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# taz.de -- Natan Sznaider über Postkolonialismus: „Die Gegensätze aufrecht…
> Im Streit über Postkolonialismus und Antisemitismus plädiert Natan
> Sznaider für Wissenschaft statt blinden Aktivismus.
Bild: Natan Sznaider wurde 1954 in Mannheim geboren und lehrt seit 1994 Soziolo…
taz: Herr Sznaider, die Debatte um Postkolonialität und Antisemitismus ist
in vollem Gange. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis mit dem nächsten
Diskursereignis eine neue Runde heftigen, polarisierten Streitens
eingeläutet wird. Stets wurden dabei verschiedene Debatten gleichzeitig
geführt. Welche sind das?
Natan Sznaider: Da ist zunächst die Debatte, wie die Shoah verstanden
werden soll: als ein einzigartiges Verbrechen, als Verbrechen gegen die
Menschheit, also einzuordnen in die verschiedenen Völkermorde, oder als
etwas Einmaliges. Das ist eine wissenschaftliche Debatte, die dann
politisiert wurde. Da ist zweitens die Debatte, ob es eine besondere
Verantwortung Deutschlands gegenüber den Juden und auch gegenüber Israel
gibt, ob zum Beispiel Israels Sicherheit Teil der deutschen Staatsräson ist
und sein soll und ob das wiederum mit der Shoah zusammenhängt.
Ein weiterer Strang ist die Frage nach dem deutschen Kolonialismus und
seiner Aufarbeitung, seinen kausalen Zusammenhängen und seine Zusammenhänge
mit der Shoah selbst. Auch hier dreht es sich darum, ob man diese Fragen
rein wissenschaftlich oder nur politisch behandeln kann und inwieweit eine
solche klare Trennung sinnvoll ist. [1][Gerade im postkolonialistischen
Denken wird ja nicht zwischen politischem Aktivismus und Wissenschaft
unterschieden]. Dadurch werden die Debatten sehr aufgeladen. Ohnehin sind
in jeder dieser Debatten Wahrheits- oder Ausschließlichkeitsansprüche stark
vertreten.
Ein zentrales Moment der Diskussion scheint mir auch das Verhältnis von
Partikularismus und Universalismus zu sein. Warum tun sich so viele
postkoloniale Denker*innen und Aktivist*innen so schwer damit,
jüdische Partikularität anzuerkennen, etwa in Bezug auf Israel, die
Spezifik des Antisemitismus sowie Spezifik der Shoah?
Fragen nach dem Verhältnis von Minderheit zu Mehrheit, von Weißheit und
Nicht-Weißheit oder zum Thema interne Kolonisation wurden schon vor der
postkolonialen Wende von jüdischen Denkern thematisiert. Am Anfang meines
Buches geht es daher viel um die aus der Dialektik der Assimilation und
Emanzipation der Juden entstandene Wissenssoziologie von Karl Mannheim,
aber auch um Franz Kafka und die Dreyfus-Affäre und natürlich um Hannah
Arendt, die eine ganz besondere Bedeutung in dieser Diskussion hat. Der
postkolonialistische Diskurs könnte insofern viel vom jüdischen Denken
lernen – wenn er wollte. Doch er will sich als etwas Neues geben und
zeigen, dass er neue Wahrheiten besitzt. Ein neues Testament sozusagen. Und
dazu kommen dann die israelische Staatsgründung von 1948 und die damit
zusammengehende Revolution in den jüdischen Lebenswelten. Jüdische Israelis
gelten als „weiß“. Davon will man sich als „weltoffener“ Mensch
distanzieren.
Dennoch gibt es explizite Bezugnahmen auf Formen von Jüdischkeit. Edward
Said etwa sprach von sich einmal als „letztem jüdischen Intellektuellen“ in
der Tradition Theodor W. Adornos. Achille Mbembe versteht sein Engagement
als ein „die Welt reparieren“, womit er sich auf das jüdische Konzept des
Tikkun Olam bezieht.
Said und Mbembe picken sich nur den für sie „machtlosen“ Teil des Judentums
heraus, nämlich den Teil des Exils und des Minderheitsdaseins. Exil wird
als ein epistemologischer Ausgangspunkt betrachtet, von dem man die
Wahrheit sieht und daher keinen Widerspruch duldet. Nur ist eben Exil nicht
nur Epistemologie, sondern auch Politik: In dem Moment, in dem das Exil
beendet ist, man von ihm erlöst wird, wo man politisch gesehen souverän
ist, ist man dann natürlich automatisch im Unrecht. Bekanntlich gibt es ja
viele jüdische Denker und Denkerinnen, für die das authentische jüdische
Denken ein diasporisches ist; ein Denken im Exil, das durch Souveränität
und durch Macht zerstört wird. Der Staat Israel als Antwort auf
Antisemitismus, auf das Scheitern des jüdischen Exils, der jüdischen
Emanzipation und der Assimilation wird dann zum Störfaktor.
Ihr Buch liest sich wie ein Plädoyer für mehr Diskussion. Was fehlt in der
Debatte aus ihrer Sicht?
Ich versuche, von den Erfahrungen der Leute ausgehen, ohne dabei
essenzialistisch in Identitätspolitik zu verfallen. Wenn ich verstehe, dass
ich von meinen eigenen Erfahrungen her argumentiere, dann kann ich
gleichzeitig verstehen, dass das auch bei anderen so ist. Damit meine ich
[2][keine dialogische Erinnerung, sondern dass wir Gegensätze und
Antagonismus bewusst aufrechterhalten]. Ich möchte die Debatte
liberalisieren. Gewaltgeschichten trennen uns. Politischer Diskurs ist
keine Gruppentherapie.
In der Hoffnung, dass das beste Argument dann irgendwie gewinnt?
Nicht mal das muss sein. Niemand gewinnt oder verliert hier. Ein Beispiel:
Wenn jemand, wie es Mbembe tat, behauptet, die israelische Besatzung sei
der größte Skandal unserer Zeit oder Israel ein Apartheitsregime, dann
können einige damit was anfangen, andere sind darüber empört und sehen das
als Skandal. Ich plädiere für mehr Gelassenheit in der Diskussion, obwohl
ich weiß, dass es nicht geht. Durch die zionistische Revolution ist Israel
ein souveräner, starker Staat geworden, der auch mit Meinungen umgehen
kann, die zweifellos skandalös sind.
Manche Verteidiger Israels in Deutschland scheinen uns aber mitunter noch
immer als schwache Juden zu sehen, die genau ihre Verteidigung bräuchten.
Das heißt natürlich nicht, dass man skandalöse Aussagen zu Israel einfach
so stehen lassen soll, im Gegenteil. Aber gleichzeitig sollten auch die,
die so etwas sagen, am Ende nicht immer so tun, als ob man sie nicht reden
lässt. Ich sehe da keinen McCarthyismus am Werk. Dass durch den
BDS-Bundestagsbeschluss die Leute nichts mehr sagen können, stimmt einfach
nicht. Sie hören ja nicht auf zu reden, gerade auch deswegen. Allerdings
müssen sie dann auch Widerspruch in Kauf nehmen. [3][Und das ist ja gerade
das Problem mit so vielen Postkolonialisten: sie dulden keinen
Widerspruch.]
In ihrem Buch beziehen Sie sich auf eine Reihe von Intellektuellen, die
über Kolonialismus, Postkolonialität, über Antisemitismus und Israel
nachgedacht haben, so etwa Claude Lanzmann, Frantz Fanon, Jean Améry oder
Edward Said. Intensiv diskutieren Sie auch die Schriften und Biografie von
Albert Memmi (1920–2020), ein Denker, der in Deutschland weitgehend
unbekannt ist. Was macht ihn besonders?
Im antikolonialistischen Kanon ist er ein Klassiker wie Frantz Fanon und
Aime Césaire. Wie Arendt ging es ihm um jüdisches kulturelles
Selbstbewusstsein, was er Judéité nannte. Im zeitgenössischen
postkolonialistischen Diskurs ist Albert Memmi verschwunden – wohl weil
seine Biografie und seine Positionen in der von Dichotomien geprägten
Diskussion schlicht zu kompliziert sind. Memmi war auch Zionist,
gleichzeitig arabischer Jude und Franzose. Und er war nicht weiß. Das ist
einfach zu kompliziert.
Können Sie Memmis Komplexität genauer erläutern?
Albert Memmi hat versucht zu zeigen, ob es möglich ist, Araber, Jude und
Franzose gleichzeitig zu sein. Er ging 1956 aus Tunesien nach Frankreich,
sah in der Gründung Israels eine Notwendigkeit und hat es zeit seines
Lebens verteidigt als einen antikolonialistischen Staat für die Juden, auch
wenn er selbst nicht nach Israel wollte. Memmi war zudem – ähnlich wie
Fanon und Lanzmann, Arendt und andere – enttäuscht vom französischen
Universalismus, hat aber dennoch französisch geschrieben und gedacht. Dazu
kommt noch seine Abrechnung mit den unabhängigen postkolonialen Staaten wie
Marokko, Algerien und Tunesien. Für sie hatte er überhaupt keine Sympathien
mehr wegen der diesen Staaten und Gesellschaften inhärenten reaktionären
Strukturen, die sich für ihn nicht mit einem Verweis auf französischen
Kolonialismus entschuldigen lassen. Memmi ist schwer einzuordnen. Das hielt
ich für gewinnbringend und wollte auch über ihn meine eigene Position in
der Debatte verstehen.
Die Debatte in Deutschland wird sehr erbittert geführt. Am Ende unseres
Gesprächs hier in Tel Aviv habe ich den Eindruck, dass Sie sich der Sache
sehr gelassen annehmen.
Ich glaube, dass ich mir den Luxus der Gelassenheit in diesen Debatten
erlauben kann. Es gibt hier in Israel existenzielle Probleme wie die
Bedrohung durch den Iran und wie man mit der Besatzung umgehen soll. Ich
nehme die Debatten, wie auch die aktuelle um die Documenta aber natürlich
ernst – und betrachte mit Sorge, wie Teile der sich weltoffen verstehenden
deutschen Kulturelite ein doch sehr geschlossenes Weltbild haben.
1 Feb 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Till Schmidt
## TAGS
Antisemitismus
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