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# taz.de -- Poetry Slam im Libanon: Über Tabus reden
> Rabab Chamseddine ist die erste libanesische Poetin, die an der
> Slam-Weltmeisterschaft teilnimmt. Sie will mit ihren Texten die
> Gesellschaft verändern.
Bild: Im Poetry Slam kann Chamseddine Dinge sagen, über die sich andere nicht …
Beirut taz | Eine Frau mit Kopftuch, die Poetry Slam macht. Wow.
Ungewöhnlich, würden manche vielleicht denken. In der Poetry-Slam-Szene in
Beirut geht es gerade um das Gegenteil. Es spielt keine Rolle, ob jemand
Christ oder Muslimin ist, Libanesin oder Syrer, ob die Eltern reich sind
oder nicht, wen man liebt und wie man politisch denkt.
Ein Jahr ist es her, seit Rabab Chamseddine zum ersten Mal auf einer der
offenen Bühnen in Beirut stand und eines ihrer Gedichte vortrug. Dabei
entdeckte sie nicht nur ihr Bühnentalent. Sie fand ihre persönliche
Mission: Dinge zu sagen, über die sich andere nicht zu sprechen trauen.
Vergangenen Samstag hat Chamseddine den Beirut Poetry Slam gewonnen. Im
Mai nächsten Jahres wird sie als erste Vertreterin des Nahen Ostens,
abgesehen von Israel, an der Weltmeisterschaft in Paris teilnehmen.
„Ich bin überwältigt“, sagt Chamseddine. Nur manchmal fragt sie sich, wie
die Zuschauer in Frankreich auf sie reagieren werden. Eine Frau mit
Kopftuch, die über das Patriarchat slammt, über Wut und über ihre Stadt
Beirut, als wäre sie ihre Geliebte.
Die Poetry-Slam-Szene in Beirut ist jung. Seit ein paar Jahren gibt es
immer mehr Veranstaltungen, offene Bühnen und Workshops. Vor zwei Jahren
fand zum ersten Mal ein nationaler Wettbewerb statt. Doch die Szene hat es
in sich: Denn es geht hier nicht nur darum, wer die schönsten Metaphern
zaubert oder ein Thema besonders gekonnt auf den Punkt nagelt. Die Bühne
der Poeten ist einer der wenigen Orte in diesem Land, an dem junge Leute
über das reden, worüber die Gesellschaft sonst schweigt: Vergewaltigung,
Frauenfeindlichkeit, Religion, Homosexualität.
## Auf der Bühne ist sie wütend
Sie sei eine nette Person, sagt Rabab Chamseddine über sich selbst – wenn
sie nicht auf der Bühne stehe. Dann sei sie umgänglich, freundlich und
suche bei einem Streit den Fehler zuerst bei sich selbst. So, wie sie es
als Mädchen eben gelernt hat. Wenn sie aber auf der Bühne steht, sagt sie,
sei sie wütend. Sie schreie die Leute an, sie wolle schockieren. Auf der
Bühne sei sie das, was ihr als Frau eben nicht beigebracht wurde:
unangepasst. „Erst auf der Bühne“, sagt Chamseddine, „zeige ich mein wah…
Selbst.“
I’ve been in love with this woman, it’s been three years. We’ve never
talked, we’ve never touched, but we both know. We both know if the world
ends tomorrow, we’ll be up by 5:00, running toward each other to meet God.
Jetzt sitzt Chamseddine auf einer Holzbank im hinteren Bereich der
Dachterrasse des Kulturlokals Station. In wenigen Minuten soll hier der
Beirut Poetry Slam beginnen – doch der Start zögert sich, weil der Strom
gerade alle paar Minuten ausfällt. Das Kulturlokal Station befindet sich im
Industriegebiet, umgeben von leeren Fabrikhallen und unfertigen
Hochhäusern. Chamseddine blickt über die unaufgeräumte Silhouette der
Stadt. „Viele sehen in Beirut nur das Chaos, den Müll, die Stromausfälle“,
sagt sie. „Viele junge Leute haben genug davon und wollen die Stadt
verlassen.“
Doch Chamseddine liebt Beirut, seit sie vor drei Jahren aus dem Dorf ihrer
Eltern im Süden Libanons hierhergezogen ist. So sehr, dass das Gedicht, mit
dem sie heute bei dem Slam antritt, von der Stadt handelt. „Für mich ist
Beirut wie eine Frau“, sagt Chamseddine. „Sie muss so viel Geschwätz über
sich ertragen, wegen Dingen, für die sie eigentlich nichts kann. [1][Den
Müll zum Beispiel. Den schmeißen die Bewohner auf die Straße,] dafür kann
die Stadt nichts.“
## Von einer Gang ausgeraubt
Chamseddine ist 21 Jahre alt. Doch wenn sie von sich erzählt, könnte man
sie gerne zehn Jahre älter schätzen. Die Libanesin ist in Elfenbeinküste
geboren und aufgewachsen, ihr Vater hatte dort gearbeitet. Bis eines nachts
ihr Haus von einer Gang ausgeraubt wurde. Chamseddine war neun Jahre alt,
als es geschah, und sie war mit ihrer Mutter alleine zu Hause.
Das Erlebnis sei für beide ein Schock gewesen, sagt Chamseddine. So sehr,
dass die Familie in den Libanon zurückzog. Ihre Mutter litt danach
jahrelang an Depressionen. Und die Tochter musste früh lernen, sich vor
allem auf sich selbst zu verlassen.
Als die Familie in den Libanon zog, fing sie an zu schreiben. Sie schrieb
auf Französisch, die sie als ihre Muttersprache bezeichnet, und sie schrieb
viel darüber, wie sie sich auf merkwürdige Weise anders fühlte: Libanesin
zwar, doch mit Wurzeln in Afrika.
Für das, was Chamseddine heute schreibt, sei vor allem ein Ereignis
entscheidend gewesen: als ihre Freundin Dima starb.
## Eine Leerstelle füllen
Dima war ein Jahr jünger als Chamseddine, doch für Chamseddine war sie ein
Vorbild. „Sie hatte ein perfekt ausbalanciertes Leben“, sagt Chamseddine.
„Sie hatte viele Freunde, eine gute Beziehung zu ihren Eltern und zu Gott.
Und sie war in ihrem Schreiben schon so erfolgreich, dass sie an ihrem
ersten Buch arbeitete. Mit 18!“
Dima brachte Chamseddine darauf, auf Englisch zu dichten, durch Dima
entdeckte sie Schreiber wie Charles Bukowski, dank dem sie wiederum mit der
Wut konfrontiert wurde, die sie im Inneren manchmal spürte, und die doch
nie nach außen drang.
Doch dann starb Dima bei einem Autounfall. Nach ihrem Tod wechselte
Chamseddine ihr Hauptfach im Studium von Psychologie und
Bildungswissenschaften auf englische Literatur. Von nun an schrieb sie nur
noch auf Englisch. „Französisch ist für die Themen, über die ich heute
schreibe, viel zu weich“, sagt Chamseddine. Also versuchte sie eine
Leerstelle zu füllen, die Dima nach ihrem Tod hinterlassen habe.
I’m in love with a woman who’s not your type at all. She leaves each of her
950,000 windows open to let me know she’s got enough room for each of my
broken pieces. I’m in love with a woman and her name is so safe in my mouth
… Beirut.
## Ein Biotop für Subkulturen
Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet in dieser Stadt eine zaghafte
Poetry-Slam-Szene entsteht. [2][Beirut ist schon lange ein Biotop für
diverse kulturelle Subszenen,] die in anderen Städten der Region unter
größerem politischem oder gesellschaftlichem Druck stehen. Für junge
Libanesen wie Chamseddine, die ohne ihre Familie hier leben, ist Beirut ein
Ort der Freiheit im Gegensatz zur Enge der eigenen Gemeinschaft.
In einer Gesellschaft, die noch immer nach der Logik Familie, Dorf und
Religionsgemeinschaft aufgebaut ist, bedeutet dieser Freiraum viel.
Immer mehr junge Erwachsene im Libanon versuchen, sich von diesen starren
Strukturen abzugrenzen. Doch sie tun dies eher in einer stillen
Emanzipation als laut rebellierend. Die Poetry-Slam-Szene ist ein Beispiel
dafür: „Indem wir Texte über kontroverse Themen vortragen, wollen wir
anderen den Mut geben, ebenfalls darüber zu sprechen“, sagt Chamseddine.
Sie hofft durchaus, ihr Land und ihre Gesellschaft dadurch zum Besseren
verändern zu können. Sie weiß aber auch, wie schwierig das ist. Denn die
Politik, die von gegenseitigen Feindbildern zwischen den Religionsgruppen
geprägt ist, und die Korruption, von der so viele junge Libanesen die Nase
voll haben, ließen sich kaum durch die Gedichte der Jungen beeinflussen.
Der Strom ist zurück. Mittlerweile ist es dunkel geworden auf der
Dachterrasse, zwei Lichterketten hängen über den vollen Zuschauerreihen.
Einer nach dem anderen treten die zehn Kandidaten auf die Bühne: Frauen und
Männer, Christen und Muslime, Libanesen und Syrer. Ihre Gedichte sind auf
Arabisch und Englisch. Chamseddine betritt die Bühne. Jeanshemd, Jeanshose,
weißes Kopftuch. Sie hebt die Arme und holt Luft.
Beirut and I, we make love like war. I tell you I’m in love with a woman
who’s not your type at all. Beirut, a fist fight in the middle of a
masquerade.
4 Oct 2018
## LINKS
[1] /Muellproblem-im-Libanon/!5473291
[2] https://www.deutschlandfunkkultur.de/lgbt-szene-im-libanon-feiern-ohne-kues…
## AUTOREN
Meret Michel
## TAGS
Libanon
Beirut
Poetry Slam
Patriarchat
Emanzipation
Flugzeug
Schwerpunkt #metoo
Schwerpunkt Gender und Sexualitäten
Berlin-Neukölln
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