Vorhang sich hebt, detonieren dahinter drei | |
mittelschwere Granaten. | |
Der Zweite Weltkrieg ist Verheerungsfolie und Gründungsmythos des | |
„Goldenen Handschuhs“, den Exboxer Herbert mit der blonden Föhnwelle (Heinz | |
Strunk) gewissermaßen auf dessen Trümmern eröffnet: „Prost Männer! Uns ist | |
das Glück im Arsch erfroren.“ Seine Gäste sind Traumatisierte und | |
Überlebende wie Soldaten-Norbert (Rocko Schamoni), der seinen Abstieg vom | |
SS-Mann zur Müllabfuhr nie verkraftet hat. Oder eben wie Honka, geboren | |
1935 in Leipzig, Kommunistensohn mit elf Geschwistern, zwei Jahre als Kind | |
im KZ überlebt, dann Heim, später Knecht bei Bauern, darunter Sadisten wie | |
der Bauer Frerk, der ihn auch sexuell missbraucht. | |
## Revue der Elendsstationen | |
Bevor Fiete seine Geschichte der überforderten Putzfrau Helga (Lina | |
Beckmann) beichtet, nimmt der „Goldene Handschuh“ seinen erstaunlich gut | |
geölten Betrieb auf der vollgerümpelten Drehbühne (Stéphane Laimé) auf. Den | |
mit Bierkästen improvisierten Tresen ersetzt bald ein prachtvoller | |
Riesenaschenbecher mit eingelassenen Pissoirs samt Duftsteinen, die | |
Heilsarmeekapelle gibt auf einer Minibühne die Jukebox, dahinter haust | |
Honka in seiner Bude. | |
Vom Bühnenhimmel blinken Rotlicht-Neonschilder herab, eine Polestange wird | |
betanzt, und über zwei riesigen Leinwänden flackern historische | |
Filmaufnahmen von der Reeperbahn. Zweimal senkt sich ein Container der | |
Reederei Von Dohren herab: Wie im Roman spiegelt Strunk die Verkommenheit | |
der Stammgäste in jener der Hamburger Pfeffersäcke, deren innere Leere und | |
perverse Neigungen die – und hier ist Strunk eher platt als präzise – des | |
Reeperbahnabschaums locker übersteigen. | |
So wie sich auf der Bühne ein Schauplatz zum andern addiert, verfährt auch | |
die Dramaturgie des Abends: Psychologische Innenschau folgt auf | |
Milieustudie folgt auf Mentalitätsverortung. Fixstern in der Revue der | |
Elendsstationen ist Fiete. Charly Hübner spielt ihn stoisch sächselnd mit | |
schief geschminkter, bleicher Visage und nach vorn geschobener Hüfte, was | |
einen tastenden Gang zur Folge hat. | |
Doch die eigentümlich defensive Haltung täuscht, jedenfalls, sobald es ihm | |
gelingt, eine Frau in seine Gewalt zu bringen – dann hagelt es Kopfnüsse, | |
Bratwenderschläge und Versklavungsverträge. Doch als Fiete einen Job als | |
Nachtwächter bekommt, schwört er dem Alkohol ab und träumt von einem | |
„stinknormalen“ Leben, vielleicht mit der Putzfrau Helga. Bis ein | |
übergriffiges Saufgelage mit seinem Chef, der Fiete Helga als seine Frau | |
vorstellt, die besten Absichten ruiniert. | |
Furchtlos und handgreiflich stürzt sich das Ensemble in die Rollen der | |
Schmutzigen, Hässlichen und Beleidigten – mit der gleichnamigen | |
Filmadaption landete Intendantin Karin Beier vor rund zehn Jahren in Köln | |
einen Theatererfolg. Damals problematisierte ein verglaster Showcontainer | |
die voyeuristische Perspektive der Zuschauer*innen. Doch feinsinnige | |
Blickpolitiken sind Studio Brauns Sache nicht, zumal dem Goldknopfpublikum | |
seine vermeintliche Überlegenheit in den bitterbösen Von-Dohren-Szenen | |
heimgezahlt wird. | |
Genauso wenig Rücksicht nimmt das Trio auf all die | |
Diskriminierungsdebatten, die das Theater die letzten Jahre geführt hat: | |
Die geschmeidigen Tresensprüche und Herrenwitze, die rund um den | |
Handschuhtresen gekloppt werden, sind brachial authentisch in ihrem | |
Sexismus, Rassismus, im Schwulen- und Selbsthass. Geschenkt. | |
## Volle Agression | |
Schmerzlich jedoch fehlt der Inszenierung, die manches, was Strunk im Roman | |
erzählt, direkt zeigt, dessen traurige Präzision: „Wie dreckiger | |
Rasierschaum ergießt sich graues, dünnes Haar über die Rückseite ihres | |
eulenartigen Schädels.“ So etwas lässt sich, genau wie Strunks ständiger | |
Wechsel zwischen auktorialem Erzählen und Fietes Perspektive, nicht ohne | |
Weiteres auf die Bühne bringen. Dafür müsste man eine eigene Theatersprache | |
erfinden. | |
Doch warum stellt Heinz Strunk überhaupt seinen Roman durch die Übersetzung | |
aufs Theater noch einmal zur Disposition? Die Bühnenrechte hatte das | |
Schauspielhaus sich schnell gesichert, vielleicht wollte Strunk, der am | |
Haus schon früher mit Studio Braun inszeniert hat, die Sache, wenn schon, | |
dann doch lieber selbst in die Hand nehmen. Und passt nicht auch das | |
Revuehafte, Musicaleske und um keine Pointe Verlegene zum geschilderten | |
Milieu? | |
Nach Fietes Rückfall gibt es kein Halten mehr. Sogar im „Handschuh“ horcht | |
man auf, wenn er Gewaltfantasien vor sich hinmurmelt. Die nächste Frau, die | |
er abschleppt, sinnigerweise gleichfalls gespielt von Lina Beckmann, kriegt | |
die volle Aggression ab, die Helgas Abfuhr ausgelöst hat. Doch Annie wehrt | |
sich, sprüht Honka das Raumpflegespray in die Augen, kann aber nicht mehr | |
entkommen. | |
In den finalen zehn Minuten dreht sich die Bühne noch einmal als irre | |
delirierendes Höllenkarussell, in dem Fiete schon an der nächsten Frau | |
herumsägt, während Hände aus seinen Wänden winken, die Von Dohrens | |
gemeinsam an der Polestange gefesselt sind und von den „Handschuh“-Ladys | |
mit Mistforken verprügelt werden, die Heilsarmeeband aufjault und ganz | |
Hamburg Kopf steht. | |
Hier findet der „Goldene Handschuh“ als Heimatabend von Lokalmatadoren, die | |
ihren Kiez bis auf die letzte Lebensweisheit kennen, dann doch noch zu | |
sich: „Das Leben ist ein Kartenspiel, da musst du nehmen, was du ausgeteilt | |
krichst.“ | |
20 Nov 2017 | |
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## AUTOREN | |
Eva Behrendt | |
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