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# taz.de -- Theater in der interkulturellen Gesellschaft: Jenseits des Ghetto-M…
> Das deutsche Theater hat erkannt, dass es zu deutsch ist, um ein
> vielfältiges Publikum in den Städten ansprechen zu können. Eine Tour
> durch Berlin.
Bild: Geschichten mit Migrationshintergrund, die Zukunft des Theaters: drei tü…
"Ich könnte mir wieder eine Ausländerin nehmen und mit ihr machen, was ich
will, und meine Launen und meine Zicken an ihrem braven, gefügigen Rückgrat
auslassen. Aber ich habe Hilda ausgewählt und mache große Anstrengungen, um
Hilda reichlich zu bezahlen." Das sagt Madame Lemarchand in "Hilda", einem
bitterbösen Kammerspiel über Macht und Demütigung, das die französische
Autorin Marie NDiaye 2002 geschrieben hat. Hilda, die dem Stück ihren Namen
gab, tritt selbst nie auf, sie bleibt ohne Subjekt, und das ist die
verrückteste Konsequenz, die Marie NDiaye aus dem Verhältnis zwischen der
Arbeitgeberin Madame Lemarchand und ihrer Haushaltshilfe Hilda zieht: Hilda
wird nicht nur als Arbeitskraft ausgebeutet, sondern Madame Lemarchand
okkupiert in ihren Reden über Hilda deren gesamtes Leben, ihren Körper,
ihre Sexualität und ihre Gefühle für ihre Kinder.
Keine Figur in "Hilda" hat einen Migrationshintergrund, und doch ist das
Drama einer der schärfsten Texte, die den postmigrantischen Raum der
Gesellschaft ausloten. Denn das Gefälle von Macht und sozialem Status, das
die Geschichte so hart macht, ist eine Fortführung jener sozialen
Ungerechtigkeiten, die sonst mit der Arbeitsmigration verknüpft wird. In
Berlin wurde "Hilda" in diesem Winter inszeniert von Benjamin Kiss am
Kleinen Theater am Südwestkorso, einem kleinen Boulevardtheater. Kein
relevanter Ort für den Diskurs über das Theater der Gegenwart, und so blieb
das Stück eher unbeachtet.
Diskursrelevant hingegen war lange die Berliner Volksbühne. Dort hatte im
November "Der Kaufmann von Berlin" Premiere, ein Stück von Walter Mehring,
1929 geschrieben: Mehring erzählt eine Geschichte über die Ankunft des
"Ostjuden" Kaftan im Berliner Scheunenviertel und seinen Aufstieg als
Finanzier von jenen Parteien und militärischen Einheiten, die dann über
Rassismus und Antisemitismus an die Macht gelangen. Mehrings Stück liefert
eine höchst aufschlussreiche Geschichte über Assimilation und Ausgrenzung;
allein, sie ist auch historisch sehr kompliziert und ohne viel Vorwissen
kaum zu verstehen. Die Inszenierung von Frank Castorf verbaselt es trotz
solcher wunderbaren Darsteller wie Sophie Rois, Dieter Mann und Volker
Spengler, verständliche Zugänge zum Stoff zu legen. Und verschenkt so die
Chance, den Bau von Feindbildern unter den Einwanderern, wie er jetzt im
Vorwurf der verpassten Integration widerhallt, in der deutschen Geschichte
zurückzuverfolgen.
Warum ich von diesen beiden Inszenierungen erzähle? Weil ihre Texte
eigentlich eine 1-A-Grundlage für eine Ausleuchtung des postmigrantischen
Raums, in dem wir uns alle befinden, ganz gleich, welcher Herkunft,
gebildet hätten. Aber dennoch wurden die Inszenierungen in diesem Kontext
nicht mit wahrnehmbarem Effekt diskutiert. Denn noch wird ohne vorheriges
Labeling in diesem Raum nichts verhandelt. Und das ist ein erneuter Beleg
für die Einseitigkeit der Wahrnehmung, die auf "postmigrantisch" erst
umschaltet, wenn es groß außen dransteht.
Seit das deutsche Theater entdeckt hat, dass es in seinem Kanon, in seinen
Protagonisten, und seinen Formaten zu deutsch ist, um attraktiv,
unterhaltsam und intellektuell herausfordernd für die Vielfalt der
Städtebewohner zu sein, steht die Bemühung um eine größere Heterogenität
der erzählenden Stimmen und erzählten Geschichten im Raum. Die Frage "Wer
ist Wir?" mit dem Zusatz "Theater in der interkulturellen Gesellschaft" hat
sich die Dramaturgische Gesellschaft für ihre Jahreskonferenz im Februar
vorgenommen. Die Zeitschrift Theater heute widmete bereits ihr
August/Septemberheft 2010 dem Einwanderungsland Deutschland. Die
Januarausgabe 2011 setzt unter dem Titel "Deutsch für Fortgeschrittene" die
Suche nach dem Theater, das im Einwanderungsland alle mitnehmen kann, fort.
Viel zu stemmen
Im Mittelpunkt steht dabei das kleine Theater Ballhaus Naunynstraße in
Kreuzberg, das seit zweieinhalb Spielzeiten von Shermin Langhoff geleitet
wird. Es bildet zurzeit so etwas wie das Zentrum des postmigrantischen
Theaters, das mit einem Stamm von jungen Autoren, Regisseuren und
Schauspielern eigene Stücke entwickelt, die Migrationsgeschichten jenseits
von Ghettogangstern und Zwangsheirat erzählen. Deutschlandweit gesehen, ist
da ganz viel zu stemmen.
In dem Stück "Die Schwäne vom Schlachthof", das Hakan Savas Mican aus
Interviews über die Migration nach Ost- und Westdeutschland in den 70er und
80er Jahren entwickelt hat, gibt es etwa die Geschichte einer Frau, die als
Kommunistin aus der Türkei floh, in der DDR studierte und dann zur
West-Ost-Berlinerin wurde. Oder die Geschichte eines jungen Mädchens aus
Ostdeutschland, die aus Liebe konvertiert ist und dann ein Kopftuch nach
dem anderen anlegt, obwohl ihr Freund sagt, "du gefällst mir auch so", sie
aber in seiner Familie eine neue Heimat sucht. "Das sind Bilder und
Erzählungen", sagt Shermin Langhoff, "die im Ghetto-Mainstream nicht
vorkommen."
Hakan Savas Mican hat auch bei "Schnee" Regie geführt, einem Stück nach dem
Roman von Orhan Pamuk. Pamuk erzählt von einem Winter, in dem ein Dichter
in einem eingeschneiten Dorf in den Bergen in Anatolien in ein verwirrendes
Geflecht von Islamisten, Aufklärern, Schulleitern, Koranschülern und
Exkommunisten gerät. Die Stückfassung verlegt das Drama in eine
pleitegegangene deutsche Kleinstadt. Dort bereitet der Frust über
Perspektivlosigkeit und Armut jenen Boden, auf dem eine radikale Ordnung
und Erlösung versprechende Ideologie, wie der Islamismus, ideal gedeihen
kann. Diese Verschiebung ist mehr als nur eine geografische; sie ist
programmatisch für die Aufklärungsarbeit, die sich das Ballhaus
Naunynstraße vorgenommen hat.
Jens Hillje, lange Jahre Dramaturg an der Berliner Schaubühne, und seit
einiger Zeit freier Dramaturg, hat an der Produktion "Verrücktes Blut" am
Ballhaus mitgearbeitet. "Im letzten halben Jahr ist tatsächlich eine
soziale Debatte ethnifiziert worden", sagt er im Januarheft von Theater
heute: "Die Probleme mit der neuen Unterschicht, die in den letzten 15 bis
20 Jahren entstanden ist, wird aus der Sarrazin-Ecke gerade der
muslimischen Bevölkerung zugeschoben." Das aber kommt in der Inszenierung
von "Verrücktes Blut" noch zu wenig heraus. "Verrücktes Blut" ist ein
rabiates Stück, in dem Gewalt zum pädagogischen Mittel wird, um Aufklärung
im humanistischen Sinne zu predigen: Eine Lehrerin, erstklassig gespielt
von Sesede Terziyan, bringt ihre lautstarken und mit Trotz, Rotz und dicken
Eiern protzenden Schüler erst mit vorgehaltener Pistole dazu, sich mit dem
Dichter Friedrich Schiller, seinen Dramen und der deutschen Sprache zu
beschäftigen.
So genussvoll die Lehrerin den Spieß umdreht, so verwirrend ist die
Konstruktion des Stücks: In den Rollen der Schüler werden einerseits alle
Klischees vom Ghettojugendlichen bestätigt, gegen die die Inszenierung
zugleich mit Aggressivität und ironischen Brüchen anrennt. Am Ende hat man
so viele Motive für den Ausbruch von Gewalt an die Hand bekommen, und so
viele unterschiedliche Haltungen zum Thema erfahren, dass man ziemlich
verunsichert ist: Was war ernst gemeint, was war Karikatur unserer
Vorstellungen?
Die Leute fehlen
Nurkan Erpulat, der Regisseur von "Verrücktes Blut", erhält inzwischen
viele Anfrage von Theatern; seine Inszenierung, die im September als
Koproduktion auf der Ruhrtriennale herauskam, ist für viele
deutschsprachige Theaterfestivals nominiert. Der Erfolg beruht auch darauf,
dass Shermin Langhoff seit mehreren Jahren in kontinuierlicher
Zusammenarbeit mit Autoren, Regisseuren und Schauspielern etwas aufgebaut
hat, was viele Theater jetzt gerne hätten, wofür ihnen aber die Leute
fehlen. Damit ist das kleine Kreuzberger Theater, das ungefähr einmal im
Monat ein neues Stück herausbringt, bisher einzigartig in Deutschland.
Viele Stücke am Ballhaus entstehen aus Interviews, Recherchen,
biografischen Erfahrungen der Mitwirkenden, um eben die vergessenen und oft
weit voneinander abweichenden Geschichten der Migration zu erzählen. Das
ist eine Stärke und gleichzeitig ein Fluch für das junge postmigrantische
Theater; denn es verknüpft die Glaubwürdigkeit ihrer Geschichten mit der
Authentizität der Sprecher. Gerade das aber wollen zum Beispiel viele
Schauspieler ja gerade nicht, sie wollen alle Rollen spielen können. Ihr
Ziel ist es, dass ein Labeling wie "mit Migrationshintergrund" überflüssig
wird; aber solange so viele Klischeebilder die vielfältige Realität
überlagern, ist die Markierung als authentischer Sprecher auch ein
notwendiges Mittel. Mit diesem Paradox, mit der Forderung nach Geschichten
"mit Migrationshintergrund" zugleich darauf reduziert zu werden, muss ein
Haus wie das Ballhaus Naunynstraße leben.
"Inzwischen ist ein Kult entstanden um den authentischen Sprecher, und
jeder spricht authentisch für sein Problem-Minderheiten-Grüppchen",
beschreibt Hillje dieses Paradox und fordert: "Aber es ist wichtig, dass
Migranten von Deutschland erzählen."
Zu diesem Projekt tragen in Berlin-Neukölln auch zwei andere Theater bei:
Die Neuköllner Oper, die unterhaltsames Musiktheater mit Stoffen der
Gegenwart füllt, hat eine deutsch-türkische Hauskomponistin, Sinem Altan,
die schon in der Musik viele Brücken zwischen unterschiedlichen Traditionen
baut. Der Heimathafen Neukölln wiederum ist ein Off-Theater, das sich auf
die Suche nach einem neuen Volkstheater gemacht hat. Es nutzt dabei unter
anderem die Bücher "Arabboy" und "Arabqueen" von Güner Balci.
In "Arabqueen", von Nicole Oder inszeniert, spielen drei junge
Schauspielerinnen mit einer Verve, für die man sich begeistern kann,
sämtliche Frauen- und Männerrollen. Die Geschichte handelt von zwei
Schwestern, deren Lebenshunger durch den Vater gebrochen wird; einem Mann,
der über nichts anderes mehr als über die Autorität seinen Töchtern
gegenüber verfügt. Das Theaterspiel selbst ist, gerade auch in der
Karikatur des elterlichen Systems, zwar einerseits lustvolle Rebellion und
Selbstermächtigung; andererseits gießt die Geschichte Wasser auf die Mühlen
derer, die den Einwanderern das große Versagen vorwerfen. Die Inszenierung
ist viel besser als der Kontext dieser Debatte, auch differenzierter; und
dennoch hat die Aufmerksamkeit, die sie hervorruft, einen komischen
Beigeschmack.
11 Jan 2011
## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
## TAGS
Berlin-Neukölln
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