# taz.de -- Sexualisierte Gewalt bei Poetry Slams: „Sei doch nicht so spießi… | |
> Über sexualisierte Gewalt bei Poetry Slams zu sprechen war lange Tabu. | |
> Nun gibt es Organisationen, die dafür eintreten, dass die Szene sicher | |
> wird. | |
Bild: „Natürlich ist die Slam-Szene nicht losgekoppelt von den Machtstruktur… | |
Auch am Telefon merkt man, wie schwer es Carmen Wegge fällt, über das Thema | |
zu reden. Obwohl die 30-Jährige eine bühnenerfahrene Slammerin und | |
erfahrene Politfrau ist. Sie spricht stellvertretend für die | |
„Vertrauensgruppe“ der deutschsprachigen Slam-Szene über sexualisierte | |
Gewalt, und zwar nicht zuletzt als Juristin. Denn Täter*innen sind nicht | |
immer einsichtig, wenn sie zur Rede gestellt werden. Und sie schrecken auch | |
nicht davor zurück, den Gerichtsweg zu beschreiten, wenn sie beschuldigt | |
werden. | |
Die Vertrauensgruppe besteht aus knapp zwanzig Vertreter*innen nahezu | |
jeder Region in Deutschland. Sie haben ein offenes Ohr, wenn sich | |
Slammer*innen bei ihren Auftritten unwohl oder belästigt gefühlt, wenn | |
sie sexualisierte Gewalt erfahren haben. Manchmal hilft es der oder dem | |
Betroffenen, nur darüber zu sprechen. In anderen Fällen konfrontiert die | |
Vertrauensgruppe die Täter*innen. Manche entschuldigen sich. Andere | |
suchen die Konfrontation und haben keinerlei Schuldbewusstsein. | |
Wie in einem Fall in München und zwei Fällen, die derzeit vor dem | |
Landgericht Frankfurt verhandelt werden. Ein Slammer soll 2013 und 2014 | |
zwei Frauen gegenüber gewalttätig geworden sein. Dies machten die Frauen | |
2019 öffentlich. Der mutmaßliche Täter klagte daraufhin in zwei | |
Zivilprozessen auf Unterlassung von Äußerungen. Da die Öffentlichkeit in | |
diesen Verfahren aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes ausgeschlossen | |
worden ist, kann das Gericht zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine weiteren | |
Angaben machen. | |
Auch Carmen Wegge möchte keine Details nennen, da der Täter sie sonst | |
anzeigen könnte. „Wir wollen es vor allem nicht eskalieren lassen, eben | |
weil Opferschutz vor Täterschutz gilt.“ Die genau Anzahl von Übergriffen | |
innerhalb der Poetry-Slam-Szene kann sie nicht beziffern. Die Gruppe | |
bekommt aber viele Anfragen, und sie kennt keine Frau in der Szene, die | |
noch nie einen sexistischen Spruch um die Ohren gehauen bekommen hat. | |
## Keine Konsequenzen | |
[1][„Natürlich ist die Slam-Szene nicht losgekoppelt von den | |
Machtstrukturen in der Welt.“] Auf die Frage, ob es auch Fälle von schwerer | |
sexualisierter Gewalt gab, könne sie nichts sagen, „die Fälle müssen anonym | |
bleiben“. Auf die Frage, ob ein Opfer bereit wäre, darüber zu sprechen, | |
zögert sie. Sie muss erst in der Gruppe nachfragen. | |
Noch am Abend meldet sich eine Slammerin, die anonym bleiben möchte. Die | |
26-Jährige ist lange schon aktiv in der Szene. Kürzlich ist etwas | |
geschehen, das ihre Fähigkeit zu vertrauen schwer beschädigt hat. Ein | |
Slamer hat ihr gegenüber sexualisierte Gewalt ausgeübt. Sie hat ihn | |
angezeigt, obwohl er aus ihrer Slamily stammt, wie sie die Slam-Szene | |
nennt. | |
Sie weiß, dass eine Anzeige nicht die Regel ist, auch sie ist Beraterin in | |
der Vertrauensgruppe. Dort erfährt sie von Übergriffen, die Jahre | |
zurückliegen und erst seit 2017 („Nein heißt Nein“) justiziabel sind: „… | |
übergriffige Verhalten hat also keine strafrechtliche Konsequenz“, sagt sie | |
nicht ohne Bitterkeit. | |
Die Slammerin erlebte die sexualisierte Gewalt ihres Kollegen in diesem | |
Sommer: Wer die Szene kenne, wisse, dass es dort übergriffiges Verhalten | |
gebe. Auch wenn dort wie in der Gesellschaft noch immer das Narrativ vom | |
Fremden vorherrsche, der aus dem Nichts auftaucht. | |
## Weibliche ‚Broculture‘ | |
Wenn sich in den letzten Jahren dennoch Grundsätzliches geändert hat in der | |
Slam-Szene, dann liegt das an der Vertrauensgruppe – und an den „Slam | |
Alphas“. Die sind ein Verein, der 2016 von Poetry Slammer*innen und | |
Slam-Veranstalter*innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz | |
gegründet wurde, um Frauen* und Mädchen* zu unterstützen und mehr Raum in | |
der Szene zu verschaffen. „Wir übernehmen füreinander das, was eine | |
weibliche ‚Broculture‘ sein könnte“, sagt die Vorsitzende Felicia | |
Brembeck. „Durch unsere Vernetzung trauen sich zunehmend mehr Frauen und | |
Mädchen anzusprechen, was ihnen seltsam vorkam, wo sie sich nicht | |
wohlgefühlt haben oder was auch einfach klar grenzüberschreitend war.“ | |
Die Slammerin, die Anzeige erstattet hat, bestätigt, dass die Alphas „die | |
Wachsamkeit erhöht haben“. „Ich habe lange Zeit keine schlechten | |
Erfahrungen gemacht“, sagt sie, „aber rückblickend würde ich einige | |
Situationen anders lösen.“ Vor allem „kleine Sachen“. So würde sie jetzt | |
sensibler auf sexistische Sprüche reagieren. Was laut Carmen Wegge häufig | |
vorkomme, genau wie anzügliche Blicke. Manchmal auch, dass Druck aufgebaut | |
wird. So hat die Betroffene in ihrer Anfangszeit oft zu hören bekommen, | |
warum sie denn in einer festen Partnerschaft leben würde: „Sei doch nicht | |
so spießig!“ | |
Nach dem Übergriff ihres Kollegen wusste sie nicht, was zu tun ist, obwohl | |
sie schon so viele Frauen beraten hat. Wochen hat sie gebraucht, darüber zu | |
sprechen, nicht zuletzt, weil der Täter aus ihrem unmittelbaren Umfeld | |
stammt und sie ihn lange und gut gekannt hat. Sie hat durch sich selbst, | |
durch ihr eigenes Denken erfahren, was Vicitim-Blaming bedeutet, wie Frauen | |
auf der Polizeiwache oder vor Gericht, wenn sie etwa auf einen Minirock | |
angesprochen werden, den sie zur Tatzeit trugen. | |
Irgendwann aber war sie so weit: „Die Übergriffigkeit dieses Jahr, die | |
musste ich zur Anzeige bringen. Das geht so nicht. Diese Straftat hätte ich | |
so nicht ignorieren können und wollen.“ Sie weiß nicht, ob der Täter schon | |
von der Strafanzeige weiß. Da sie das Verfahren nicht gefährden möchte, | |
will sie keine Details nennen. Aber er und auch andere in der Szene sollen | |
wissen, dass ein derartiges Verhalten weitreichende Folgen hat. Es soll | |
zukünftige Täter*innen abschrecken und andere Betroffene ermutigen. | |
## Gegen die Angst | |
Was ihr sehr wichtig ist: Der Übergriff fand nicht in einem beruflichen | |
Kontext, bei einem Slam statt. „Wir waren privat zusammen.“ Sie möchte | |
nicht, dass Menschen Angst bekommen, dass die Slam-Szene ein Ort sei, wo | |
man vergewaltigt wird. Auch und weil sie all die Jahre in der Szene die | |
Erfahrung gemacht hat, [2][dass es ein ganz besonderer Ort ist]. „Gefühlt | |
bist du privat, aber eigentlich beruflich unterwegs.“ | |
Sie ist froh über die Entwicklung, die die Szene gemacht hat. Heute wird | |
kein Alkohol mehr an Sieger*innen verschenkt, auf der Bühne geöffnet und | |
jemand, wenn auch indirekt durch den Gruppenzwang genötigt, diesen zu | |
trinken. Heute sei es selbstverständlich, dass Frauen und Männer in | |
getrennten Zimmern übernachten. Aber ihr ist auch wichtig, dass noch viel | |
zu tun bleibt. Es gehe darum, das Umfeld zu hinterfragen, sensibel zu sein, | |
nicht nur im Extremfall, früh einzuschreiten, auch in einem | |
„Grauzonenmoment“. Und zwar auch, und vor allem, wenn man selbst nicht | |
unmittelbar betroffen sei. | |
Sie hofft, dem Täter durch die Anzeige nicht noch mal auf der Bühne | |
begegnen zu müssen, hofft, dass auch Veranstaltende davon wissen und sie | |
nicht mehr zusammen einladen. Und dass Kolleg*innen nicht darüber sprechen, | |
„was er Witziges erzählt hat“. Eine andere Option wäre gewesen, aus der | |
Szene rauszugehen, aber sie kann sich keinen besseren Arbeitsplatz | |
vorstellen. Nach dem einstündigen Telefonat muss sie noch einen Text | |
schreiben, wie so oft ist die Deadline nah: „Wie immer werde ich es | |
schaffen.“ | |
26 Oct 2019 | |
## LINKS | |
[1] https://www.jetzt.de/gender/metoo-im-poetry-slam-sexualisierte-gewalt-in-de… | |
[2] /Poetry-Slam-im-Libanon/!5537880/ | |
## AUTOREN | |
Leonhard F. Seidl | |
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