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# taz.de -- Dokumentartheater über Obdachlosigkeit: Die Angst schläft mit
> Für das Berliner Ensemble hat Karen Breece über Obdachlosigkeit
> recherchiert. Auf die Bühne bringt sie nicht nur Schauspieler, sondern
> auch Betroffene.
Bild: Erzählen vom Leben auf der Straße: René Wallner, Bettina Hoppe, Psy Ch…
Schlafen lässt sich fast überall. In Hauseingängen, an Bushaltestellen und
natürlich auf Straßenbänken. Auf der Bühne des Berliner Ensembles sind
diese Bänke in verschiedenen Modellen und bunten Farben aufgebaut. Die aus
Plastik mit breiten Rillen schonen sogar die Hüfte und den Rücken, sagt
René und demonstriert, wie er sich sein Bett aufbaut: Isomatte, darunter
eine Matte gegen Schmutz, Schlafsack, eine zusammengerollte Decke als
Kopfkissen, fertig. „Morgens verschwindet alles wieder in meiner Tasche.“
Dass er obdachlos ist, soll man ihm nicht ansehen. Würde zu wahren braucht
auf der Straße Talent und Willen, „aber ich bin gut organisiert“.
Der trockene feine Witz, mit dem er erzählt, sticht heraus, und wie er
versucht, den Schein zu wahren, erobert an diesem Abend schnell die
Sympathie des Publikums.
„Auf der Straße sein ist Krieg“, heißt es einmal. Doch vordergründig ist…
organisatorische Schwerstarbeit, diszipliniert zu bleiben, nicht zu
verwahrlosen oder unterzugehen. Davon erzählt der Dokumentartheaterabend,
mit dem das Berliner Ensemble in die Spielzeit gestartet ist. Die Premiere
lag noch vor der „Parallelwelt“, der digitalen Vernetzung zweier
Theaterproduktionen.
Das ist ein kleines politisches Zeichen angesichts der Wohnungsnot und der
drastisch steigenden Mieten in Berlin. Früher lebten hauptsächlich
psychisch Kranke auf der Straße, erfährt man aus dem Programmheft. Heute
bleibt immer mehr Hartz-IV-Empfängern keine andere Wahl.
Aber „Auf der Straße“ ist kein anklagender Abend geworden, auch kein
bitterer. Karen Breece hat sich als Dokumentartheater-Regisseurin einen
Namen gemacht und für das Projekt akribisch recherchiert. Thematisch reißt
sie vieles an: Armut, Obdachlosigkeit, soziale Verelendung und
Ungerechtigkeiten, bei denen einem der Hut hochgehen könnte, wenn man es
darauf anlegt.
## Morgens, mittags, abends
Drei ihrer Gesprächspartner spielen mit auf der Bühne. Neben René noch
Alexandra, die zwar eine Wohnung hat, aber von monatlich 70 Euro ihr Leben
bestreiten muss. Und Psy Chris, der mit 14 aus dem Heim ausriss und zehn
Jahre lang auf der Straße lebte. Mit ihnen stellen die BE-Schauspieler
Bettina Hoppe und Nico Holonics kleine Frage-Antwort-Spiele nach, die sich
an den Tageszeiten orientieren: morgens, mittags, abends, alles
Herausforderungen, wenn man auf der Straße lebt.
Breece versucht ehrenwert, möglichst viel Theater herauszuholen. So hat sie
sich eine karussellrunde Bühne bauen lassen, die wie ein Glücksrad
angeschoben wird. Der Laien-Chor „Different Voices of Berlin“ mischt sich
unter die Spieler, singt davon, nicht wegzuschauen. Und die beiden
Schauspieler fallen immer wieder in Wutausbrüche. Sie haben ja recht, aber
ihre Wut bleibt Behauptung. Der Abend zerfranst in zu viele Einzelszenen.
Stark ist eine Modenschau mit Schlafsäcken, Wärmedecken und Isomatten.
Großstädtischer radikal chic, den die Spieler trotzig wie auf dem Catwalk
zeigen. Im echten Leben würde der Look ganz sicher Aufmerksamkeit erregen.
Aus dem Elend einfach Profit schlagen? Warum nicht, wenn man nichts zu
verlieren hat. Mehr solcher Ideen erfindet der Abend aber nicht. Breece
will die Realität sprechen lassen und fällt immer wieder in
Schauspiel-Fiktion. Künstlichkeit legt sich über die Dringlichkeit des
Themas.
Jeder Dokumentartheaterabend ist am Ende so gut wie seine Protagonisten,
die ein Stück weit durch ihr Leben führen. Mit viel Aufwand, aber
grundehrlich nimmt einen „Auf der Straße“ mit, erzählt suggestiv, wie
schnell es jeden treffen kann. Wie Behörden und Ämter einen bürokratisch
als Bittsteller behandeln, statt einfach ihren Job zu tun. Jeder Gang zur
Tafel gleicht einem emotionalen Spießrutenlauf, erfährt man, mit
Schlangestehen für Schokolade, die im schlimmsten Fall seit zwei Jahren
abgelaufen ist. Fakten, die einem nahegehen und aus denen doch kein
richtiges Stück werden will.
20 Sep 2018
## AUTOREN
Simone Kaempf
## TAGS
Berliner Ensemble
Obdachlosigkeit
Dokumentartheater
Frank Castorf
Lesestück Recherche und Reportage
Schwerpunkt Armut
Reiseland Schweiz
Berlin-Neukölln
München
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