# taz.de -- Neue Romane des Frühjahrs: Ungemütliche Selbstbeschreibungen | |
> „Nach Köln“ schaut man mit einem anderen Blick auf die Literatur – z. … | |
> auf Juli Zehs Figurenpanorama oder auf das neue Werk von Heinz Strunk. | |
Bild: Tierische Perspektive: In Roland Schimmelpfennigs Romandebüt folgt der L… | |
Ist dies, jetzt „nach Köln“, in einer gesamtgesellschaftlich deutlich | |
erhöhten Debattentemperatur, eigentlich ein besonderes Literaturfrühjahr? | |
Auf der einen Seite mag man sich noch so sehr klarmachen, dass politische | |
und ästhetische Dinge nicht zu eindeutig zusammengedacht werden dürfen. Und | |
man mag sich sagen, dass die Romane, die nun bis zur Leipziger Buchmesse | |
erscheinen werden, mit ihren Vorläufen von zwei, drei und noch mehr Jahren | |
selbstverständlich vor den aktuellen gesellschaftlichen | |
Selbstverständniskrisen rund um die Flüchtlinge auch geschützt werden | |
müssen. | |
Auf der anderen Seite lässt sich da aber auch gar nichts machen. Als | |
jemand, der in den ersten Wochen dieses Jahres zwei Lektüreprojekte zu | |
bewältigen hatte – erstens sich berufsbedingt durch möglichst viele Romane | |
dieses Frühjahrs lesen, zweitens zeitgenossenschaftsbedingt die durch die | |
Kölner Silvester-Ereignisse verschärften Debatten um Flüchtlinge, | |
politische Konsequenzen und Selbstverständnisirritationen begleiten | |
(übrigens eine erstaunlich differenzierte Debatte) –, habe ich die | |
Erfahrung gemacht: Man schaut, jetzt „nach Köln“, schon anders auf die | |
Bücher. | |
Zwar nicht auf alle. Ein durch die Jahrzehnte tragendes Lebensbuch wie das | |
tausendseitige „Frohburg“ von Guntram Vesper, das im März erscheinen wird, | |
würde – Abneigung gegen die AfD hin, Versuchung zum Linksmerkelianismus her | |
– unter allen Rahmenbedingungen wie ein Fels dastehen. | |
## Folgen der Selbstbeschreibung | |
Aber man schaut doch anders auf diejenigen Romane, die den Anspruch | |
erheben, deutsche Gegenwart zu beschreiben. Man schaut unduldsamer auf sie | |
und ist wohl auch noch allergischer als sonst gegen literarische Routinen. | |
Was beides etwas damit zu tun hat, dass, wenn etwas hierzulande zuletzt | |
deutlich geworden ist, dann doch dies: Die Art und Weise, wie unsere | |
Gesellschaft sich selbst beschreibt, hat direkte Auswirkungen auf das Leben | |
sehr vieler Menschen. | |
Je nachdem, ob man in der Gesellschaft gerade einen Ausnahmezustand ausruft | |
oder nicht, wird Geflüchteten geholfen oder nicht. Die abendländischen | |
Identitätsbeschreibungen konservativer Menschen führen ohne Umwege zu | |
harschen Verteidigungsgefechten imaginärer Heimatgefühle. | |
Aber auch die Gesellschaftsbeschreibungen linker Menschen haben Folgen. Wer | |
auf Ordnung setzt oder sich mit sich eigentlich im Reinen wähnt (wenn nur | |
die Probleme von außen nicht wären), kann sich durch die neuen Problemlagen | |
einer unübersichtlichen Welt schnell überfordert fühlen und von | |
Problemlösung auf Abgrenzung umschalten. | |
## Franzen in Brandenburg | |
Ein Roman mit Gesellschaftsbeschreibungsanspruch ist „Unterleuten“ von Juli | |
Zeh (er erscheint am 8. März). Anhand des Mikrokosmos eines Dorfes im | |
Brandenburgischen macht sie ein großes Figurenpanorama auf. | |
Es gibt den bemühten Bürgermeister und den Altkader, den Investor , den | |
Dorfautoschrauber, besorgte Übermütter und eine zugezogene | |
Pferdeliebhaberin, die keineswegs zufällig mit Nachnamen Franzen heißt. | |
Die Muster des großen amerikanischen Gesellschaftsromans à la Jonathan | |
Franzen hat Juli Zeh in die deutsche Provinz übertragen, eine seltene | |
Vogelart spielt als Wink mit dem Zaunpfahl auch eine Rolle. | |
Die Problemlagen sind durchaus interessant. Bei der Planung eines Windparks | |
prallen die Interessen von Umweltschützern (die des Tierschutzes wegen | |
dagegen sind), von Profiteuren und Leuten, die nur in Ruhe gelassen werden | |
wollen, aufeinander. | |
## Gesellschaft in den Griff kriegen | |
Aber nachdem zuletzt zu erfahren war, wie viel Hass, Wut und Unsicherheit | |
in den Köpfen realer Menschen unterwegs ist, schaut man eben doch sehr | |
fremd auf Juli Zehs Figuren, die immer schon wissen, was mit ihnen los ist. | |
„Unterleuten“ vermittelt etwas Gemütliches, als könne man mit den Mitteln | |
des realistischen Romans tatsächlich die Gesellschaft in den Griff kriegen. | |
Wie, auf andere Art, auch der dystopische Roman „Macht“ von Karen Duve | |
(erscheint am 18. Februar). Es ist von einer grandiosen hilflosen | |
Bösartigkeit, was Karen Duve hier in ihrer Zukunftsvision beschreibt. | |
Die Umweltkatastrophe ist geschehen, Fleischesser haben sich mit religiösen | |
Fundamentalisten verbündet, und die Frauenquote hat auch nicht geholfen, | |
die Weltprobleme zu lösen. Aber es raschelt auch nach Papier. | |
Nicht nur, dass die Autorin die aktuellen Probleme schlicht zwanzig Jahre | |
in die Zukunft verlängert, als ob zwischendurch nicht etwas ganz Neues sich | |
ereignen könnte. Vor allem vermittelt das Buch den Eindruck, dass da jemand | |
eine sedierte Gesellschaft mit den Mitteln der Literatur wachrütteln will, | |
und irgendwo dahinter steckt eine Autorin, die sich selbst schon sehr | |
sicher ist, im Recht zu sein. | |
## Strunk überrascht | |
So verschieden die beiden Romane sind, das ist vielleicht etwas, was Karen | |
Duve und Juli Zeh verbindet. Bei beiden Autorinnen scheint Literatur als | |
etwas zu funktionieren, mit dessen Hilfe man sich aus dem Gebrodel der | |
Meinungen und Identitätskämpfe herausdrücken kann. Aber wie sollte das | |
gehen? Interessanter, flirrender, auch wahrhaftiger sind, wie die Lage nun | |
einmal ist, die Romane, mit denen man sich mitten hinein in dieses Gebrodel | |
begeben kann. | |
Heinz Strunks Roman „Der goldene Handschuh“, eine der Überraschungen dieses | |
Frühjahrs, ist so ein Buch (es erscheint am 26. Februar). Es ist kein | |
aktueller Gesellschaftsroman, vielmehr erzählt Heinz Strunk die Geschichte | |
des Hamburger Frauenmörders Fritz Honka aus den siebziger Jahren und findet | |
dabei eine so einleuchtende Sprache für diesen nahe an der Sprachlosigkeit | |
hausenden Menschen. | |
Wie nebenbei zeichnet Heinz Strunk damit aber auch das Bild einer | |
Gesellschaft, die mit den hellen Selbstbeschreibungen der alten | |
Bundesrepublik wenig zu tun hat. Es hat etwas zutiefst Ungemütliches, aber | |
auch sehr Erhellendes, in diesem Roman nachzulesen, was alles zu den | |
Hinterlassenschaften dieser Zeit gehört. | |
Immer noch Traumatisierung durch Krieg und Nazizeit. Unfähigkeit, mit | |
Gefühlen umzugehen. Alkoholismus als letzter Ausweg. Eine | |
Alltagsbrutalisierung, die man sich heute gar nicht mehr vorstellen kann. | |
## Was ist die Mitte? | |
Das literarische Kunststück dieses Romans besteht nun darin, zum einen | |
anschaulich zu zeigen, dass man sich auch noch in so einen Menschen wie | |
Honka hineindenken kann – und zum anderen sozusagen robustere | |
Beschreibungen der Gesellschaft zu liefern. Wer glaubt, dass die deutsche | |
Gesellschaft derzeit ihre Mitte verliert, kann bei Strunk erfahren, dass | |
[1][die Rede von einer Mitte schon immer etwas Imaginäres hatte]. | |
Auch Nis-Momme Stockmanns Roman „Der Fuchs“ (erscheint am 16. Februar) | |
transportiert ein zutiefst ungemütliches Bild von der Gegenwart. Es ist ein | |
langes, vielschichtiges Buch darüber, wie fremd einem hierzulande das | |
Eigene – die Kindheit, die Familie, das Leben auf dem Land, die Fantasie – | |
sein kann. Bevor die große Flutwelle kommt, die alles hinwegspült, denkt | |
sich ein Heranwachsender hier eine Eigenwelt aus. | |
Und der Theaterautor Ronald Schimmelpfennig hat sich in seinem ersten Roman | |
auf die Suche nach einer Form für die in vielen Einzelgeschichten | |
zerstreute Gegenwart gemacht. Sein Buch „An einem klaren, eiskalten | |
Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts“ (erscheint am 25. Februar) ist | |
tatsächlich so kühl und präzise, wie der Titel suggeriert. | |
In kurzen, miteinander verknüpften Szenen erzählt Schimmelpfennig ein | |
Reigen aktueller Schicksale. Ein jobbendes polnisches Paar in Berlin. Zwei | |
Jugendliche, die weglaufen. Ein Alkoholiker, der sie sucht. Und eine | |
Erzählinstanz, die das alles genau zu fassen versucht. | |
## Ein Wolf auf Wanderung | |
Das sogenannte Buch der Stunde wird ja gern im Thema gesucht, aber | |
interessanter ist derzeit wohl eher die Erzählweise. Relevant sind die | |
Romane dieses Frühjahrs immer dann, wenn sie sich der Literatur nicht zu | |
sicher sind und die Beschreibungsmuster in ihnen in Bewegung geraten. | |
Wie bei Roland Schimmelpfennig. Ein Wolf wandert in seinem Roman durch das | |
winterstarre Brandenburg immer weiter in Richtung Berlin. Wie schrecklich | |
schief so ein literarisches Bild hätte werden können, eine simple | |
Illustration einer diffusen Bedrohung. Aber Schimmelpfennig hält es in der | |
Schwebe. Es ist vielleicht auch nur eine neue Situation, an die man sich | |
gewöhnen muss. | |
5 Feb 2016 | |
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## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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