| # taz.de -- Rainald Goetz am Schauspielhaus Hamburg: Ein Königsdrama als Hansw… | |
| > Das „Reich des Todes“ von Rainald Goetz wurde in Hamburg inszeniert. | |
| > Viele wuseln darin herum, wie Bush und Cheney, Rice und Rumsfeld. | |
| Bild: Den einen oder anderen Höllenritt hat der Autor Rainald Goetz eingebaut … | |
| Ein Stück über den 11. September, heute, jetzt, in diesen doch sehr | |
| anderen, sehr anders besonderen Zeiten, ein Stück über George W. Bush und | |
| seine Korona, über Folter, die gerechtfertigt wird, und einen | |
| herbeigelogenen Krieg, ein Stück, das politische Theorie an diesem anders | |
| verbrecherischen US-Regime exemplifiziert: Die Eule der Minerva, muss man | |
| sagen, fliegt spät. Und sie fliegt lang, vier Stunden in dieser | |
| Inszenierung „Reich des Todes“ [1][von Karin Beier], die den bislang | |
| [2][unveröffentlichten Text von Rainald Goetz] auf der Bühne des Deutschen | |
| Schauspielhauses in Hamburg keineswegs vollständig präsentiert. | |
| Es ist wahr, dass sie am Ende nach vielen Umwegen in der Gegenwart ankommt. | |
| Es ist wahr, dass sie die Vergangenheit und ihre Wirklichkeit in viele | |
| Richtungen überschreibt und so das dokumentarische Zeitstück zum | |
| analytischen Thesendrama deformiert, mit dem einen oder anderen Höllenritt | |
| und reichlich theologischem Bezug. Und doch: Ein der Gegenwart entrücktes | |
| Historien- und Königsdrama als Auftakt zum Alterswerk des bislang so ganz | |
| der Gegenwart verfallenen Dichters Rainald Goetz – ein mindestens | |
| gewöhnungsbedürftiger Anblick. | |
| „Reich des Todes“ ist ein Königsdrama, insofern es sich stark auf Bush und | |
| Cheney und Rice und Rumsfeld und den Anschlag, den Krieg, auf Abu Ghraib, | |
| auf langwierige Schilderungen von Beweggründen, Motivlagen und allerlei | |
| Rechtfertigungsreden konzentriert. Zu tragödienwürdigen Heroen, vielmehr | |
| Schurken, stilisiert Goetz sie dabei keineswegs. Am Ende wird ausdrücklich | |
| über die Abwesenheit des Bösen philosophiert. Noch der Teufel hat seine vor | |
| sich selbst gerechtfertigten guten Motive. | |
| Die Regisseurin Karin Beier pointiert das Ganze eher in Richtung | |
| Hanswurstiade, etwa mit dem Auftritt zweier Clowns zu Beginn der zweiten | |
| Hälfte des Abends. Sie stülpt dem Text damit aber nicht etwas ihm Fremdes | |
| über, auch Goetz hat dem Präsidenten bereits schlechte Wortspiele wie den | |
| von Morgenlage und Morgenlatte in den Mund gelegt. | |
| ## Seltsame Namen | |
| Die historischen Figuren sind ohne Weiteres als solche erkennbar, aber sie | |
| sind trotzdem nicht einfach sie selbst. Sie tragen seltsame Namen, die in | |
| unterschiedlichste Richtungen deuten: Bush heißt hier Grotten (Wolfgang | |
| Pregler) und betet recht viel, Cheney heißt, nicht weniger sprechend, Selch | |
| (Sebastian Blomberg) wie das Fleisch und ähnelt dem Machinator der Macht, | |
| den man kennt, Rumsfeld heißt Roon (Burghart Klaußner) wie der preußische | |
| Kriegsminister, Condoleezza Rice ist Frau von Ade (Sandra Gerling), | |
| dazwischen funkt und doziert ein Oberjustizrat Kelsen (Markus John) wie der | |
| Jurist der zwanziger Jahre gegen die politische Theorie von Carl Schmitt. | |
| Und das ist nur eine Auswahl. Es wuselt ein ganzer Machtapparat, die Bühne | |
| ist entsprechend meistens recht voll, wenngleich sie groß ist und das | |
| Personal sich coronagerecht auf der Fläche verteilt: Wer nicht spricht, | |
| sitzt, liegt, turnt oder munkelt im Halbdunkel herum. | |
| Nicht nur viele Figuren sind auf der Bühne, sondern erst recht kommt aus | |
| ihren Mündern viel Text. Es ist Goetz-Text, durch und durch goetzisierter | |
| Text, sprachlich nicht individualisiert, für die Schauspieler*innen eine | |
| Herausforderung, da sie nicht Darsteller von Figuren sind, sondern | |
| Performer von Text. Auch was Dialog scheint, tut nur so, es ist eher der | |
| lyrische Modus von Goetz, der rhythmisierte Sprachbruchstücke recht | |
| beliebig auf Sprecherinnen und Sprecher verteilt. | |
| ## Manierismen des Autors | |
| Alle reden hier mit den Manierismen des Autors, mit Theoriebegriffen | |
| durchsetzt, aller Rede ist von Mündlichkeit weit entfernt, oszilliert | |
| zwischen Selbstaussprache und Selbstanalyse. So verschwimmt, wie [3][schon | |
| zuletzt im Roman „Johann Holtrop“,] der Unterschied zwischen Goetz-Speak | |
| und Figurenrede, zwischen Aussage und Deutung. Die Figuren sagen, was Goetz | |
| weiß, ohne dass ihnen selbst das Mindeste dämmert. | |
| Zu unterscheidbaren Individuen werden die Figuren, anders wissen sich | |
| Regie, Kostüm und Darsteller*innen nicht zu helfen, vor allem in der | |
| Übertreibung bis hin zur Karikatur. Das passt einerseits zum Königsdrama | |
| als Hanswurstiade, führt aber dazu, dass sehr ernste und auch als sehr | |
| ernst verstandene Dinge der politischen Theorie ohne Fallhöhe verhandelt | |
| werden. | |
| Oder anders: Die Fallhöhe wird nur als krasse Diskrepanz zwischen Dingen | |
| auf Leben und Tod und Politikern ohne jede Gravitas spürbar. Und im Bezug | |
| zu Hades, Teufel und Gott, den Goetz herstellt, wieder und wieder. In der | |
| Inszenierung scheint das jedoch eher als Pathosformel drübergestreut, eine | |
| genuine Dimension der Transzendenz wird, dem Titel zum Trotz, nicht | |
| aufgespannt. | |
| ## Imperativ der Texttreue | |
| Eine höllisch schwere Aufgabe ist ein solches durchgearbeitetes Lesedrama, | |
| das ganz fraglos alles andere als ein dramaturgisch funktionierendes Stück | |
| ist, für die Regie. Man muss das von Jelinekschen Textflächen noch einmal | |
| unterscheiden. Mit denen verfährt die Regie im Zugriff gern rabiat, und das | |
| ist meist auch okay. Die Uraufführung des ersten Goetz-Stücks seit zwanzig, | |
| des ersten neuen Goetz-Texts seit sieben Jahren spürt den Imperativ der | |
| Texttreue heftig atmend im Nacken. | |
| Die regieführende Intendantin Karin Beier hat das offenbar kaum irritiert, | |
| sie ist ja immer eher eklektizistische Handwerkerin als Regisseurin mit | |
| eigener Handschrift. So baut sie eine gekonnte Szene nach der anderen, | |
| nimmt den Text, den vielen, den endlosen Text und macht mehr oder weniger | |
| ganz reguläres Theater daraus. Was aber auch heißt, dass sie ihn ohne | |
| stringentes Konzept normalisiert, im Endeffekt: durch Interessanzproduktion | |
| fadisiert. | |
| Die Bühne lässt ihr viel Spielraum: Sie ist mit schwarzen Wänden umbaut, | |
| weit oben eine Decke in weißen Kassetten. Es stehen Tische herum, am Anfang | |
| rumst 9/11 mit Nebel und Licht, eine weiße Fahne weht rechts. | |
| Links hinten spielt die Musik, ein Quintett mit Schlagzeug, Zupf- und | |
| Streichinstrumenten. Die längste Zeit bleibt sie auf subtile Weise eher | |
| unauffällig, zum furiosen Finale kommt das Quintett mit den | |
| Darsteller*innen zu einem ziemlich grandios rhythmisierten | |
| Sprech-Chor-Musical an die Rampe. An die hintere Wand und an ein Segel wird | |
| Bildmaterial projiziert, von marschierenden Nazis bis Hieronymus Bosch. Es | |
| gibt eine Szene, in der tragen die Schauspieler*innen riesige | |
| Pappmachéköpfe. | |
| ## Der Richter auf dem Laufband | |
| In der zweiten Hälfte biegt das Stück in die Gegenwart ein, wenn auch | |
| scharf kontrafaktisch, imaginiert einen Camp-Justice-Prozess im Jahr 2020, | |
| der über Bush und seine Kriegsverbrecherbande urteilen soll. Den langen, | |
| sehr langen Richtermonolog lässt die Regisseurin den zusehends nach Luft | |
| schnappenden Richter (wieder Markus John) auf einem Laufband sprechen. | |
| Das funktioniert, wie so vieles hier, als Theater sehr gut; die Frage aber, | |
| warum nun diese Inszenierungsidee auf eine andere folgt, wird so wenig | |
| beantwortet wie die nach einer grundsätzlichen Haltung zum Stück, zu den in | |
| ihm verhandelten Fragen, zu der wohl nicht nur fürs Theater schwer | |
| verdaulichen sprachlichen Form dieses Texts. Nimmt man die Sache streng, | |
| ist Beier an Goetzens Textmonster gescheitert, handwerklich durchaus | |
| brillant. Ob etwas anderes als Scheitern daran ein Ding des | |
| Theatermöglichen sein kann, ist allerdings sehr die Frage. | |
| 15 Sep 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Ekkehard Knörer | |
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