| # taz.de -- Neuer Roman von Heinz Strunk: Was wir gerade noch ertragen | |
| > „Der goldene Handschuh“ beschreibt das nötige Gegenprogramm zu allen | |
| > Identifikationsangeboten: Schnaps, Gestank, Dreck. | |
| Bild: Sturzsuff, Schmiersuff, Druckbetankung, Vernichtungstrinken, Verblendschn… | |
| Was ist eigentlich aus der großen deutschen Tradition der Literatur über | |
| diejenigen geworden, die außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft stehen? | |
| Döblin, der junge Brecht, Hubert Fichte, Jörg Fauser. Liegt man ganz | |
| falsch, wenn man dahingehend pauschalisiert, dass derzeit eher | |
| Selbstfindungskrisen und Lebensrückblicke als literaturfähig gelten? | |
| Ich hätte gleich noch eine These dazu: Korrumpierend wirkt möglicherweise | |
| der Wunsch des Lesepublikums nach Identifikation. Man spiegelt sich halt | |
| gern in mehr oder minder sympathischen Außenseiterfiguren, denen mehr oder | |
| minder übel mitgespielt wird. | |
| Nun, Heinz Strunks Roman „Der goldene Handschuh“, der kommende Woche | |
| erscheint, bietet zu allen literarischen Identifikationsangeboten ein | |
| ziemlich entschlossenes Gegenprogramm. Es gibt in diesem wilden, in manchem | |
| offenbar eher organisch gewachsenen als kühl konstruierten Roman keine | |
| einzige auch nur ansatzweise positive Figur – doch, vielleicht gibt es | |
| eine, eine Frau von der Heilsarmee, die aber niemandem vor der | |
| Selbstzerstörung durch den Suff bewahren kann. | |
| Held des Romans ist der Frauenmörder Fritz Honka, den es tatsächlich | |
| gegeben hat und der hier in all seiner Geilheit und seiner Brutalität | |
| geschildert wird. Zur Vorbereitung hat Heinz Strunk die lange unter | |
| Verschluss gehaltenen Gerichtsakten zu diesem Fall gelesen. | |
| ## Zerstörte Biografien | |
| Außerdem spielen mit: Chefs, die längst dem Alkohol verfallen sind; | |
| Matrosen auf Landgang, immer auf der Suche nach Nutten und einer | |
| Schlägerei; versehrte Menschen, zerstörte Biografien und die | |
| „Verschimmelten“ – Obdachlose, die in den Hinterzimmern vegetieren. | |
| Und den Hauptort des Romans, die Kneipe Zum goldenen Handschuh, die es in | |
| einer Seitenstraße der Reeperbahn in Hamburg tatsächlich gibt, schreibt | |
| Heinz Strunk keineswegs zu einem Ort des Widerstands hoch, gegen | |
| hanseatische Pfeffersackmentalität oder gegen was auch immer. | |
| Keine Rebellen, keine Nutten mit dem Herz auf dem rechten Fleck, keine | |
| düstere Außenseiterromantik. Solidarität der Ausgegrenzten untereinander | |
| existiert nicht (anders als vor zwei Jahren in der utopischen Gaststätte | |
| Zum Klausner in Lutz Seilers Roman „Kruso“). Der goldene Handschuh ist | |
| letzter Anlaufpunkt für die Haltlosen, Nachasyl für die Gestrandeten und | |
| eine Vorhölle aus billigem Schnaps, Gestank, Dreck und blöden Sprüchen. | |
| Eine Hölle, die mit blöden Sprüchen ausstaffiert ist: Dieser Roman ist | |
| richtig böse. Zugleich ist er aber auch erfindungsreich und genau. Für das | |
| Saufen haben die Stammgäste so viele Begriffe, wie die Inuit für Schnee | |
| haben mögen: Sturzsuff, Schmiersuff, Druckbetankung, Vernichtungstrinken, | |
| Verblendschnäpse. Dazwischen liegen jeweils feine Unterschiede. | |
| ## Eintritt in die Hochliteratur | |
| Es gehört viel erzählerisches Geschick dazu, aus diesem Material einen | |
| Roman zu bauen, den man nicht bloß höchstens pflichtschuldig oder aus | |
| ethnologischer Neugier liest, sondern der einen tatsächlich erschüttern und | |
| berühren kann. | |
| Heinz Strunk, bislang als sogenannter Kultautor geführt (“Fleisch ist mein | |
| Gemüse“) und mit diesem Roman nun in der Hochliteratur gelandet, hat dieses | |
| Geschick. Vor allem durch drei literarische Entscheidungen gelingt ihm das | |
| Kunststück, seinen Stoff erzählbar zu machen. | |
| Auf der Ebene der einzelnen Sätze rutscht er immer wieder hin und her | |
| zwischen auktorialer Perspektive und erlebter Rede. Das Verfahren hat einen | |
| interessanten Verwischungseffekt: Der Leser vermag den Frauenmörder Fritz | |
| Honka gleichzeitig aus der Distanz und von innen heraus zu sehen. | |
| Nur ein Beispiel. Nachdem Honka, genannt Fiete, eine Frau, Gerda, in seine | |
| Wohnung gelockt hat, heißt es: „Fiete, gnädig wie er ist, setzt sie aufs | |
| Sofa, er hilft ihr sogar, sich hinzusetzen. Und was macht Gerda? Schenkt | |
| sich ein, ohne zu fragen. Randvoll. Aha, schon wieder alles vergessen, nach | |
| fünf Sekunden alles weg. So haben wir nicht gewettet, kleiner Finger, ganze | |
| Hand, vom Stamme Nimm.“ | |
| ## Am Rande des Erträglichen | |
| Auf diese Weise kann die Erzählinstanz im Verlauf des Buchs genauso | |
| scheinbar ungerührt vom Abtrennen von Köpfen, Brüsten und Gliedmaßen der | |
| Opfer berichten wie den Kontakt zu Fritz Honkas Innenleben halten. Mehrmals | |
| bringt einen das Buch dabei an den Rand dessen, was man gerade noch | |
| erträgt. | |
| Auf der Handlungsebene gibt es einen klugen dramaturgischen Kniff. Ungefähr | |
| nach einem Drittel, nachdem er schon in all seinen schrecklichen Facetten | |
| geschildert worden ist, bekommt Honka einen neuen Job als Nachtwächter. Als | |
| Leser atmet man hier erst einmal auf, für einen Moment kann man sich | |
| sammeln. „Weg aus St. Pauli!“, „Schritt für Schritt normal werden“ –… | |
| möglich. | |
| Nur klappt das natürlich nicht. Der Suff. Das fehlgeleitete Begehren. Und | |
| überhaupt, das normale Leben wird nicht sonderlich attraktiv geschildert. | |
| Einer der Höhepunkte des Romans ist eine Hafenrundfahrt, die Honka | |
| unternimmt, eine in ihrer fiesen Exaktheit großartige Studie des | |
| entfremdeten Lebens. | |
| Durchsage des Kapitäns über Lautsprecher: „Ihr wisst ja: Auf jedem Schiff, | |
| das schwimmt und schwabbelt, ist einer drauf, der dämlich sabbelt!“ Das | |
| macht der Kapitän dann ununterbrochen. Und die im B-Strang geschilderte | |
| Reederfamilie, deren männliche Mitglieder inkognito zum Vollsaufen im | |
| Goldenen Handschuh landen, ist in all ihren Lebenslügen beschrieben. | |
| ## Kunstvolle Dialoge | |
| Auf der Figurenebene schließlich gibt Heinz Strunk seinem Personal aber | |
| auch Würde und Tragik. „Das, was in meinem Kopp rumgeht, issas Einzige, was | |
| mir nie einer nehm kann“, lässt er eine Frau denken, während sie schlimme | |
| Bauchschmerzen hat, wegen „nie was zu spachteln andauernd“; die Dialoge im | |
| Buch sind genauso kunstvoll gebaut wie dieser innere Monolog. | |
| Und dass Fritz Honka sich in seinen Tagträumen für etwas Besonderes hält, | |
| wird vom Erzähler keineswegs denunziert. Vielmehr wird an solchen Stellen | |
| auch deutlich, dass es möglich ist, selbst mit so einer fremden Figur wie | |
| Fritz Honka noch Empathie herzustellen. „Er ist gut darin, sich was Schönes | |
| vorzustellen. Mit schwacher Vorstellungsgabe hält man das alles nämlich | |
| nicht aus.“ | |
| Der Roman spielt in der ersten Hälfte der siebziger Jahre. Bei alledem sind | |
| die Figuren soziologisch genau verortet. Die Lebensgeschichte Honkas wird | |
| in Umrissen geschildert, ohne dass damit seine Handlungen entschuldigt oder | |
| auch nur erklärt würden. | |
| Waise, sadistischer Vormund, Fluchtversuche, Vergewaltigung. Ein anderer | |
| Stammgast im Goldenen Handschuh ist von der Waffen-SS direkt in die | |
| Fremdenlegion gewechselt. Ein weiblicher Gast war Zwangsprostituierte in | |
| einem KZ. Und was Gerda durchmachen musste, wird so beschrieben: | |
| „Armut-Hunger-Kälte, Hunger-Kälte-Armut, Kälte-Armut-Hunger, | |
| Krieg-Krieg-Krieg.“ | |
| ## Düsteres Gegenbild | |
| Es sind traumatisierte, kaputt gemachte Menschen, die sich hier gegenseitig | |
| das Leben zur Hölle machen, in einer Umgebung, die mit Gefühlen und | |
| seelischen Verletzungen überhaupt noch nicht umgehen konnte. | |
| In solchen Szenen zeichnet Heinz Strunk ein düsteres Gegenbild zu den | |
| hellen Selbstentwürfen der alten Bundesrepublik. Vielleicht liegt darin so | |
| etwas wie ein unterschwelliges Glimmen, das einen jenseits der | |
| Identifikation doch angeht. | |
| Einer klassischen These zufolge wird, was verdrängt wurde, einem | |
| unheimlich. In genau diesem Sinn ist „Der goldene Handschuh“ ein | |
| faszinierend unheimlicher Roman, der Facetten aufzeigt, die die Gegenwart | |
| hinter sich gelassen hat, die aber weiterhin in ihr gären. | |
| Die These, dass die Sprachlosigkeit und die gedrängte Wut, die der Roman | |
| schildert, sich heute in Hatemails und Fremdenhass äußern, wäre zu direkt. | |
| Aber, sagen wir so: Wer ihn gelesen hat, wundert sich nicht mehr so über | |
| den hilflosen Hass, der in den sozialen Medien an die Öffentlichkeit | |
| drängt. So fremd die Szenerie des Romans in der heutigen Therapie-, | |
| Pub-Crawl- und Beziehungswelt sein mag, so ist sie doch auch gerade einmal | |
| zwei Generationen her. | |
| 21 Feb 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Dirk Knipphals | |
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