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# taz.de -- Neuer Roman von Juli Zeh: Da stinkt doch was in Unterleuten
> In ihrem Roman „Unterleuten“ entwirft Juli Zeh eine dörfliche
> Gesellschaftsstruktur, die in Schieflage gerät, als ein Windpark gebaut
> werden soll.
Bild: In Zehs Dorf-Roman unterhält der Nachbar an seiner Grundstücksgrenze ei…
Schwer zu entscheiden, ob diese Art von Roman nun eigentlich
menschenfreundlich ist oder eher das Gegenteil davon. Sicher ist nur, dass
bei Juli Zehs bislang dickleibigstem Buch der Titel das Programm markiert.
Wenn die Autorin das brandenburgische Kaff, in dem die Handlung angesiedelt
ist, „Unterleuten“ genannt hat, so ist das ein Zaunpfahlhinweis auf das
komplexe soziale Geflecht, aus dem das Leben auf dem Dorfe besteht. Dieses
gründlich aufzudröseln ist auch das eigentliche Thema, angesichts dessen
die Intrige, um die herum die Romanhandlung angelegt ist, zu einer gewissen
Bedeutungslosigkeit verblasst.
Mit scharfem Blick fürs Wesentliche führt die Autorin nach und nach ein
soziales Panoptikum ein, das auf den ersten Blick schön bunt aussieht, doch
eine klare Ordnung aufweist. Ebenso klar ist von Anfang an, dass irgend
etwas nicht stimmt in Unterleuten.
Es stinkt. Und das auch wortwörtlich, nämlich auf dem Grundstück des
Ehepaars Jule und Gerhard Fließ, er ehemaliger Soziologiedozent, jetzt bei
der Vogelschutzwarte beschäftigt, sie seine ehemalige Studentin und 20
Jahre jüngere Gattin, der stets das gemeinsame Baby vor der Brust klebt.
Dass ihr Nachbar, ein grobschlächtiger Schrauber, an seiner
Grundstücksgrenze ein beständig glimmendes Feuer aus Autoreifen unterhält,
welches das Grundstück der Familie verpestet, ist ein Teil des
Unterleutener Machtgefüges – ein Umstand, den Jule und Gerhard nie wirklich
durchschauen werden; anders als eine andere Zugezogene, die junge Linda,
die als Pferdeflüsterin gutes Geld verdient, Rassepferde züchten will und
für den Bau eines Stalls mit Koppel sowohl eine Baugenehmigung als auch
eine Grundstückserweiterung braucht.
Während Gerhard, der Soziologe, der gesellschaftlichen Realität in keiner
Weise gewachsen ist, reißt Linda, die ein machiavellistisches
Managementhandbuch gelesen hat, umstandslos eine Hauptrolle in der
Dorfintrige an sich. Die kommt ins Rollen, als der Vertreter einer
Windkraftgesellschaft Pläne zur Errichtung eines Windparks auf
Unterleutener Boden vorstellt.
## Vielleicht geht‘s nicht immer klischeefrei
Der Hauptprofiteur dieser Pläne, das scheint den Dörflern klar, würde
Gombrowski sein, der örtliche Großgrundbesitzer, der die ehemalige LPG in
einen großen Bio-Betrieb umgewandelt hat. Er hat einen einflussreichen
Widersacher im Ort: den alten Kron, einen einst glühenden Kommunisten, der
schon in Vor-LPG-Zeiten gegen den Grundbesitz der Gombrowkis agitierte.
Andere wichtige Akteure sind Krons tüchtige Tochter Kathrin, der biedere
Bürgermeister Arne und natürlich der unvermeidliche aalglatte Investor aus
dem Westen.
Die Hauptsache ist Juli Zeh auf jeden Fall gelungen: Das Panoptikum lebt.
Ja, es sind charakteristische Typen, die sie für ihre Dorfgesellschaft
entwirft, und ja, vielleicht geht das nicht immer völlig klischeefrei ab.
Aber mitunter sind Klischees, klug eingesetzt, hilfreiche
Verallgemeinerungen typischer Eigenschaften. Ausschlaggebend ist, dass die
Unterleutener Typen ein glaubhaftes Eigenleben entwickeln.
Zeh wechselt für jedes Kapitel die Erzählperspektive, so dass alle
Hauptakteure mit ihrer Sicht auf das Geschehen zum Zuge kommen. So entsteht
eine abwechslungs- und beziehungsreiche Erzähllandschaft, die, je nachdem,
aus welchem Winkel sie betrachtet wird, immer wieder neue Gestalt annimmt.
Der chronologische Gang der Dinge tut das Seine, um dieser Landschaft eine
zunehmend dramatische Anmutung zu geben.
Die bloße Möglichkeit des zukünftigen Vorhandenseins von Windrädern löst im
Dorf eine Flut von Begehrlichkeiten und Widerständen aus. Das soziale
Gefüge gerät ins Wanken. Als auch noch ein Kind verschwindet, dramatisiert
sich die Lage bis an die Grenze zur Unbeherrschbarkeit. Dabei kommen
verborgene Schichten von Dorfgeschichte ans Licht, über die man
stillschweigend Gras hatte wachsen lassen.
## Als würde man eine komplizierte Gleichung lösen
Das alles ist fesselnd und gut erzählt. Es werden dabei gleichsam im
Vorbeigehen Fragen von Schuld und Sühne aufgeworfen und zur allgemeinen
Betrachtung liegen gelassen. Am Ende bleibt noch genug Unausgesprochenes
übrig, um dem Leser zu vermitteln, die einzige aller irgendwie beteiligten
Personen zu sein, die vielleicht in der Lage ist, zu durchschauen, was
wirklich passierte.
Und trotzdem bleibt man am Ende mit einem Gefühl sitzen, das, anders als
bei wirklich großen Romanen, nicht dem ähnelt, das man beispielsweise hat,
wenn man einen hohen Berg erwandert und vom Gipfel aus das ganze große
Landschaftspanorama weit ausgebreitet unter sich liegen sieht. Eher ist es
ein bisschen so, als hätte man unter Anleitung einer klugen Lehrerin eine
komplizierte Gleichung mit vielen Unbekannten richtig gelöst. Das kann zwar
auch schön sein. Aber die Welt sieht danach noch genauso aus wie vorher.
Und wozu ist es am Ende gut gewesen?
Windräder, Vogelschutz, Bio-Landwirtschaft – Juli Zeh nutzt diese
brandenburgischen Kernbegriffe, um ihren Roman mit einer real wirkenden
Kulisse zu versehen. Das macht sie sehr glaubhaft. Wir können uns das real
existierende Brandenburg so vorstellen, wie es hier entworfen wird. Aber
wir könnten uns ebenso gut denken, dass Unterleuten ganz woanders liegt.
Windkraft ja oder nein, Großflächenbewirtschaftung ja oder nein, Landleben
versus Stadtleben, oder auch: Sind Frauen die besseren Männer? – all diese
Reizthemen werden im Roman angerissen, aber nicht als echte Zeitfragen
behandelt, sondern lediglich benutzt, um die Handlung zu befeuern und zu
kolorieren.
Das ist schon ein wenig enttäuschend; jedenfalls dann, wenn man eine
Grunderwartung an die Literatur als großes Sinnstiftungs- oder zumindest
Problemumkreisungsmedium erlernt hat, die hier nur angefüttert wird, dann
aber ins Leere laufen muss. Wenn man allerdings von der Literatur nicht
mehr erwartet, als dass sie die Welt und ihre Menschen auf unterhaltsame
und intelligente Weise genau so darstelle, wie man selbst sie sich auch
schon immer vorgestellt hat, dann ist „Unterleuten“ auf jeden Fall ein sehr
gelungener Roman.
7 Mar 2016
## AUTOREN
Katharina Granzin
## TAGS
Juli Zeh
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Windkraft
ZDF
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Literarisches Quartett
Literatur
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