# taz.de -- Flucht als Computerspiel: Die Challenge namens Integration | |
> Die Regisseurin Lola Arias bringt im Maxim-Gorki-Theater in Berlin mit | |
> minderjährigen Flüchtlingen deren Geschichten auf die Bühne. | |
Bild: Alle da: B. Kanan, M. Saada, M. Allou Diallo, S.Safi, M. Haj Younis, F. B… | |
„Wie heißt du?“, fragt eine Computerstimme jeden der acht Neuankömmlinge, | |
die die Bühne betreten. Acht junge Männer und Frauen landen in Futureland. | |
Sie stehen am Anfang eines makabren Spiels. Wer bleiben will, muss Aufgaben | |
erfüllen und sich von Level zu Level weiterarbeiten. „Alles, was du machst, | |
wird ständig ausgewertet“, sagt die Computerstimme. „Auch, wenn du alles | |
richtig machst, kann es sein, dass du nicht bleiben darfst.“ | |
Mamadou, Ahmad, Fabiya, Mohamed, Bashar, Sagal, May und Sarah sind | |
unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, wie der Fachbegriff heißt. Das | |
Stück „Futureland“, das am 18. Oktober am Maxim-Gorki-Theater in Berlin | |
Premiere feierte, erzählt, welche Geschichten hinter diesem Terminus | |
stecken. | |
Regen prasselt auf den Container, der als Übergangsspielstätte während der | |
Sanierung des großen Hauses auf dem Theatervorplatz steht. Währenddessen | |
entspinnt sich drinnen ein rasantes Spiel zwischen Fiktion und | |
Wirklichkeit, das das Draußen schlagartig vergessen lässt. [1][Die | |
Regisseurin Lola Arias] hat für ihr neues Projekt am Gorki beeindruckende | |
junge Menschen gefunden, die Einblicke in ihre Erfahrungen geben. Ihr Ziel: | |
in Futureland zu bleiben. Doch das ist gar nicht so einfach. „Du hast einen | |
langen Weg vor dir – und der heißt: Integration“, sagt die Computerstimme. | |
[2][Sicheres Bleiberecht haben sie nur, bis sie 18 sind.] Deshalb müssen | |
sie ihr Alter nachweisen, das einige von ihnen gar nicht so genau kennen. | |
Sie erzählen, wie sie vermessen und untersucht wurden. Die 17-jährige Sarah | |
stammt aus Kabul. Im Interview sei entschieden worden, dass sie 16 ist. | |
„Dabei war ich eigentlich erst 15.“ | |
## Der Asylprozess als Spiel | |
Alle Erwachsenen – Lehrer*innen, Betreuer*innen, Interviewer*innen – | |
erscheinen als animierte Avatare, die Anweisungen und Aufgaben geben. | |
Futureland ist eine animierte Welt in 3D (Animationen: Luis August Krawen) | |
mit kalten hohen Häuserschluchten, zwischen denen sich ab und zu ein paar | |
Bäume im Wind bewegen. Es klingt makaber, den Asylprozess der Jugendlichen | |
als Computerspiel darzustellen. Viel unheimlicher aber ist, dass die | |
Parallele so gut funktioniert. | |
Das Aufnahmeland als kalte Welt, in dem die Menschen in ihren Funktionen | |
nicht unbedingt unfreundlich und bedrohlich, aber roboterhaft und unnahbar | |
erscheinen. Der Asylprozess ist ein immer gleiches Spiel mit bestimmten | |
Regeln. Ein zentrales Ereignis in diesem Prozess ist das Interview, das | |
alle über sich ergehen lassen müssen – und das so viel entscheidet. | |
Die Jugendlichen berichten von ihrer Angst, etwas Falsches zu sagen – und | |
der Sorge, dass ihnen nicht geglaubt wird. Der 17-jährige Ahmad spielt sein | |
eigenes Interview nach. Er erzählt, wie er als Zwölfjähriger mit einer | |
Gruppe von Jungs aus Afghanistan in den Iran floh. Einen Monat waren sie zu | |
Fuß unterwegs, hatten zu wenig zu essen und keine Kleidung gegen die Kälte. | |
In Isfahan fanden sie Arbeit, aber wurden häufig von Polizisten geschlagen. | |
Sein Weg führte ihn schließlich zu Fuß in die Türkei und mit dem Boot nach | |
Griechenland. Eines der Boote sank, erzählt er. | |
## Möglichst klein und jung wirken | |
Die acht Jugendlichen haben Krieg erlebt, Tod, Armut, Leid. Die 14-jährige | |
Fabiya kommt aus Bangladesch und hat ihre Eltern auf dem Weg verloren. Die | |
17-jährige May aus Syrien sollte zwangsverheiratet werden. | |
Sie haben Schreckliches erfahren und bleiben Jugendliche mit Wünschen, | |
Hobbys und Flausen im Kopf. In Futureland angekommen, müssen sie möglichst | |
klein und jung wirken, um bleiben zu dürfen. „Die Reise hat dich altern | |
lassen. Aber du darfst nicht altern. Du musst ein Kind bleiben“, heißt im | |
Stück. | |
Die acht Jugendlichen interviewen einander, singen, tanzen und spielen vor | |
200 Leuten in einer Sprache, die nicht ihre Muttersprache ist. Ihre | |
Auftritte werden mit einem Jubel quittiert, der nichts mit einem etwaigen | |
Jugend-Bonus, sondern mit Talent und Überzeugungskraft zu tun hat. | |
Die bestechende Idee, das Stück im Setting eines Computerspiels zu | |
platzieren, ist während der Proben entstanden. In den Pausen der Proben | |
hätten die Jugendlichen ein Spiel gespielt, bei dem 100 Leute auf einer | |
Insel landen und nur einer überlebt. „Die Überlebenden spielten ein | |
Überlebens-Spiel“, sagt Lola Alias im Programm. | |
In ihren Projekten spielt die Autorin, Theater- und Filmregisseurin und | |
Performerin mit Überlappungen zwischen Realität und Fiktion. Die realen | |
Geschichten der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge hat sie jetzt zu | |
einem rasanten, witzigen und bewegenden Stück verwoben, das einen | |
angesichts der Präsentation der Jugendlichen voller Rührung und Bewunderung | |
zurücklässt. | |
21 Oct 2019 | |
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## AUTOREN | |
Inga Dreyer | |
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