# taz.de -- Leipziger Buchpreis: Augur des Status quo | |
> Mit Heinrich August Winkler ehrt die Leipziger Buchmesse am Mittwoch | |
> einen Gegner von Angela Merkels Flüchtlingspolitik. | |
Bild: Winkler attestierte Merkel und den Hilfsbereiten unter den Deutschen eine… | |
Am Mittwoch wird Heinrich August Winkler in Leipzig geehrt. Der renommierte | |
Historiker erhält zum Auftakt der Buchmesse den Leipziger Buchpreis für | |
Europäische Verständigung 2016. Wenn Winkler, 1938 in Königsberg geboren, | |
der Preis am Mittwochabend im Gewandhaus überreicht wird, dürfte sich das | |
politische Tableau in Deutschland bereits dramatisch verändert haben. In | |
drei Bundesländern drängt die rechtspopulistische AfD nach den Abstimmungen | |
zum Wochenende in die Landtage. Kanzlerin Merkels CDU könnte von den | |
WählerInnen föderal abgestraft werden – für eine Politik, die auch der | |
große Historiker und Verteidiger westlich-europäischer Werte, Heinrich | |
August Winkler, stets kritisierte. | |
Man wird es dem Professor und Verfasser des vierbändigen Werkes der | |
„Geschichte des Westens“ (erschienen im C.H.Beck Verlag) nicht abstreiten | |
mögen, dass er seine „Interventionen“ stets staatsbürgerlich in redlichst… | |
Absicht vortrug. Doch öfter wunderte man sich in der Vergangenheit schon, | |
was er in seinen tagespolitischen Stellungnahmen so von sich gab. Äußert | |
sich da einer, der realpolitisch und humanistisch seiner Zeit vorausschaut, | |
oder einer, der doch nur den gebildeten Augur der Mitte gibt, einer | |
bürgerlichen Mitte, die bei größeren gesellschaftspolitischen Veränderungen | |
schnell verzagt, konservativ und skeptisch zur politischen Vollbremsung | |
neigt? | |
War es also vorausschauend – oder wie Winkler gerne formuliert: ein Gebot | |
der Ehrlichkeit – dass er bereits im September von der Politik forderte, | |
sie müsse Obergrenzen und Kontingente für die aufzunehmenden | |
Bürgerkriegsflüchtlinge in Deutschland und Europa benennen. Winkler betonte | |
dies auch vor großem Publikum in der Talkshow „Anne Will“: „Wir dürfen | |
nicht mehr versprechen als wir halten können.“ Er sprach dort im September | |
von „ungeheuren Herausforderungen“ und Grenzen, wenn es darum ginge, | |
muslimische Migranten in unsere westliche Kultur, „die Kultur des | |
Grundgesetzes“, der Meinungsfreiheit und des Menschenrechts zu integrieren. | |
Das war vor den heimtückischen Anschlägen von Paris und vor den | |
Ausschreitungen am Bahnhof in Köln, mit denen die Stimmung bei vielen in | |
Deutschland und Europa gegen die Flüchtlinge kippte. Aber schon während | |
bereits vielerorts Anschläge gegen Migranten und Flüchtlingsunterkünfte | |
stattfanden. | |
Natürlich soll hier nicht unterschlagen werden, dass sich Heinrich August | |
Winkler entschieden gegen rechte Populisten abgrenzt, gegen AfD oder | |
Pegida. Winkler ist dem (westlichen) Antifaschismus verpflichtet. Doch | |
haben seine mahnenden Wortmeldungen in den Medien, die er als | |
„Interventionen“ versteht, auch etwas von den sich selbst erfüllenden | |
Prophezeiungen eines Verteidigers des Status quo. | |
## „Weltmeister der Selbstgerechtigkeit“ | |
So negierte er von Anfang an Merkels „Wir schaffen das“ und konterkarierte | |
die – aus humanistischer Perspektive – alternativlose Grenzöffnung des | |
Spätsommers 2015. Sie stelle einen illegitimen deutschen Alleingang in | |
Europa dar, so Winkler. Als er dies behauptete, war Merkels Ansinnen, die | |
Bürgerkriegsflüchtlinge nicht sich selbst zu überlassen und die Europäische | |
Union für eine gemeinsame solidarische Hilfe zu gewinnen, in Deutschland | |
noch mehrheitsfähig. Und Winkler? Er attestierte Merkel und den | |
Hilfsbereiten unter den Deutschen eine nationale Überheblichkeit gegenüber | |
den flüchtlingsfeindlichen unter den EU-Mitgliedsstaaten. Man sei | |
„Weltmeister der Selbstgerechtigkeit“. | |
Dabei würden weder Pro Asyl, noch die Grünen oder die Kanzlerin | |
widersprechen, dass es Regeln für Aufnahme, Kontrolle und Verteilung von | |
Asylbewerbern und Bürgerkriegsflüchtlingen geben müsse. Aber um eine | |
produktive Gestaltung der globalen Flüchtlingskrise ging es Winkler eher | |
nicht. In seinen Beiträgen wird das Scheitern immer schon vorweggenommen. | |
Der Historiker erscheint mitunter selber wie das bildungsbürgerliche | |
Sprachrohr jener AngstbürgerInnen, die sich ideell überfordert fühlen, wo | |
sie es materiell überhaupt noch nicht sind. | |
## Merkels Versäumnis | |
In der SZ erneuerte Winkler zum Weihnachtfest 2015 seine Kritik an Merkel, | |
an der „deutschen Neigung, in Europa etwas hineinzuprojizieren, was das | |
real existierende Europa nicht hergibt“. Er positionierte sich damit | |
offensiv gegen die Versuche der Kanzlerin, die Mitgliedsstaaten der | |
Europäischen Union in der Flüchtlingsfrage auf eine gemeinsame Linie zu | |
bringen. Merkels und der EU Versäumnis ist, ein entsprechendes Procedere | |
nicht längst vor der aktuellen Krise entwickelt zu haben. Leute wie Winkler | |
verschlimmern die Lage aber im akuten Fall durch ihre Rhetorik. | |
Schon früher, als es darauf angekommen wäre, der voranschreitenden | |
Globalisierung staatspolitisch gerecht zu werden, hat Historiker Winkler | |
eher Kulturkampfparolen von sich gegeben. Als die Regierung | |
Schröder/Fischer – vorausschauend! – versuchte, die Türkei in die EU zu | |
holen, warnte er in einem Essay 2002 vor einer „Überdehnung“ (“imperial | |
overstretch“). Die Türkei gehöre zu Asien, nicht zu Europa. Auch damals sah | |
er die Chancen der Öffnung nicht, als die Türkei noch auf einem guten Wege | |
war. Und heute? Sage niemand, Geschichte sei nicht von uns allen gemacht | |
und beeinflussbar. | |
13 Mar 2016 | |
## AUTOREN | |
Andreas Fanizadeh | |
## TAGS | |
Buchpreis | |
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024 | |
EU-Flüchtlingspolitik | |
Bundespräsident | |
Buchpreis | |
Flüchtlingspolitik | |
Literatur | |
Buchpreis | |
Roman | |
Literatur | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Bundespräsident lädt zur Debatte ein: Auf Handel folgen politische Allianzen | |
Zusammenstoß auf dem diskursiven Nebengleis: Bundespräsident Steinmeier | |
debattierte mit Intellektuellen über die „Krise des Westens“. | |
Leipziger Buchpreise 2016: Geschichten des Lebens | |
Guntram Vesper, Jürgen Goldstein und Brigitte Döbert werden in Leipzig in | |
den Kategorien Belletristik, Sachbuch und Übersetzung geehrt. | |
Kommentar Ehrung Historiker Winkler: Demagogie und Wortverdreherei | |
Heinrich August Winkler kritisiert einmal mehr Angela Merkels | |
Flüchtlingspolitik. Und das in einer Rhetorik im Stil der neuen Rechten. | |
Autor Heinz Strunk über das Schreiben: „Reine Apokalypse wäre zu viel“ | |
Heinz Strunk hat sich in den Hamburger Frauenmörder Honka hineinversetzt. | |
Auf der Leipziger Buchmesse gehört er zu den Favoriten für den | |
Literaturpreis. | |
Philosophische Lyrik: Laserlichter im Schwarz der Nacht | |
Mit ihrem neuen Gedichtband ist Marion Poschmann für den Leipziger | |
Buchpreis nominiert. Er sperrt sich gegen den raschen Konsum. | |
Neue Romane des Frühjahrs: Ungemütliche Selbstbeschreibungen | |
„Nach Köln“ schaut man mit einem anderen Blick auf die Literatur – z. B. | |
auf Juli Zehs Figurenpanorama oder auf das neue Werk von Heinz Strunk. | |
Shortlist des Leipziger Buchmessepreises: Heinz Strunk unter den Nominierten | |
Eine überraschende Auswahl präsentierte die Jury im Bereich Belletristik. | |
Die nominierten Sachbücher handeln vom Klima, von Restaurants und Pferden. |