| # taz.de -- Theater im Heimathafen Neukölln: Von Boateng bis zu Amüsemang | |
| > Das Theaterkollektiv „Heimathafen Neukölln“ macht in Berlin Volkstheater. | |
| > Seine Stücke sind so bunt wie der Bezirk selbst. | |
| Bild: Lichtspiele im Hof des Heimathafens Neukölln | |
| Der Saalbau in Neukölln-Rixdorf ist einer der schönsten Theatersäle | |
| Berlins. Hier ist das Zuhause des Heimathafens, des selbsternannten | |
| Volkstheaters, das mit seinem von Kiezkolorit geprägten Programm eine | |
| Alternative zu den etablierten Häusern in Berlin anbietet. | |
| Helle Scheinwerfer, Leuchtreklamen, Rücklichter, Hupen, Lachen, ein | |
| Geruchsgemisch aus Autoabgasen, Friteuse und Dönerfleisch. Die | |
| Karl-Marx-Straße ist ein überforderndes Fest für die Sinne. Kein Wunder, | |
| dass so mancher am Eingang zum Heimathafen Neukölln vorbeispaziert, | |
| Ablenkungen gibt es hier genug. Zumal sich der Ort seinen potenziellen | |
| Besuchern nicht gerade aufdrängt: Er versteckt sich auf dem Hinterhof eines | |
| unscheinbaren Altbaus mit grau-roter Fassade. | |
| Umso schöner dann der Moment, wenn man den schmalen Durchgang entdeckt und | |
| durchquert hat. Dann steht man nämlich auf einem kleinen Hof, der zum | |
| Verweilen einladen würde, wäre es nicht so bitterlich kalt. Deshalb: | |
| schnell rein in den Saalbau, unter diesem Namen firmiert das Gebäude seit | |
| 1990. Drinnen tummelt sich eine Premierencrowd, die meisten tragen | |
| unscheinbare Kleidung, kaum sichtbare Marken, keine langen schwarzen | |
| Mäntel, eher Funktionsjacken – grundsolide Berliner Mittelschicht. Man will | |
| nicht hervorstechen, nicht den großen Auftritt, man geht halt einfach ins | |
| Theater. So what? | |
| ## Vier Frauen leiten den Heimathafen | |
| Dann geht es rein in den Saal, ein neubarocker Traum für Freunde von | |
| Spielereien und Ornamenten. Der Saal ist vielseitig einsetzbar: Popstars | |
| wie Johannes Oerding standen bereits auf der kleinen Bühne, im April | |
| spielen The Streets hier. Der Spielplan des Heimathafens weist ihn als | |
| Fünf-Sparten-Haus aus: Musik, Theater, Lesung, Kinder, Amüsemang. Die | |
| vierköpfige künstlerische Leitung – alle vier sind Frauen: Stefanie | |
| Aehnelt, Julia von Schacky, Nicole Oder und Inka Löwendorf – versteht unter | |
| Letzterem zum Beispiel den regelmäßigen Poetry-Slam-Abend „Saal Slam“, in | |
| die Sparte „Kinder“ fällt „Siegfried & Joy und ihre Gäste“ – eine l… | |
| Programmtext „magische Ostershow“. | |
| Sucht man nach einer eindeutigen künstlerischen Handschrift und der | |
| gesellschaftlichen Positionierung des Heimathafens, muss man die Sparte | |
| „Theater“ anwählen – und deshalb sind wir ja heute auch hier: um ins | |
| Theater zu gehen. Gespielt wird: „Djihadista“. | |
| Seit dem Einzug in den Saalbau im Jahr 2009 bemüht man sich im Heimathafen | |
| redlich darum, ein Theaterprogramm für den gesamten Kiez zu machen, also | |
| nicht nur für die Studenten im Weser- und Schillerkiez, die hinzuziehenden | |
| Familien, die Geburtsrixdorfer, die vielen Arbeiterfamilien oder die neu | |
| ankommenden Flüchtlinge, sondern für: alle. Weil sie Geschichten für alle | |
| erzählen. Um dies zu erreichen, ist die Gemischtwarenhaftigkeit des | |
| Gesamtprogramms des Heimathafens sicherlich dienlich. | |
| Funktionieren soll dies ungefähr so: Man holt sich junges und nicht mehr | |
| ganz so junges Publikum durch „Amüsemang“ ins Haus und begeistert sie so | |
| auch für mutmaßlich anstrengendere Kost wie die Dokumentartheater-Arbeit | |
| „Die Asyl-Dialoge“. So erreicht man eine höhere Durchmischung der Milieus | |
| als die meisten großen Hauptstadt-Theater, die in der Regel ein sozial | |
| homogenes Publikum ansprechen. | |
| Manchmal klappt das fantastisch, wie zum Beispiel bei „Arabqueen oder das | |
| andere Leben“ (nach einem Text von Güner Yasemin Balcı), das 2010 Premiere | |
| feierte, zu Recht viel gelobt wurde für die nuancierte Darstellung seiner | |
| Protagonistinnen und Protagonisten aus der muslimischen Community und bis | |
| heute regelmäßig gespielt wird, weil es kein kohärentes, sondern ein | |
| vielseitiges Publikum anzieht. | |
| Ähnlich gut funktioniert „Peng! Peng! Boateng!“, das die Geschichte dreier | |
| in Berlin aufgewachsener Brüder erzählt, von denen zwei Fußballprofis und | |
| einer Rapper geworden sind. Allein der Name Boateng garantiert hierbei | |
| natürlich die Aufmerksamkeit von Kids, Jugendlichen und jungen Erwachsenen, | |
| die sich ansonsten aus nachvollziehbaren Gründen (zu elitär, zu bürgerlich, | |
| zu uncool) von Theatern eher fernhalten, vor allem Jérôme und Kevin-Prince | |
| sind aus guten Gründen positive Vorbilder. Und mit seiner Straßen-nahen | |
| Sprache stiftet „Peng! Peng! Boateng!“ tatsächlich Identifikation für jen… | |
| die sich von herkömmlichen Theatersprechweisen ausgegrenzt fühlen, weil sie | |
| nichts mit der eigenen Lebensrealität zu tun haben. | |
| ## Junge Frauen ziehen in den Krieg | |
| Zurück in der Gegenwart. Der Heimathafen ist an diesem Abend im März voll | |
| besetzt, allerdings ziemlich homogen: Mittelschicht, weiß. Was die | |
| Schauspieler/innen Tamer Arslan, Tanya Herartsin und Inka Löwendorf sowie | |
| die Sopranistin Johanna Morsch und der Musiker Özgür Ersoy an diesem Abend | |
| auf die Bühne bringen, könnte allerdings eigentlich ein breiteres Publikum | |
| ansprechen. Es geht, wie bereits der Titel recht eindeutig ankündigt, um | |
| junge Menschen, vor allem junge Frauen, die sich dazu entscheiden, für den | |
| „Islamischen Staat“ zu kämpfen. | |
| Die Inszenierung von Nicole Oder (erneut auf Basis von Texten von Güner | |
| Balcı), die bereits bei „Arabqueen oder das andere Leben“ Regie geführt | |
| hat, greift dabei vor allem auf die Mittel des Dokumentartheaters zurück. | |
| Heißt: spartanisches Bühnenbild, alltagstaugliche Kostüme, im Vordergrund | |
| stehen lange Monologe und Dialoge, die eine in durchaus logischen Schritten | |
| fortschreitende Radikalisierung anschaulich machen, die wenig mit dem | |
| wahnsinnigen Hass zu tun hat, den der Westen gemeinhin in die Kämpfer des | |
| „Islamischen Staats“ hinein projiziert. | |
| Die jungen, in Deutschland lebenden Menschen, die auf der Bühne | |
| größtenteils realistisch, mit kleinen, auflockernden Slapstick-Einschüben, | |
| vor allem von Tamer Arslan, ihre Figuren repräsentieren, sind nicht blind. | |
| Sie sehen die Gesellschaft, in der sie leben, aber nie richtig ankommen | |
| können, und entdecken eine Alternative, die ihnen eine simple Lösung für | |
| ihre Orientierungslosigkeit anbietet, und sie ergreifen sie. Der | |
| moralisierende Zeigefinger bleibt unten, die Inszenierung beschränkt sich | |
| darauf, neutral nachzuzeichnen, wie es dazu kommen kann, dass junge, kluge | |
| Menschen anfangen, den „Westen“ so sehr zu hassen, dass sie von dessen | |
| Vernichtung träumen. | |
| ## Einfühlsam und nüchtern | |
| Wer nach Avantgarde-Theater sucht, der ist hier freilich falsch, | |
| nichtsdestotrotz ist es schön mit anzusehen, mit welcher Ruhe die | |
| Inszenierung auf ihre Klimax hintreibt, ohne dabei je in Stillstand zu | |
| geraten. Die einfühlsame Nüchternheit, mit der das Ensemble von einer | |
| Radikalisierung am Rand der Gesellschaft erzählt, beeindruckt, insbesondere | |
| inmitten einer Gegenwart, die jede Woche aufs Neue hyperventiliert. | |
| Aus diesem Grund kann man nur hoffen, dass dieses Theater es noch lange | |
| schaffen wird, seinen eigenen Stiefel durchzuziehen. Im Heimathafen werden | |
| die Geschichten, die die Gegenwart schreibt, zwar ohne einen gewissen | |
| Bildungsgrad vorauszusetzen, aber deshalb nicht weniger gut erzählt. Wer | |
| hier einmal hingeht, der kommt mit großer Wahrscheinlichkeit wieder. | |
| Begegnungsorte und Selbstspiegelungsorte wie diese braucht nicht nur der | |
| Stadtteil Neukölln, sondern die ganze Stadt Berlin und eigentlich auch das | |
| ganze Land. | |
| 25 Mar 2018 | |
| ## AUTOREN | |
| Sascha Ehlert | |
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